Flüchtlingsboot vor Lesbos
Reuters/Costas Baltas
Zurückgedrängte Geflüchtete

Athen mit neuer Rechtfertigung

Immer wieder wird Griechenland das Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten auf hoher See vorgeworfen. Diese Pushbacks können zu lebensgefährlichen Situationen führen. Athen steht seit Monaten in der Kritik, bestreitet aber illegale Methoden. Nun rechtfertigte der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis am Donnerstag im Ö1-Morgenjournal die Pushbacks als „notwendig“.

Der Migrationsminister sagte, dass das Abfangen von Booten von der EU-Grenzschutzagentur Frontex – die in diesem Zusammenhang selbst in der Kritik steht – als legal betrachtet werde. Mitarakis sagte zudem, dass die Boote aus der Türkei und damit einem sicheren Drittland kämen. „Wir können illegale Migration nicht tolerieren. Wir wollen keine Opfer von Schmugglern werden, die Geld damit machen, indem sie illegale Migranten auf Schlauchboote setzen und so Menschenleben riskieren", begründete der Migrationsminister das Vorgehen Griechenlands.

„Gewisse Dinge kann man machen, gewisse nicht. Aber es kann nicht sein, dass Boote bei uns anlegen und sagen: Hallo, wir kommen.“ Zudem verletze die Türkei regelmäßig das 2016 mit der EU geschlossene Flüchtlingsabkommen, kritisierte Mitarakis. Dieses sieht unter anderem vor, dass Ankara illegale Überfahrten Richtung Europa verhindert, Brüssel unterstützt die Türkei dafür finanziell.

Weil die Türkei ihren Verpflichtungen nicht nachkomme, sei Griechenland gezwungen, die illegalen Überfahrten zu stoppen. „Entscheidend ist, ein hohes Grenzschutzniveau zu sichern. Wir können nach Europa keine illegale Massenmigration erlauben, so wie man das jetzt in Italien oder Spanien derzeit sieht“, so der Minister mit Verweis auf die Ereignis in Ceuta oder Lampedusa der letzten Tage. Die Türkei hatte zuletzt im Februar des Vorjahres die Grenzen für geöffnet erklärt, woraufhin die griechischen Exekutivbehörden die Menschen teils mit Tränengas zurückdrängen wollten.

„Pushbacks sind und bleiben illegal, daran ändert sich auch nichts, indem man versucht, diese zu rechtfertigen“, sagte die Außenpolitik- und Menschenrechtssprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, in Reaktion auf Mitarakis’ Aussagen. Die Zurückweisungen als „notwendig“ zu bezeichnen sei ein „rechtsstaatlich gefährlicher Schritt“. Diesem Versuch der Legitimierung eines Rechtsbruchs gilt es eine klare Absage zu erteilen, so Ernst-Dziedzic.

Vorwürfe von mehreren Seiten

Die Vorwürfe zahlreicher illegaler Pushbacks gibt es seit Langem und mittlerweile von mehreren Seiten, darunter humanitäre Organisationen, der Europarat und das UNHCR. Auch der deutsche „Spiegel“ berichtete nach einer investigativen Recherche, die griechische Küstenwache stoppe Flüchtlingsboote in der Ägäis, zerstöre deren Motor und ziehe die Boote dann wieder zurück in türkische Gewässer.

Ende April reichte deswegen die NGO Legal Centre Lesvos Klage gegen Griechenland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Darin wird Athen Gewalt bei ausgeklügelten Operationen gegen Flüchtlinge vorgeworfen, um deren Ankunft in Griechenland zu verhindern. Das sei Teil einer – nach internationalem Recht – illegalen Pushback-Strategie, berichtete der britische „Guardian“.

Flüchtlingsboot vor Lesbos
Reuters/Alkis Konstantinidis
Gefährliche Überfahrten auf Flüchtlingsbooten sind weiterhin ein Problem

Im Fokus der Klage steht ein Vorfall vom Oktober vergangenen Jahres. Ein Fischerboot mit etwa 200 Menschen an Bord, etwa ein Fünftel davon Kinder, geriet auf dem Weg von der Türkei nach Italien vor der griechischen Insel Kreta in Seenot. Laut den Vorwürfen der NGO sollen nach dem Notruf griechische Schiffe das Fischerboot mit seinen Passagieren mehrere Stunden lang festgehalten haben, bis Schnellboote mit maskierten Kommandos eintrafen. Einige Passagiere und Passagierinnen sollen auch geschlagen worden sein.

Dem Bericht zufolge wurden die Menschen in türkische Gewässer geschleppt und auf dem Meer ausgesetzt oder auf kleine Rettungsinseln gezwungen – ohne Nahrung, Wasser und Schwimmwesten. Die türkische Küstenwache fand die Menschen erst nach über 24 Stunden, so der Bericht. In der Klage wirft die NGO Griechenland vor, dass die Pushbacks seit März 2020 Teil der Strategie der griechischen Küstenwache geworden seien.

Verstoß gegen mehrere Grundsätze

Pushbacks sind gemäß den meisten Rechtsmeinungen illegal. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie EU-Recht verpflichten die Mitgliedsländer, Menschen das Recht auf ein Asylverfahren zu garantieren und den Grundsatz des „Non-Refoulement“ (Menschen, die vor schweren Menschenrechtsverletzungen fliehen, nicht zurückzuweisen) einzuhalten – selbst wenn sie irregulär einreisen. Grenzbehörden müssen also immer eine individuelle Prüfung des Schutzbedarfs vornehmen, wenn die eingereiste Person um Asyl ansuchen möchte.

Griechenland betonte hingegen wiederholt, in Vereinbarkeit mit nationalem und internationalem Recht zu operieren, und verwies auf den Status der Türkei als sicherer Drittstaat. In mehreren Fällen wurde die Argumentation vorgebracht, viele Boote würden bei Kontakt mit der Küstenwache freiwillig umkehren. Berichte über illegale Pushbacks seien „Teil einer größeren Fake-News-Strategie, die von der Türkei orchestriert wird“, sagte Mitarakis zudem zuletzt zur Zeitung „To Vima“.

Frontex argumentierte weiters im Zusammenhang mit Pushback-Vorwürfen, dass Boote zum Beispiel bei Verdacht auf Menschenhandel dazu angewiesen werden könnten, ihren Kurs zu ändern. Das sei in einer EU-Verordnung zur Überwachung der Seeaußengrenzen durch Frontex-Einsätze von 2014 klar geregelt, so Frontex-Chef Fabrice Leggeri. Ein Mitgliedsstaat dürfe ein Boot festsetzen oder zu einer Kursänderung zwingen, wenn es sich nicht in Seenot befinde.

Fokus auch auf Spanien und Italien

Die EU-Flüchtlings- und Migrationspolitik steht derzeit nicht nur in Griechenland wieder im Fokus, sondern auch in Spanien und Italien. Seit Montag war in der spanischen Exklave Ceuta eine Rekordzahl von 8.000 Menschen angekommen, mindestens ein Mensch ertrank bei dem Versuch. 5.600 Personen wurden inzwischen wieder nach Marokko abgeschoben, unter ihnen auch zahlreiche Minderjährige, was von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wurde.

Marokkanische Sicherheitskräfte hatten die Menschen in Ceuta am Montag passieren lassen und erst am Dienstag den Grenzschutz verstärkt. Spanien warf dem nordafrikanischen Land am Mittwoch „Erpressung“ und Verstöße gegen internationales Recht vor. Die Weigerung der marokkanischen Sicherheitskräfte, die Migranten am Montag vom Grenzübertritt nach Ceuta abzuhalten, komme einem Angriff auf die Grenze Spaniens und der EU gleich.

Auch die italienische Insel Lampedusa verzeichnet wieder verstärkt Ankünfte. Allein am Wochenende trafen in kurzer Zeit über 2.000 Männer, Frauen und Kinder in Booten ein, was die Behörden auch angesichts von Pandemie und Quarantäneregeln vor Herausforderungen stellte. Jedenfalls wird wohl die Debatte über die Verteilung in der EU wieder Fahrt aufnehmen. Rom will das bei anstehenden EU-Treffen vorbringen. „Niemand soll in italienischen Gewässern alleingelassen werden“, sagte Ministerpräsident Mario Draghi am Mittwoch im Parlament in Rom.

EU verhandelt mit Libyen und Tunesien

Vor diesem Hintergrund will die EU mit Tunesien ein Abkommen vereinbaren, das wirtschaftliche Hilfen im Gegenzug für härtere Grenzkontrollen verspricht. Mit Libyen werde über ein ähnliches Abkommen verhandelt, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson der italienischen Zeitung „La Repubblica“. Rom hatte die EU wegen der vielen Ankünfte von Menschen, die sich vor allem aus Tunesien und Libyen auf den Weg nach Italien machen, um Hilfe gebeten.

Johansson will zusammen mit Italiens Innenministerin Luciana Lamorgese nach Tunesien reisen. Johansson stellte „europäische Gelder für die Wirtschaft, Investitionen und Arbeitsplätze“ in Aussicht. Die tunesischen Behörden sollen sich im Gegenzug um eine bessere Kontrolle ihrer Grenzen kümmern und geflüchtete Staatsbürger wieder zurücknehmen. Eine Einigung solle bis Ende des Jahres erzielt werden.