Eine junge afroamerikanische Demonstrantin
Reuters/Jeenah Moon
Gaza und Midterms

Drift in der US-Innenpolitik

Nach den Wahlen ist vor den Wahlen – das gilt besonders in den USA, wo sich aufgrund der Midterms alle zwei Jahre die Mehrheitsverhältnisse im Kongress ändern können. Wie viel innenpolitisch derzeit in Bewegung ist, zeigten die Reaktionen in den USA auf die jüngste Gewalteskalation zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas. Sie sind bereits ein Vorgeschmack auf die Midterm-Wahlen kommendes Jahr, die wegen der knappen demokratischen Mehrheiten im Kongress besonders spannend werden.

Es ist eine langsame Entwicklung, die sich bereits über mehrere Jahre abzeichnet, aber bei den jüngsten Kämpfen zwischen Hamas und Israel in den USA richtig greifbar wurde: Eine der wichtigsten Säulen der US-Außenpolitik, die parteiübergreifende klare und eindeutige, oftmals einseitige, Unterstützung Israels wurde und wird offen infrage gestellt – und das nicht nur bei Demos von Gruppierungen am politischen Rand, sondern von wichtigen Vertretern des demokratischen Establishments.

Massenproteste in Solidarität mit den Palästinensern, gerade wenn es eine blutige Eskalation im Nahost-Konflikt gibt, sind auch in den USA nichts Neues. Ungewöhnlich ist aber, dass diesmal propalästinensische Organisationen so breite Unterstützung finden – von Umweltschutzorganisationen bis hin zu einflussreichen demokratischen Abgeordneten.

US-Präsident Joe Biden und die Abgeordnete Rashida Tlaib
AP/Evan Vucci
Rashida Tlaib, eine Vertreterin der „Squad“, forderte von Präsident Biden, mehr Druck auf Israel auszuüben.

Nicht nur die „Squad“ – die mittlerweile sechs Abgeordneten im Repräsentantenhaus, unter ihnen Alexandria Ocasio-Cortez und Rashida Tlaib, die den linken Flügel der Demokratischen Partei bilden –, sondern auch Zentrumsvertreter, wie der einflussreiche Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, Gregory Meeks, äußerten Kritik bzw. Bedenken an Israels Vorgehen und der ihrer Meinung nach einseitigen US-Unterstützung für Israel im Konflikt. Meeks überlegte kurzfristig sogar, eine mehr als 700 Mio. Dollar schwere Waffenlieferung an Israel zu verzögern.

In dieser Aufweichung der bisher verlässlich proisraelischen Haltung – selbst wenn das nur für die Demokraten gilt, ist es dennoch mehr als bemerkenswert – laufen mehrere unterschiedliche Entwicklungen zusammen.

Innerjüdische Gegenbewegung

Zunächst gibt es seit Jahren innerhalb der jüdischen US-Wählerschaft einen Teil, der den politischen Weg des rechtskonservativen Langzeitregierungschefs Benjamin Netanjahu ablehnt. Dieser verfolgt eine Politik des Tatsachenschaffens, insbesondere durch den Ausbau der Siedlungen und entsprechender Straßenverbindungen, die die palästinensischen Siedlungesgebiete im Westjordanland in einen Fleckerlteppich zergliedert.

Verhandlungen über eine politische Lösung entzog sich Netanjahu stets mit dem Verweis auf die Gespaltenheit der Palästinenser und darauf, dass es „keinen Partner“ gebe. Es ist vor allem die jüngere Generation politisch liberal gestimmter jüdischer Wählerinnen und Wähler, die sich seit mehr als zehn Jahren als „J Street“ gegenüber der mächtigen konservativen Israel-Lobbyorganisation AIPAC (American Israel Public Affairs Committee) positioniert hat. J Street setzt auf eine diplomatische Lösung und auf Verhandlungen anstelle militärischer Gewalt.

Der 34-jährige demokratische Senator von Georgia, Jon Ossoff, selbst Jude, scharte 27 andere Senatorinnen und Senatoren – immerhin mehr als die Hälfte seiner Partei – um sich, die während der Kämpfe in einem gemeinsamen Brief beide Seiten zu einer Waffenruhe aufriefen.

Pro-palästinensische Demonstration in Chicago
Reuters/Jbing
Eine propalästinensische Demo in Chicago während der jüngsten Kampfhandlungen

Graswurzelbewegungen als Motor

Vor allem aber sind es die Graswurzelbewegungen, die die Demokraten in den letzten Jahren – vor allem in Gegenbewegung zum Rechtsruck bei den Republikanern unter Donald Trump – ein Stück weit nach links drängten. Ihre Macht liegt vor allem in ihren Mobilisierungsfähigkeiten. So gelang es in New York unlängst der Bewegung Justice Democrats in einer intensiven Wahlkampagne, Jamal Bowman aus der New Yorker Bronx ins Abgeordnetenhaus zu wählen. Bowman schlug dabei Elliot Engel, der das Mandat seit 30 Jahren innehatte.

Völlig anderer Blick

Eng mit diesen Bewegungen verbunden sind zentrale gesellschaftspolitische Fragen, für die sich diese Graswurzelbewegungen im Einzelnen engagieren. Vor allem die „Black Lives Matter“-Bewegung, die gegen den noch immer virulenten Rassismus und die Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern ankämpft, hat hier auch den Blick auf den Nahost-Konflikt neu geschärft.

Viele ziehen nun Parallelen zwischen dem, was Afroamerikanern in den USA und dem was Palästinensern in der Westbank, in Ostjerusalem und im Gazastreifen passiert. In Anlehnung an Südafrika wird die israelische Besatzung von Westbank und Ostjerusalem als Apartheid-Herrschaft verurteilt. An die Colonial Studies andockend wird dabei Israel als Kolonialmacht im 21. Jahrhundert dargestellt.

„Palästinensern wird dasselbe gesagt“

Progressive Abgeordnete im Kongress und Aktivistinnen und Aktivisten vergleichen die Situation der Palästinenser mit dem Kampf für die Gleichstellung von Afroamerikanern: „Palästinensern wird dasselbe gesagt wie den Schwarzen in Amerika: Es gibt keine akzeptable Form von Widerstand“, formulierte es etwa die demokratische Abgeordnete Ayanna Pressley.

Die „Black Lives Matter“-Bewegung organisierte Proteste in den USA und machte Druck auf die Demokraten, ihre traditionell israelfreundliche Position radikal zu ändern. Auch wenn US-Präsident Joe Biden weitgehend die traditionelle Linie beibehielt und Israel etwa im UNO-Sicherheitsrat den Rücken tagelang freihielt – der innenpolitische Diskurs über den Nahost-Konflikt sei in den USA jedenfalls radikal verändert worden, so die „Washington Post“. Für viele Liberale habe er sich „von einer verwirrenden Debatte über uralte, oft kaum nachvollziehbare Ansprüche zu einer über einen viel näher liegenden Bereich – Polizeibrutalität und Rassenkonflikt – gewandelt“.

Ausweitung des eigenen Narrativs

„Black Lives Matter“ und andere Bewegungen suchen aktiv Kontakt zu Gruppen wie den Palästinensern. Das ist einerseits Netzwerken, andererseits aber vor allem der Versuch, auch die US-Außenpolitik mit dem eigenen Narrativ – etwa auch im Verhältnis zum afrikanischen Kontinent – zu verknüpfen und so innenpolitisch zusätzlich an Gewicht zu gewinnen.

Bei den Midterm-Elections – insbesondere den Vorwahlen bei den Demokraten – wird sich zeigen, wie kräftig diese Drift in der innenpolitischen Tektonik ist. Gelingt es Kandidatinnen und Kandidaten, nicht nur mit dem Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt, sondern auch mit damit verbundenen außenpolitischen Positionierungen zu punkten, wäre das ein klares Signal. Und das könnte wiederum mittelfristig tatsächlich auch die US-Außenpolitik prägen. Prognosen, in welche Richtung das Pendel sich tatsächlich bewegen wird, wären aber zu gewagt: Zu zahlreich und unwägbar sind derzeit die Faktoren, die letztlich darüber entscheiden.