„Alle eure Töchter“

Die vergessenen Prophetinnen

In der urchristlichen Gemeinde fungierten Männer und Frauen als Propheten und Prophetinnen. Sie prangerten Missstände in der Gesellschaft an und wurden daher oftmals als störend empfunden. Anders als die Männer wurden Prophetinnen verdrängt und vergessen. Doch sie werden wiederentdeckt.

Ob Agabus, Simeon oder Johannes der Täufer, der nicht zuletzt als Wegbereiter Jesu gilt: Das Neue Testament kennt zahlreiche männliche Propheten. Doch auch biblische Frauen wie Maria, Isebel und Hanna, die im Jesus-Kind den Messias erkannte, galten als Prophetinnen. Sie waren Mahnerinnen mit feinem Gespür für die Gesellschaft.

Die katholische Theologin Eva Puschautz warnt im Gespräch mit ORF.at davor, sich Prophetinnen und Propheten vorzustellen „wie Wahrsager und Wahrsagerinnen, die in ihre Glaskugel hineinschauen“. Es seien meistens Männer und Frauen gewesen, „die versucht haben, die Zeichen der Zeit zu lesen, auf gesellschaftliche Veränderungen aufmerksam zu machen“ und „ganz sensibel für das waren, was in ihrer Umgebung abgelaufen ist“.

Prophetie als Amt

Da die Prophetinnen und Propheten, deren Aufgabe es war, „zwischen Gott und Mensch“ zu vermitteln, Gesellschaftskritik übten, wurden sie von der Bevölkerung oft als störend empfunden, sagt die evangelische Theologin Marianne Grohmann. Sie hätten verdeutlicht, dass Religion „eben nicht nur Privatsache, sondern durchaus gesellschaftsrelevant ist“. Und sie hätten stets an die Ideale erinnert und daran, „wie weit die Menschen vielleicht manchmal von diesen Idealen entfernt“ waren.

Kritik wird Frauen abgesprochen

Dass eine solche Kritik an Herrschenden und der Gesellschaft nicht immer gern gehört wurde, erstaunt nicht. Trotzdem war Prophetie bereits im Judentum als offizielles Amt institutionalisiert. Auch in der christlichen Urgemeinde spielten die Vermittler zwischen Gott und Menschheit eine wichtige Rolle. Sie hatten etwa Leitungsfunktionen für die jungen christlichen Gemeinden inne, so Puschautz. „Ihre Aufgabe war es unter anderem, Gemeinden zu helfen, wenn sie Fragen hatten oder Entscheidungen treffen mussten.“

Doch dieser kritische Blick auf die Gesellschaft und das Recht, Kritik laut und deutlich zu formulieren, wurde Frauen mit der Zeit immer mehr abgesprochen. Im Hintergrund standen oft auch andere Fragen des Macht- und Systemerhalts. Das zeigt auch die Geschichte der Prophetin aus Thyatira.

Eine Prophetin wird namenlos gemacht

Neben der Prophetin Hanna bezeichnet die Bibel auch Isebel als Prophetin. Das sei jedoch nicht der richtige Name der Prophetin aus Thyatira, wie Puschautz erklärt: „Sie wird in der Offenbarung Isebel genannt, weil der Verfasser der Offenbarung sie damit absolut diskreditieren möchte.“

Der Name Isebel erinnert an eine Frau aus dem Alten Testament, die einen König Israels vom rechten Glauben abbringt. Zu der damaligen Zeit galt sie vielen als Horrorfigur. Dem Verfasser der Offenbarung, Johannes, ist das bewusst. Er gab der Prophetin also diesen Namen und „tut damit etwas Grauenhaftes", wie die Theologin sagt. „Er nimmt dieser Frau ihre Persönlichkeit. Er nimmt ihr ihren Namen“ und bringe sie zudem noch mit etwas Negativem in Verbindung, so Puschautz.

Ausschnitt aus dem Bild „Simeon im Tempel“ (1627–1628) von Rembrandt van Rijn
Public Domain
Die Prophetin Hanna mit erhobenen Händen, mit dem Jesuskind der Prophet Simeon, in einem Gemälde von Rembrandt

Götzenopferfleisch und Unzucht

Johannes’ Vorwurf an die Prophetin: Sie stifte Menschen an, Unzucht zu treiben und Götzenopferfleisch, also Fleisch von Tieren, die heidnischen Göttern geopfert wurden, zu essen. Bei einer kritischen Lektüre der Johannes-Offenbarung zeige sich, dass es bei dem Streit um Deutungsmacht und Autorität gehe, so Puschautz.

Besonders umstritten war zu der Zeit die Frage, ob Christen und Christinnen Griechen und Griechinnen heiraten dürfen. Die Prophetin aus Thyatira bejahte – Johannes verneinte. Die Prophetin aus Thyatira versuchte zudem, ihrer Gemeinde Wege aufzuzeigen, den jungen christlichen Glauben leben und gleichzeitig wirtschaftlich gut überleben zu können. An vielen Stellen erinnert die Position der Prophetin an den Ansatz des frühchristlichen Missionars Paulus.

Prophetenbücher mit männlichen Namen

Während Paulus bis heute als eine der zentralen christlichen Autoritäten gilt, wird die Prophetin aus Thyatira als falsche Prophetin verurteilt. An ihrer Geschichte zeige sich deutlich, „dass es Frauen gegeben hat, die gestört haben. Und die anscheinend in den Gemeinden so mächtig und wichtig waren, dass sie jemandem wie Johannes ein Dorn im Auge waren.“

Obwohl Prophetinnen im Alten und Neuen Testament zentrale Figuren sind, tragen die 16 Prophetenbücher der Bibel ausschließlich Namen von Männern. Die Erzählungen über die Prophetinnen wurden mit der Zeit verdrängt. Die Forschung führt das heute auf patriarchale Strukturen zurück. Ein Beispiel für die Verdrängung der Frauen in ihrer Rolle als Prophetinnen und den Einfluss des Patriarchats ist Maria.

Maria – Mutter und Prophetin

Maria erfährt als Mutter Gottes im Christentum hohe Wertschätzung. Lange übersehen wurde aber, dass ihre Geschichte als klassische Berufungsgeschichte erzählt wird, wie man sie im Alten Testament bei Mose findet. Eine solche enthält immer vier Elemente: Ein Bote Gottes kommt und erklärt den Auftrag Gottes, in Marias Fall: „Du wirst ein Kind gebären.“ Die klassische Reaktion – auch in Marias Fall – ist zunächst Widerstand. Nach einem längeren Gespräch wird der Auftrag angenommen.

Der Hinweis, dass Maria auch als Prophetin verstanden wurde, verstärkt sich außerdem durch das Magnificat, sagt Puschautz: „Diesem großen Text, den Lukas Maria in den Mund legt, der sehr systemkritisch ist, aber viel Heilsprophetie für alle Unterdrückten und für alle Armen bringt.“

Prophetinnen als Figuren mit Leitungsaufgaben

Die Prophetinnenerzählungen beweisen einmal mehr, dass Frauen in allen wichtigen Bereichen des Urchristentums tätig waren. Und dass sie in Leitungspositionen mit großer Autorität zu finden waren. Das zeigt schon allein die Figur der Isebel. Puschautz: „Wir haben Frauen, die im Rahmen der Liturgie prophetisch sprechen – in 1. Korinther 11. Wir haben Frauen, die Lehrerinnen sind – die Frau, die von Johannes Isebel genannt wird, in der Offenbarung 2. Wir haben Frauen, die Leiterinnen von Gemeinden sind, einerseits auch Isebel und andererseits die vier Töchter des Philippus in der Apostelgeschichte.“

Einfluss auf Debatte über Frauen

Die Wiederentdeckung der Prophetinnen bringt neue Erkenntnisse – nicht nur über längst vergangene Tage. Die Theologinnen Grohmann und Puschautz fordern, dass diese Erkenntnisse in aktuelle Diskussionen über die Rolle von Frauen in der römisch-katholischen Kirche stärker einfließen sollten.

Eine Forderung, die nicht zuletzt rund um Pfingsten passend scheint. Denn tatsächlich bekräftigt das Fest den Glauben daran, dass Gott sich an Frauen und Männer gleichermaßen wendet. So sei, wie Puschautz sagte, die urchristliche Gemeinde davon überzeugt gewesen, dass zu Pfingsten eine Prophezeiung aus dem Alten Testament in Erfüllung ging, wo es heißt: „Alle eure Töchter und Söhne werden Propheten und Prophetinnen sein.“