Seit „Insieme“ 1990 hat Italien den Bewerb nicht mehr gewonnen, trotz mehrerer Topplatzierungen und obwohl man dort den Auswahlprozess mit dem legendären Sanremo-Festival besonders ernst nimmt. Heuer kämpfen die Italiener um den Sieg mit – und das mit einer ganz und gar nicht Song-Contest-artigen Nummer. Die Glamrockband Maneskin tritt mit „Zitti E Buoni“ und lauten Gitarren an.
Noch viel länger hat Frankreich nicht gewonnen, nämlich seit 1977. Und noch viel weiter in der Musikgeschichte zurück griff Barbara Pravi für ihr Chanson „Voila“, das in der Tradition Edith Piafs und Jacques Brels steht. Auch ihren Auftritt lehnt Pravi an ihre Vorbilder an – und das scheint siegesverdächtig.

Erste große Chance für Malta
Die dritte große Favoritin ist die erst 18-jährige Destiny, die für ihr Heimatland Malta den ersten Sieg überhaupt holen könnte. Ihre Empowerment-Hymne „Je Me Casse“ setzt auf Elektroswing und gute Laune. Dass ihr Konzept sehr an den Siegertitel „Toy“ von Netta 2018 erinnert, könnte ihre Chancen aber schmälern.
Ebenfalls den ersten Sieg für ihr Land hätten Dadi Freyr und seine Band Gagnamagnid wohl geholt, wäre der Song Contest 2020 nicht abgesagt worden. Sie hatten damals mit „Think About Things“ – einer tollen Popnummer mit viel Selbstironie – viele Fanherzen erobert. Nun steht die Band zwar im Finale, kann aber dort wegen eines CoV-Falls nicht live auftreten, stattdessen wird eine Probenaufzeichnung eingespielt. Was das für die Wertungen von Jurys und Publikum heißt, ist völlig offen. Könnte gar ein Song den Bewerb gewinnen, der nie live vor Publikum gesungen wurde?
Von den Vorschusslorbeeren des Vorjahres zehrt auch der Schweizer Kandidat Gjon’s Tears. Mit seiner Falsettballade „Tout l’Univers“, rangiert der Sänger seit Wochen in den Top Fünf der Wettquoten, auch wenn sein Auftritt im Halbfinale ein bisschen ungelenk wirkte und heuer nicht der Jahrgang der Balladen zu sein scheint.

Kontrastprogramm aus der Ukraine
Zweite Ausnahme im Feld ist die Bulgarin Victoria mit „Growing Up is Getting Old“, auch sie wurde im Halbfinale weitergewählt und hat laut Buchmachern Chancen auf die Top Fünf. Das absolute Kontrastprogramm fährt die Ukraine. Go_A hauen mit sirenenartigem „weißem Gesang“, Flötensolo und wilden Beats auf den Putz – „Shum“ spaltet die Geister, gehört aber auch optisch zu den interessanteren Beiträgen, was sich auch in den Erfolgschancen niederschlägt. Auffällig auf ganz andere Art sind The Roop aus Litauen, die mit dem schrägen Song „Discoteque“ den Bewerb mit einem Augenzwinkern in Angriff nehmen.
Hinweis
Das Finale am Samstag ist ab 21.00 Uhr live in ORF1 und im Livestream in tvthek.ORF.at zu sehen. ORF.at begleitet den Bewerb mit einem Liveticker – samt Bildern, animierten GIFs und Social-Media-Kommentaren.
Bei allen weiteren Acts wäre es eine große Überraschung, wenn sie in den Top Drei landen würden. Vor allem für das erfolgsverwöhnte Schweden dürfte das schon eine Enttäuschung sein. Mit Sänger Tusse und „Voices“ haben sie einmal mehr eine radiotaugliche Popnummer geschickt, der letzte Zacken für einen großen Erfolg dürfte heuer aber fehlen.
Die Dancepop-Frauenarmada
Eine ganze Armada an Sängerinnen versucht es heuer mit Dancepop, teils mit Ethnoeinschlag. Am auffälligsten dabei ist sicherlich die russische Aktivistin Manizha, die für ihren Song „Russian Woman“ extreme Anfeindungen konservativer Kreise einstecken musste. Auf sich aufmerksam machte im Vorfeld auch Senhit, die Kandidatin San Marinos, die sich für „Adrenalina“ Unterstützung durch US-Rapper Flo Rida, ehemals eine große Nummer im Geschäft, geholt hat.

Weniger originell ist das Konzept, mit dem Zypern antritt: Elena Tsagrinou orientiert sich bei der Performance von „El Diablo“ sehr stark an ihrer Vorvorgängerin Eleni Foureira, die 2018 mit „Fuego“ auf Platz zwei landete. Die Fuegoisierung hat beim Song Contest aber auch darüber hinaus um sich gegriffen. Das für Serbien antretende Frauentrio Hurricane mit „Loco Loco“ ist ein Beispiel dafür, Efendi aus Aserbaidschan mit „Mata Hari“ ein anderes.
Mit dieser Welle hat es auch die Moldawierin Natalia Gordienko mit „Sugar“ ins Finale gespült und die in den Niederlanden geborene Griechin Stefania mit „Last Dance“ schlägt in dieselbe Kerbe. Ebenfalls eher überraschend aufgestiegen ist Eden Alene aus Israel mit „Set Me Free“. Die albanische Kandidatin Anxhela Peristeri unterscheidet sich zwar nicht optisch, dafür singt sie „Karma“ in ihrer Landessprache.
Außerhalb der Schubladen
Aus der Reihe tanzen aber auch einige Beiträge. Der Norweger Tix griff am tiefsten in die Requisitenkiste, um seinen Song „Fallen Angel“ visuell aufzupeppen. Finnland geht mit der Nu-Metal-Band Blind Channel und „Dark Side“ musikalisch auf Zeitreise.
Apropos früher: Die Belgier Hooverphonic hatten vor rund 20 Jahren eine Fangemeinde in ganz Europa, mit „The Wrong Place“ dürfte ihnen die Rolle der abgeklärten Eltern im Song-Contest-Kindergarten zukommen. Ebenfalls im Bandformat und in gesetzterem Stil gehen The Black Mamba für Portugal ins Rennen.

Null-Punkte-Anwärter
Ein knappes Rennen um die hintersten Plätze liefern sich seit Jahren fast immer die Nationen, die fix im Finale sind. Deutschland sorgt mit Jendrik und seinem Zu-Gute-Laune-Popsong „I Don’t Feel Hate“ wieder einmal für Verwunderung. Blas Canto aus Spanien scheint mit der farblosen Ballade „Voy A Querdarme“ ein Meister der gepflegten Langeweile zu sein.
Teletwitter
Vom Teletwitter-Team ausgewählte Tweets mit „#ESCORF“ werden während der TV-Übertragungen auf der Teletext-Seite 780 eingeblendet.
Auch Großbritannien wirkt seit Jahren wenig motiviert in der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler, da reiht sich James Newman mit „Embers“ nahtlos ein. Gastgeberländer haben sowieso die größte Chance auf den letzten Platz, schließlich will man das Ding nicht zweimal hintereinander austragen müssen: Jeangu Macrooy muss heuer für die Niederlande in diesen sauren Apfel beißen.
„Feldstudie“ in Pandemiezeiten
Die Delegationen der insgesamt 39 Teilnehmerländer sind bereits seit zwei Wochen in Rotterdam – unter strengen CoV-Sicherheitsbedingungen soll das Event so normal wie möglich über die Bühne gehen. Weil Publikumsveranstaltungen in den Niederlanden eigentlich derzeit auch noch nicht erlaubt sind, bekam die EBU dafür einen Sonderstatus und der Song Contest läuft als wissenschaftlich begleitete „Feldstudie“ ab.
Für jede der insgesamt neun Shows – neben den drei TV-Liveshows fanden wie immer auch die letzten Komplettproben mit Publikum im Saal statt – wurden 3.500 personalisierte Tickets aufgelegt. Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer muss zwei CoV-Apps downloaden und bei Eintritt in die Ahoy-Arena einen negativen Schnelltest vorweisen, der nur bei einem spezifischen Testanbieter durchgeführt werden darf. Risikogruppen wie Menschen mit Vorerkrankungen und über 70-Jährige sind im Publikum nicht zugelassen.
Innerhalb der Ahoy-Arena ist der in den Niederlanden aktuell vorgeschriebene Mindestabstand von 1,5 Metern aufgehoben, auf den fix zugewiesenen Sitzplätzen fällt dann auch die Maskenpflicht, wohl um dem Fernsehpublikum die Emotionen aus der Halle deutlicher präsentieren zu können.