Ein Mann vor Trümmern in Gaza City bedeckt sein Gesicht
APA/AFP/Mohammed Abed
Israel droht

Angespannte Waffenruhe in Nahost

Nach der Waffenruhe zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas werden die Zerstörungen im Gazastreifen deutlich. Während die UNO einen raschen Wiederaufbau fordert, befürchtet Israel einen Missbrauch von Hilfslieferungen für eine erneute Aufrüstung der Hamas. Israelische Minister drohten auch damit, dass Israel künftig auf jeden Angriff deutlich härter reagieren werde als zuvor.

Der israelische Finanzminister Israel Katz von der rechtskonservativen Regierungspartei Likud sagte dem Radiosender 103 FM am Sonntag: „Für jeden Angriff auf den Süden muss es gezielte Tötungen von Hamas-Führern geben und Feuer auf Hamas-Ziele.“ Israel habe bisher aus Sorge vor einem Krieg immer vermieden, den ersten Schritt zu unternehmen. Das werde sich nun ändern, sagte Katz. Jahja al-Sinwar, Chef der islamistischen Hamas im Gazastreifen, werde für jeglichen Angriff „mit seinem Kopf bezahlen“.

Der israelische Siedlungsminister Zachi Hanegbi (Likud) ging im Gespräch mit dem TV-Sender Kanal 13 am Samstag noch weiter: „Wir dürfen nicht auf Raketenangriffe warten.“ Auch eine neue Aufrüstung der Hamas mit Raketen wäre aus seiner Sicht ein Grund für Israel, einen Angriff zu initiieren. Er sprach von einer „totalen Veränderung der Gleichung“ gegenüber der islamistischen Organisation. „Wir haben das nie getan, jetzt ist es an der Zeit, es zu tun.“ Auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte nach Inkrafttreten der Waffenruhe in der Nacht auf Freitag von „neuen Spielregeln“ gesprochen.

Gazastreifen: Hunderte tot, Tausende obdachlos

Unter Vermittlung Ägyptens hatten sich Israel und die Hamas nach elf Tagen auf eine Waffenruhe verständigt. Nach Inkrafttreten der Waffenruhe in der Nacht auf Freitag machte sich der UNO-Sicherheitsrat für schnelle humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen stark. Er betonte in einer Stellungnahme am Samstag die Dringlichkeit, dauerhaften Frieden in der Region zu erreichen – mit dem Ziel von „zwei demokratischen Staaten“. Auch US-Präsident Joe Biden und die Europäische Union drängen auf eine solche Lösung.

Ein Mann sammelt Trümmer von einem zerstörten Gebäude in Gaza City
AP/John Minchillo
Nach UNO-Angaben wurden Tausende Menschen durch Angriffe der israelischen Luftwaffe obdachlos

Das Ausmaß der Zerstörung ist jedenfalls verheerend: Nach Angaben des UNO-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) zwangen die israelischen Luftangriffe 91.000 Menschen im Gazastreifen zur Flucht aus ihren Häusern. Mindestens 6.000 Menschen wurden obdachlos, rund 800.000 Menschen haben keinen regelmäßigen Zugang zu Wasser. „Die Eskalation hat eine bereits ernste humanitäre Lage in Gaza verschärft“, sagte die zuständige UNO-Vertreterin, Lynn Hastings, am Sonntag bei einem Besuch des Gebiets.

Nach Angaben der israelischen Armee hatten militante Palästinenser mehr als 4.360 Raketen auf Israel abgefeuert. 680 davon seien im Gazastreifen selbst eingeschlagen. Bei den Angriffen seien in Israel 13 Menschen getötet worden. Die israelische Armee habe mehr als 1.500 Ziele in dem Küstenstreifen beschossen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden 248 Palästinenser getötet, mehr als ein Viertel davon Minderjährige. Israels Armee spricht dagegen von mehr als 200 getöteten militanten Palästinensern im Gazastreifen.

Tempelberg in Jerusalem wieder für Juden geöffnet

In Israel wie auch im Gazastreifen kehrte angesichts der Feuerpause wieder mehr Ruhe ein: Nach rund drei Wochen Zutrittsverbot wurde der Tempelberg in Jerusalem am Sonntag wieder für jüdische Besucher geöffnet. Die heilige Stätte war wegen schwerer Konfrontationen von Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften während des muslimischen Fastenmonats Ramadan für Juden geschlossen worden. Die Zusammenstöße gelten als einer der Auslöser für den jüngsten Konflikt.

UNO fordert Hilfe beim Wiederaufbau in Gaza

Während die Waffenruhe im Nahen Osten anhält, laufen die Nothilfe und Gespräche über einen Wiederaufbau des stark zerstörten Gazastreifens an. Nach UNO-Angaben sind rund tausend Wohnungen in dem Palästinensergebiet zerstört, Tausende Einwohnerinnen und Einwohner wurden obdachlos.

Am Freitag war es auch nach der Waffenruhe auf dem Tempelberg zu neuen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gekommen. Nach Angaben der israelischen Polizei wurden in der Nacht zum Sonntag 33 Palästinenser festgenommen, die bei den Ausschreitungen in Ostjerusalem beteiligt gewesen seien. Bereits am Samstag kam es zu mehreren Festnahmen. Der Tempelberg (Al-Haram al-Scharif) mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen.

Ämter und Behörden in Gaza öffnen wieder

Die von der Hamas kontrollierten zivilen Regierungsstellen in dem Küstenstreifen nahmen am Sonntag indes wieder ihre Arbeit auf. Die israelischen Angriffe zielten auf die militärische Infrastruktur der Hamas ab, richteten aber zugleich enorme Schäden an Wohn- und Hochhäusern, Gesundheitseinrichtungen und anderen öffentlichen Gebäuden an.

Unterdessen erreichten die ersten Hilfstransporte mit dringend benötigten Medikamenten, Lebensmitteln und Benzin den Gazastreifen über einen Grenzübergang zu Israel. Am Sonntag räumten freiwillige Helfer in Gaza Trümmer von den Straßen weg. Geschäfte und Banken öffneten wieder. Vor allem im nördlichen Gazastreifen konnten Menschen zudem zurück in ihre Häuser kehren. Das Schuljahr wurde wegen der Zerstörungen in dem Küstengebiet vorzeitig beendet. Rettungskräfte suchten weiter nach Überlebenden unter Gebäudetrümmern der letzten israelischen Angriffe.

US-Außenminister reist in Region

Um die Waffenruhe zu stabilisieren, will US-Außenminister Antony Blinken in die Krisenregion reisen. Er wird am Mittwoch und Donnerstag in Israel und von der Palästinensischen Autonomiebehörde im israelisch besetzten Westjordanland erwartet, wie eine mit den Plänen vertraute Person sagte. Im Westjordanland regiert die mit der Hamas rivalisierende Organisation Fatah. Besuche in Ägypten und Jordanien stünden ebenfalls auf Blinkens Programm, sagte der Insider weiter.

Pro-Palästinensische Demonstranten in London
APA/AFP/Justin Tallis
In zahlreichen Städten weltweit – wie hier in London – nahmen Tausende Menschen an propalästinensischen Demonstrationen teil

Weltweite Proteste

Bei einer Kundgebung in Tel Aviv forderten überdies mehrere tausend Demonstrierende am Samstagabend eine friedliche Lösung des jahrzehntelangen Konflikts mit den Palästinensern. „Dies ist unser aller Heim“ und „Gleichberechtigung für alle Bürger“ stand auf Schildern, die Demonstrierende in die Höhe hielten.

In zahlreichen Städten weltweit nahmen am Samstag Tausende Menschen an propalästinensischen Demonstrationen teil, darunter in Berlin, London und Paris. Auf Plakaten forderten die Demonstranten unter anderem „Freiheit für Palästina“. In New York und Los Angeles kam es am Rande solcher Kundgebungen in den letzten Tagen zu schweren antisemitischen Übergriffen.