Die italienische Song-Contest-Siegerband Maneskin
Reuters/Piroschka Van De Wouw
Song Contest

Den Mutigen gehört die Welt

Ein Rocksong als Gewinnerlied, keine englischsprachige Nummer unter den ersten drei und ein Riesenevent als Testballon für eine Zeit nach der Coronavirus-Pandemie: Mit dem Sieg der italienischen Band Maneskin ist am Samstag ein außergewöhnlicher Song Contest über die Bühne gegangen. Und musikalisch zeigte sich vor allem eines: Wer Songs nach fixen Schablonen und Klischees schickt, hat schon verloren, Mut wird belohnt.

Es war ein spannender Abend mit einem bunten und vielfältigen Feld an Beiträgen. Schon im Vorfeld zeichnete sich eine Favoritenrolle für Maneskin und „Zitti E Buoni“ ab – dennoch schien alles möglich: Auch der Französin Barbara Pravi wurden gute Chancen eingeräumt.

Mit ihrem klassischen, sich gegen Ende steigerndem Chanson „Voila“ landete sie auf Platz zwei vor dem Schweizer Gjon’s Tears, der mit seiner Falsettballade „Tout l’Univers“ stimmlich und emotional vor allem die Fachjurys beeindruckte. Mit einer italienischen und zwei französischen Nummern war auf dem Siegerpodest heuer kein Platz für englischsprachige Nummern.

Schweiz: Gjon’s Tears „Tout l’univers“

Vielfältige Votingergebnisse

Wie ausgeglichen das Feld war, zeigt sich auch bei einem Blick auf die Punktevergabe: Gleich die Hälfte aller 26 Acts im Finale bekam von mindestens einem Landespublikum die vollen zwölf Punkte. Bei der Wertung der Fachjurys waren es gar 16, die sich mindestens einmal über die Höchstwertung freuen konnten.

Und der Blick auf das Scoreboard offenbart auch, dass der Sieg Italiens nicht unbedingt haushoch war: Die vollen zwölf Punkte bekamen Maneskin nur in fünf der TV-Votings der insgesamt 39 antretenden Länder und gar nur viermal von den Jurys. Punkte gehamstert wurden also mit zweiten, dritten und vierten Plätzen der jeweiligen Abstimmungen.

Warum Italien?

Tatsächlich ist „Zitti E Buoni“ eine vielleicht nur durchschnittliche Rocknummer, der eigentlich auch der zwingende Refrain eher fehlt. Warum hat Italien dann trotzdem gewonnen? Vielleicht auch, weil der Auftritt in bester Glamrock-Manier mit Leder und Pyrotechnik auch ein Zeichen des Aufbruchs und der Wiederöffnung nach der Pandemie war – ein erster Vorgeschmack darauf, Kunst und Kultur wieder live zu genießen und wieder gemeinsam feiern und tanzen zu können.

Italien: Maneskin „Zitti E Buoni“

Genau das betonte die Band auch nach ihrem Sieg: „Der ganze Bewerb war eine Art Befreiung“, sagte Sänger Damiano David und quittierte den Erfolg mit einem lauten „Rock ’n’ Roll will never die“. Nebenbei musste die Band dann auch noch Kokaingerüchte dementierten: Bilder aus dem Green Room hatten Spekulationen ausgelöst, der Sänger habe sich während der Punktevergabe Kokain durch die Nase gezogen.

Vielleicht war der Sieg aber auch eine Belohnung für Italien, das – vielleicht als einziges Land überhaupt – in den vergangenen Jahren konsequent gute, clevere und auch textlich interessante Beiträge zu dem Bewerb geschickt hat und dabei mehrmals knapp gescheitert ist.

Der Wille zum Sieg

Im Vergleich zu „Occidentali’s Karma“ von Francesco Gabbani 2017, „Non mi avete fatto niente“ von Ermal Meta & Fabrizio Moro 2018 und „Soldi“ von Rapper Mahmood ist „Zitti E Buoni“ sogar wohl der schwächste Beitrag. Das Sanremo-Festival, bei dem der italienische Act jeweils ausgewählt wird, mag der Hauptgrund für die Qualitätsarbeit sein. Vielleicht ist Italien aber auch das einzige Land neben Schweden, das keine Zweifel daran lässt, dass man den Bewerb auch gewinnen will und die teure Austragung im Folgejahr in Kauf nimmt. Bei sehr vielen anderen Ländern muss das ernsthaft bezweifelt werden.

Isländische Pechvögel

Und: Italien profitierte vielleicht auch als einziges Land von der Absage des Song Contests im Vorjahr: Denn da hätte man den Sänger Diodato mit der langsamen Nummer „Fai Rumore“ antreten lassen. Heuer zeigte sich nach Monaten des Lockdown, dass Balladen so überhaupt nicht gefragt sind und die Zeichen auf Ausgelassenheit und flotte Nummern stehen.

Dass Mut belohnt wird, zeigte sich auch bei anderen einigermaßen erfolgreichen Beiträgen: Die isländischen Pechvögel Dadi Freyr og Gagnamagnid kamen auf Platz vier, ohne bei dem Liveevent auf der Bühne zu stehen: Nach einem positiven Coronavirus-Test am Mittwoch verfolgten sie den Bewerb aus dem Hotelzimmer aus und sahen einen Probenauftritt von sich selbst beim Event. „10 Years“ war ebenso originell wie „Think About Things“ aus dem Vorjahr, dem wahrscheinlichen Sieg kam die Absage 2020 dazwischen.

Island: Dadi og Gagnamagnid „10 Years“

Starke Songs fielen Absage zum Opfer

Die in den vergangenen Tagen öfter geäußerte Einschätzung, der heurige Song Contest sei besonders stark besetzt gewesen, mag der Euphorie geschuldet sein, dass er überhaupt stattfinden konnte. Die ganz großen Inszenierungen auf der Bühne fehlten eigentlich. Und die im Vorjahr eingereichten Beiträge waren fast durch die Bank stärker.

Auch The Roop aus Litauen hätten mit „On Fire“ viel bessere Chancen gehabt, so wurde es für die schräge Popnummer „Discoteque“ Platz acht. Und wirklich mutig war das ukrainische Soundungetüm „Shum“ der Band Go_A, das mit Flötensolo, Sirenengesang und heftigen Beats eine unwiderstehliche Sogwirkung entfachte. Die Jurys ließ das kalt, das TV-Publikum katapultierte die Ukrainer noch auf Platz fünf.

Ukraine: Go_A „Shum“

Die Jurys als Hüter der Schablonen?

Überhaupt gingen Jury- und Publikumswertung wie so oft weit auseinander. Viele der Fachleute dürften – wohl vom ungebrochenen Castingshowwahnsinn angesteckt – schön Singen eher als sportliche Disziplin sehen und gleichzeitig an alten und überholten Song-Contest-Klischees festhalten und diese damit fortschreiben. Einem selbstreferentiellen System, das im eigenen Saft schmort und sich nach ein paar Jahren nicht selbst erneuern kann, droht die Bedeutungslosigkeit. Und schon jetzt wird der Bewerb sehr oft als Lachnummer in einer Nische diffamiert.

Dabei hat es, wenn es nicht gerade ein wirklich guter und zwingender Popsong ist, der heuer tatsächlich fehlte, auch in den vergangenen Jahren nie gereicht, alte Erfolge abzukupfern. Kopierte man früher gerne die erfolgreichen Nummern des Jahrgangs davor, sind manche Länder mittlerweile zumindest so clever, zwei oder drei Jahre zurückzusehen. Maltas Destiny etwa ging mit einer runderneuerten Version von Nettas „Toy“ an den Start, doch auch Stimmgewalt und Frauenbotschaft punkteten nur bei den Jurys, die Mitfavoritin stürzte noch auf Platz sieben ab.

„Fuegoisierung“ schreitet voran

Zum zweiten Mal infolge plagiierte sich Zypern selbst: „El Diablo“ war einmal mehr ein Abklatsch von Eleni Foureiras „Fuego“ von 2018. Überhaupt kann man von einer „Fuegoisierung“ des Bewerbs sprechen: Etliche Länder steckten Sängerinnen in knappe und hautenge Glitzeroutfits und ließen sie von Tänzerinnen und Tänzerinnen flankiert zu Dancepop mit Ethnoelementen trällern. Überraschend viele dieser Acts schafften es ins Finale, dort spielten sie aber keine nennenswerte Rolle mehr, auch wenn sie damit schon am feministischen Grundkonsens beim Bewerb kratzten, den Acts wie Destiny und auch die Russin Manizha (Platz neun mit „Russian Woman“) heuer hochgehalten haben.

Fotostrecke mit 26 Bildern

Zypern, Elena Tsagrinou,"El Diablo"
EBU/Thomas Hanses
Zypern: Elena Tsagrinou mit „El Diablo“
Anxhela Peristeri
AP/Peter Dejong
Albanien: Anxhela Peristeri mit „Karma“
Israel, Eden Alene, „Set Me Free“
EBU/Andres Putting
Israel: Eden Alene mit „Set Me Free“
Belgien, Hooverphonic, „The Wrong Place“
EBU/Thomas Hanses
Belgien: Hooverphonic mit „The Wrong Place“
Russland, Manizha, „Russian Woman“
EBU/Thomas Hanses
Russland: Manizha mit „Russian Woman“
Malta, Destiny, „Je me casse“
EBU/Andres Putting
Malta: Destiny mit „Je me casse“
Portugal, The Black Mamba, „Love Is On My Side“
EBU/Andres Putting
Portugal: The Black Mamba mit „Love Is On My Side“
Serbien, Hurricane, „Loco Loco“
EBU/Andres Putting
Serbien: Hurricane mit „Loco Loco“
Großbritannien (UK), James Newman, „Embers“
EBU/Thomas Hanses
Großbritannien: James Newman mit „Embers“
Griechenland, Stefania, „Last Dance“
EBU/Andres Putting
Griechenland: Stefania und „Last Dance“
Schweiz, Gjon’s Tears, „Tout l’univers“
EBU/Thomas Hanses
Schweiz: Gjon’s Tears mit „Tout l’univers“
Island, Daði og Gagnamagnið, „10 Years“
EBU/Thomas Hanses
Island: Dadi og Gagnamagnid mit „10 Years“
Spanien, Blas Cantó, „Voy a quedarme“
EBU/Andres Putting
Spanien: Blas Canto mit „Voy a quedarme“
Moldau, Natalia Gordienko, „Sugar“
EBU/Thomas Hanses
Moldawien: Natalia Gordienko mit „Sugar“
Deutschland, Jendrik, „I Don’t Feel Hate“
EBU/Thomas Hanses
Deutschland: Jendrik mit „I Don’t Feel Hate“
Finnland, Blind Channel, „Dark Side“
EBU/Thomas Hanses
Finnland: Blind Channel mit „Dark Side“
Bulgarien, Victoria, „Growing Up Is Getting Old“
EBU/Andres Putting
Bulgarien: Victoria mit „Growing Up Is Getting Old“
Litauen, The Roop, „Discoteque“
EBU/Andres Putting
Litauen: The Roop mit „Discoteque“
Ukraine, Go_A, „Shum“
EBU/Andres Putting
Ukraine: Go_A mit „Shum“
Frankreich, Barbara Pravi, „Voilà“
EBU/Andres Putting
Frankreich: Barbara Pravi mit „Voila“
Aserbaidschan, Efendi, „Mata Hari“
EBU/Andres Putting
Aserbaidschan: Efendi mit „Mata Hari“
Norwegen, Tix, „Fallen Angel“
EBU/Andres Putting
Norwegen: Tix mit „Fallen Angel“
Niederlande, Jeangu Macrooy, „Birth Of A New Age“
EBU/Thomas Hanses
Niederlande: Jeangu Macrooy mit „Birth Of A New Age“
Italien, Måneskin, „Zitti e buoni“
EBU/Andres Putting
Italien: Maneskin mit „Zitti e buoni“
Schweden, Tusse, „Voices“
EBU/Andres Putting
Schweden: Tusse mit „Voices“
San Marino, Senhit feat. Flo Rida, „Adrenalina“
EBU/Thomas Hanses
San Marino: Senhit feat. Flo Rida mit „Adrenalina“

Dabei muss man das Rad gar nicht neu erfinden, um sich von der Konkurrenz abzuheben: Das klassische Chanson von Barbara Pravi landete auf Platz zwei. Finnland exhumierte das Genre Nu Metal. Das und ein brauchbarer Refrain bei „Dark Side“ der Langhaarkapelle Blind Channel reichte für Platz sechs. Selbst für „The Black Mamba“ aus Portugal, die mit einer souligen Midtempo-Poprocknummer antraten und textlich recht fragwürdig das Leben einer Prostituierten glorifizierten, wurde es Platz zwölf.

Frankreich: Barbara Pravi „Voila“

Verlorenes Deutschland

Als Lachnummer des Abends ging Deutschland hervor. Sänger Jendrik provozierte mit seinem karnevalesken Auftritt genau das Gegenteil von dem, was er in „I Don’t Feel Hate“ besang. Aus welchem Jahrzehnt das aktuelle deutsche Song-Contest-Mindset stammt, fragt man sich nun schon seit Jahren. Zwei der drei Mitleidspunkte kamen übrigens von der österreichischen Jury.

Und ganz gleich geht es dem Vereinigten Königreich, das mit null Punkten aus der Halle geschickt wurde. Dabei war „Embers“ von James Newman wahrscheinlich gar nicht einmal der furchtbarste Song des Abends. Aber das Verhältnis von Großbritannien zum Song Contest kann nur mehr als zerrüttet beschrieben werden. Notorisch erfolglos blieb – zu Recht – auch Spanien, und der niederländische Sänger Jeangu Macrooy entging auch nur knapp der traditionellen Schmach des letzten Platzes für das Gastgeberland.

Bueno deutlich gescheitert

Und Österreich: Vincent Bueno schied als zwölfter seines Semifinales aus, das Ergebnis wurde in der Nacht auf Sonntag verkündet. Besonders knapp war es also nicht. Mit der flotteren Nummer „Alive“ aus dem Vorjahr hätte er vielleicht mehr Chancen gehabt. Powerballaden wie „Amen“ hatten heuer gar keine Chance. Und nach dem männlichen Sieger Duncan Laurence aus dem Vorjahr scheinen heuer auch Männer schlechtere Karten (und auch Songs?) gehabt zu haben. Allein am Donnerstag waren sechs der sieben gescheiterten Kandidaten Männer. Trotzdem: Auch wenn Bueno selbst ohne große Fehler antrat, das war – siehe Mut – zu wenig.

Mutig oder übermütig

Und noch einmal Mut: Mit dem Entschluss, Publikum zumindest teilweise zuzulassen bewiesen die EBU (European Broadcasting Union) als Veranstalter und der Ausrichter Niederlande großen Mut. 3.500 durften pro Show – streng getestet – in die Halle, wo dicht an dicht mitgefiebert und gefeiert wurde. Das ergab Fernsehbilder, die man so live schon lange nicht mehr gesehen hatte. Das pure Leben quasi, nach dem die Sehnsucht groß ist.

Zu hoffen bleibt, dass der Entschluss nicht übermütig war. Mit dem isländischen Fall und dem Vorjahressieger Laurence gab es auf der Bühne zwei coronavirusbedingte prominente Ausfälle. Sollten Ansteckungen im Publikum nachträglich bekanntwerden, würde das noch einen Schatten auf das durch und durch glitzernde Event werfen.