Umgeleitetes Flugzeug in Minsk
APA/AFP/Petras Malukas
Blogger in Minsk im Visier

Augenzeuge schildert erzwungene Landung

Bei der durch Weißrussland erzwungenen Notlandung des Ryanair-Flugs in der Hauptstadt Minsk soll dem kurz darauf verhafteten regimekritischen Blogger Roman Protassewitsch schnell klar geworden sein, dass die Aktion ihm galt. Das berichtete am Montag ein Passagier dem griechischen TV-Sender Mega.

„Als ich hörte, dass das Flugzeug nach Weißrussland zurückkehrt, sah ich seine Reaktion. Er legte die Hände über den Kopf, als wüsste er, dass etwas Schlimmes passieren würde“, gab der Grieche Nikos Petalis per Videoschaltung aus Vilnius zu Protokoll. Protassewitsch habe gleich verstanden, dass die Notlandung ihm gelte.

Er selbst habe in der Nähe des Aktivisten gesessen. Dieser sei verängstigt gewesen. „Man hat ihn angesehen und gedacht, irgendetwas ist nicht in Ordnung mit ihm.“ Anschließend aber sei Protassewitsch ruhiger geworden. „Uns wurde nur gesagt, wir müssten in Minsk notlanden.“ Dann hätten die Passagiere ohne weitere Informationen eine Stunde im Flieger ausharren müssen. Er selbst habe gedacht, es handle sich womöglich um eine Art Notfallübung, sagte Petalis.

Der Aktivist Roman Protasevich 2017
Reuters
Der Regimekritiker Roman Protassewitsch auf einem Bild von 2017

Von Lukaschenko international gesucht

„Später haben wir im Wartebereich des Flughafens gesessen. Sie haben uns nicht einmal auf die Toilette gelassen. Protassewitsch saß neben mir, als ob nichts geschehen sei. Nach einer Weile kamen Polizisten und nahmen ihn fest.“ Die Passagiere hätten einen Horrorfilm erlebt, bilanzierte Petalis.

Behörden in der autoritär regierten Republik Weißrussland hatten das Flugzeug auf dem Weg von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius nach Minsk umgeleitet und zur Landung gezwungen. An Bord war der vom weißrussischen Machthaber Alexander Lukaschenko international gesuchte Blogger Protassewitsch. Neben Protassewitsch wurde auch eine russische Passagierin festgenommen, bestätigte der außenpolitische Berater von Swetlana Tichonowskaja, Franak Wjatschorka, auf APA-Nachfrage. Die Festgenommene sei in Vilnius als freiwillige Aktivistin tätig, erklärte er.

EU erwägt Sanktionen

Scharfe internationale Kritik hat die erzwungene Landung eines Linienflugzeugs in der weißrussischen Hauptstadt Minsk ausgelöst. Die EU erwägt Sanktionen.

Fünf Passagiere reisten nicht weiter

Litauischen Angaben zufolge traten fünf Passagiere nicht den Weiterflug nach Litauen an. Der Chef der litauischen Kriminalpolizei, Rolandas Kiskis, sagte am Montag, beim Start in Athen hätten sich 126 Passagiere an Bord befunden. Am planmäßigen Ziel in der litauischen Hauptstadt Vilnius seien mit dieser Maschine am Sonntagabend schließlich jedoch nur 121 Passagiere angekommen. Bei der Landung in Minsk wurde Protassewitsch festgenommen. Zudem kam nach Angaben einer Universität in Vilnius eine dort als Studentin eingeschriebene Begleiterin Protassewitschs ebenfalls nicht am planmäßigen Zielflughafen an.

Es könnte sich dabei um jene russische Staatsbürgerin handeln, die der russische Außenminister Sergej Lawrow am Montag in einer Pressekonferenz erwähnte. Sie sei in Begleitung des Bloggers gewesen, so Lawrow am Montag der Agentur Interfax zufolge. Er sprach von einer „Bekannten“ des festgenommenen Oppositionsaktivisten. Mehrere Medien schrieben, dass es sich um die Freundin des Bloggers handeln soll. Die russische Botschaft habe sich auch an das Außenministerium von Weißrussland gewandt, um konsularischen Zugang zu ihr zu bekommen, sagte Lawrow. „Wir haben Kontakt zu ihrem Vater aufgenommen.“ Details nannte er nicht.

Ryanair-Chef Michael O’Leary und der irische Außenminister Simon Coveney hatten die Vermutung geäußert, dass es sich bei den übrigen fehlenden Passagieren um weißrussische Geheimdienstmitarbeiter gehandelt habe. Demnach hätte Weißrussland Agenten bereits beim Abflug auf griechischem Boden eingesetzt. Litauens Kriminalpolizei-Chef Kiskis wollte sich zur Identität der fehlenden Passagiere nicht äußern.

Keine Angaben über Verbleib

Über den Verbleib Protassewitschs gibt es bisher keine offiziellen Angaben. Protassewitschs Vater Dmitri zeigte sich im Interview des weißrussischen Radiosenders Radio Swoboda überzeugt, dass es sich um eine sorgfältige Operation, an der nicht nur Weißrussland beteiligt war. Russland ist enger Verbündeter von Weißrussland. Sein Sohn war auf der Rückreise von einem Griechenland-Urlaub in die litauische Hauptstadt Vilnius. Dmitri Protassewitsch sprach von einem „Terrorakt“ Lukaschenkos. Über den Vorfall und mögliche Sanktionen gegen Weißrussland soll bei einem ohnehin geplanten EU-Sondergipfel beraten werden, der am Montagabend beginnt.

Ryanair-Maschine und Feuerwehrautos auf dem Flughafen Minsk (Weißrussland)
APA/AFP
Der Ryanairflug wurde zur Notlandung gezwungen – und ein Regimegegner an Bord verhaftet

Der Luftraum über Weißrussland soll künftig für alle in Litauen startenden oder landenden Flugzeuge tabu sein. „Alle Füge zu oder von litauischen Flughäfen via belarussischen Luftraum werden verboten“, erklärte Verkehrsminister Marius Skuodis am Montag bei einem Regierungstreffen in Vilnius. Die neue Regel gelte ab Dienstag. Die lettische Fluggesellschaft Air Baltic kündigte an, bis auf Weiteres den weißrussischen Luftraum zu meiden, bis die Situation klarer wird oder die Behörden eine Entscheidung treffen, teilte eine Sprecherin des Unternehmens in Riga mit. Auch ein Flug der ungarischen Fluggesellschaft Wizz Air von Kiew nach Tallinn umflog Weißrussland. Die Austrian Airlines werde bis auf Weiteres den weißrussischen Luftraum verwenden, erklärte eine Sprecherin von Austrian Airlines am Montag – mehr dazu in wien.ORF.at.

Lufthansa-Flug durchsucht

Ein Flugzeug der Lufthansa wurde am Montag in Minsk nach einem Sicherheitshinweis durchsucht. Das Unternehmen teilte auf Anfrage am Nachmittag mit, dass es für den Flug LH1487 nach Frankfurt (Main) während des Boardings einen Sicherheitshinweis an die lokalen Behörden gegeben habe. „Wir folgen den Anweisungen der lokalen Behörden, die das Flugzeug vor Abflug erneut durchsuchen und die Passagiere erneut einem Sicherheitscheck unterziehen“, hieß es.

Dazu würden auch alle Koffer und die Fracht ausgeladen. An Bord waren laut Lufthansa 51 Passagiere inklusive fünf Mitglieder der Crew. Es komme zu Verzögerungen. „Wir bedauern die Unannehmlichkeiten für die Passagiere, doch haben Sicherheit der Fluggäste, der Crew und des Flugzeugs bei Lufthansa immer höchste Priorität“, teilte das Unternehmen weiter mit. Anschließend durfte die Maschine mit Verspätung starten.

EU fordert sofortige Freilassung

Die EU bestellte den weißrussischen EU-Botschafter zum Gespräch in Brüssel ein. Botschafter Alexander Michnewitsch sei am Montag übermittelt worden, dass die EU-Institutionen und die EU-Staaten das Handeln der weißrussischen Behörden scharf verurteilten, teilte der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) mit. Das Gespräch führte EAD-Generalsekretär Stefano Sannino im Auftrag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell.

„Generalsekretär Sannino brachte die Position der EU zum Ausdruck, dass das empörende Handeln der belarussischen Behörden einen weiteren offensichtlichen Versuch darstellt, alle oppositionellen Stimmen in dem Land zum Schweigen zu bringen, und forderte die sofortige Freilassung von Herrn Protassewitsch“, hieß es in der Mitteilung vom Montag.

Die EU kritisierte im Vorfeld des Gipfels am Montag die erzwungene Landung durch weißrussische Behörden scharf und stellte Sanktionen gegen die Verantwortlichen in Aussicht. Zudem forderte der EU-AußenbeauftragteBorrell im Namen aller 27 EU-Staaten die sofortige Freilassung des Journalisten Roman Protassewitsch. Dessen Festnahme sei ein weiterer offenkundiger Versuch der weißrussischen Behörden, alle oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Kurz fordert „klare Konsequenzen“

Die weißrussischen Behörden hätten zudem die Sicherheit der Passagiere und der Crew gefährdet, so Borrell. Der Vorfall müsse eine internationale Untersuchung zur Folge haben. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach zuvor von einer „Entführung“ der Maschine, die sanktioniert werden müsse. Die EU dürfe nun nicht zur Tagesordnung übergehen, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), das Vorgehen Weißrusslands sei „absolut inakzeptabel“.

Internationaler Aufschrei nach erzwungener Landung

Im Vorfeld des am Abend beginnenden EU-Gipfels verurteilte die EU am Montag die erzwungene Landung durch weißrussische Behörden scharf und stellte Sanktionen gegen die Verantwortlichen in Aussicht.

Kurz forderte „klare Konsequenzen“ für Minsk Kurz sagte nach einem Treffen mit dem EU-Ratspräsidenten am Montag vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel, er habe „Charles Michel ersucht, heute Abend konkrete Vorschläge vorzulegen“. Kurz dankte EU-Ratschef Michel für seine schnelle und klare Reaktion am Sonntagabend. „Es ist wichtig, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs diesen absolut inakzeptablen Vorfall heute Abend besprechen“, so der Bundeskanzler weiter. Michel hatte bereits am Sonntagabend mögliche Sanktionen der EU gegenüber Weißrussland angedeutet

USA und NATO für internationale Untersuchung

US-Außenminister Antony Blinken sprach auf Twitter von einer „dreisten und schockierenden Tat des Lukaschenko-Regimes“. Auch die USA forderten eine internationale Untersuchung, man stimme sich mit den Partnern über die nächsten Schritte ab. Die USA stünden an der Seite der Menschen in Weißrussland. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte ebenfalls eine internationale Untersuchung. „Das ist ein schwerwiegender und gefährlicher Vorfall, der internationale Untersuchungen erfordert.“

Die EU hat bereits Sanktionen gegen Weißrussland im Zusammenhang mit der umstrittenen Wiederwahl von Alexander Lukaschenko und seinem harten Vorgehen gegen Regierungsgegner verhängt. Weitere Maßnahmen gegen hochrangige Vertreter aus Weißrussland waren zudem in Planung. Laut Angaben eines EU-Vertreters von Sonntagabend könnte nun zudem der weißrussischen Airline Belavia die Landung auf Flughäfen in der EU untersagt und jeglicher Transitverkehr von Weißrussland in die EU ausgesetzt werden. Zudem könnten Flüge von EU-Airlines über Weißrussland ausgesetzt werden.

Minsk will auch Experten „empfangen“

Weißrussland wies indes die Vorwürfe zurück, die Zwischenlandung erzwungen zu haben, um einen im Exil lebenden Oppositionsaktivisten festnehmen zu können. Die Behörden hätten völlig legal auf eine Bombendrohung reagiert, erklärte das Außenministerium am Montag. „Es besteht kein Zweifel, dass die Handlungen unserer zuständigen Stellen den internationalen Regeln entsprachen.“ Das Ministerium warf dem Westen vor, den Vorfall mit Hilfe „unbegründeter Anschuldigungen“ politisch zu instrumentalisieren.

„Ich bin sicher, dass wir in dieser Angelegenheit in der Lage sind, volle Transparenz zu gewährleisten“, sagte der Sprecher des Außenministeriums in Minsk, Anatoli Glas, am Montag. Wenn nötig, sei Weißrussland auch bereit, „Experten zu empfangen“ und Informationen offenzulegen, um Unterstellungen zu vermeiden. Beobachter sehen darin den Versuch, das weitgehend isolierte Land international ins Gespräch zu bringen. Zugleich verteidigte der Sprecher das Vorgehen der Behörden in der Ex-Sowjetrepublik und wies Kritik aus der EU als „bewusste Politisierung“ zurück. Es müsse alles in Ruhe analysiert und auf die Schlussfolgerungen „kompetenter Experten“ gewartet werden, sagte er.

Russland „schockiert“ über Reaktion

Russland zeigte sich „schockiert“ über die Reaktion des Westens auf die Festnahme von Protassewitsch. „Es ist schockierend, dass der Westen den Vorgang im belarussischen Luftraum als ‚schockierend‘ einstuft“, schrieb die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Montag auf Facebook. Auch westliche Staaten hätten in der Vergangenheit „Entführungen, erzwungene Landungen und illegale Festnahmen“ begangen.

Sacharowa verglich die aktuelle Zwangslandung implizit mit dem Fall von Boliviens Präsidenten Evo Morales, dessen Flugzeug 2013 nach dem Entzug von Überflugrechten in Frankreich und Portugal und im Zusammenhang mit der Vermutung, US-Whistleblower Eduard Snowden könnte an Bord sein, einen ungeplanten Zwischenstopp in Wien-Schwechat eingelegt hatte. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow mahnte am Montag in Moskau der Agentur Interfax zufolge eine „nüchterne Bewertung“ des Vorfalls an.