6 Jahre, 219 Tage, 2:30 Stunden, so steht es in nüchternen Zahlen auf der „Climate Clock“ gleich zu Beginn. So wenig Zeit bleibt uns noch, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, der kritischen Erwärmung von 1,5 Grad entgegenzuwirken. Der von Aktivisten gebaute Open-Source-Zeitmesser transportiert schlicht und eindringlich, wo die Vienna-Biennale-Hauptausstellung „Climate Care“, zu Deutsch Klimafürsorge, hinwill.
„Dringlichkeit vermitteln“, nennt Marlies Wirth, Teil des Kuratorinnenteams, im ORF.at-Gespräch eine Stoßrichtung. Die zweite: das Aufzeigen konkreter „Mikrorevolutionen“, wie es im Biennale-Pressetext heißt. Eine „geballte Ladung Zukunft“ kündigte der scheidende MAK-Generaldirektor Christoph Thun-Hohenstein, der 2015 die Biennale ins Leben rief, auch bei der Pressekonferenz am Donnerstag an.
„Es geht um ein Zukunftsmindset, das manche schon haben, manche aber noch nicht“, so Thun-Hohenstein, der „aktive Hoffnung“ versprach. Zu finden sind vielversprechende Ansätze aus – wie immer bei der Vienna Biennale – Design, Kunst und Architektur nun vor allem im MAK, wo man mit „Climate Care“ eine überbordend gefüllte Schau zusammengestellt hat, mit 100 Werken und 80 Informationsbannern.
Massenkonsum und Gletschersterben
Aber zurück zum Anfang: Neben einem sehr breiten Problemaufriss – von der 70er-Jahre-Gegenkulturzeitschrift „Whole Earth-Katalog“ als früher Bewusstseinsschule bis hin zur nachhaltigen Landwirtschaftsmethode Permakultur – setzt „Climate Care“ zu Beginn vor allem auf die, wie Wirth sagt, „Kraft künstlerischer Arbeiten“. Gleich beim Eingang begegnet man einem Großformat des deutschen Fotografen Andreas Gursky.
Veranstaltungshinweis
Die Vienna Biennale läuft bis 3. Oktober an verschiedenen Standorten.
„Climate Care. Stellen wir uns vor, unser Planet hat Zukunft“, Museum für angewandte Kunst, dienstags 10.00 bis 21.00 Uhr, mittwochs bis sonntags 10.00 bis 18.00 Uhr.
„Ines Doujak. Landschaftsmalerei“, Kunst Haus Wien, täglich 10.00 bis 18.00 Uhr.
Er hatte 2016 Zugang zur gigantischen Amazon-Lagerhalle in Phoenix, Arizona bekommen. In seiner fast schon pointilistisch wirkenden Fotografie stapeln sich Abertausende Waren – ein Symbolbild für einen aus dem Ruder gelaufenen Konsum. Das Gletschersterben ist Thema eines weiteren Großformatfotos: Die Dokumentation des in Tücher gehüllten Rhone-Gletschers, aufgenommen vom deutschen Künstler Thomas Wrede, erinnert an ein Kunstprojekt im Geiste des Verpackungskünstlers Christo.
Dahinter steht allerdings der verzweifelte Versuch, die Gletscherschmelze und damit den Zusammenbruch des dortigen Ökosystems zu verhindern. Ökologische Trauer spricht auch aus den 3-D-gedruckten Gletscheroberflächen der niederländischen Künstlerin Sandra van der Eijk, die in dieser Form nicht mehr existieren. „Wir sind die Dinos von morgen“, liest man auf Malerei des Großglockners der in Österreich lebenden Künstlerin Anna Meyer. Der schlagende Unterschied: Wir haben es uns selbst zuzuschreiben.

Ein Wald im Ausstellungsraum
Um die Beziehungen zwischen Mensch, Tier und Natur geht es im zweiten Abschnitt des Parcours: Die australische Künstlerin Rebecca Mayo ließ „Frottagen“-Stoffbahnen um Bäume wickeln und diese als zarte Spuren einer verwundeten Natur an der Wand hängen. Der österreichische Künstler Edgar Honetschläger ist hier mit witzigen Bleistiftzeichnungen badender Bäume vertreten und lädt darüber hinaus am Eröffnungswochenende in der MAK-Säulenhalle dazu ein, Mitglied seiner Initiative „Go, bugs, go“ zu werden, die sich für Lebensräume für Käfer einsetzt.
Und plötzlich steht man in einem Stück Wald. Das anglo-indische Designduo Superflux hat unter dem Glasdach der Großen Ausstellungshalle eine raumfüllende Ruheoase errichtet. 400 verbrannte Bäume, die kürzlich bei einem Waldbrand im niederösterreichischen Neunkirchen in Mitleidenschaft gezogen wurden, wurden ins MAK gebracht.
In der Mitte dieser Baumskelette ist nun ein Biotop mit viel Moos, verschiedenen Sträuchern und einem Teich eingerichtet, Nebel wabern, aus Lautsprechern dringen Zwitschern und Blätterrascheln. Das begehbare, mythische Projekt erinnert ein wenig an die gigantische „For Forest“-Installation im Klagenfurter Stadion 2019 – mit düsterer Rahmung.
Kaviar aus Donau-Algen
Dicht bepackt mit bis zur Decke beschriebenen Informationstafel geht es im dritten und letzten Teil weiter durch zig Design- und Architekturprojekte, die für ein Umdenken stehen, in den Bereichen Ernährung, Wohnen, Mobilität und Produktion – mit breiter Palette zwischen spielerischem Ansatz und technischer Komplexität, hohem utopischen Potenzial und gelebter Alltagspraxis.

Das Projekt „Viennese Caviar“ nutzt beispielsweise die allseits ungeliebten Algen aus der Alten Donau, um aus ihnen eine vegane Variante des Luxusfischprodukts Kaviar herzustellen. Das Elektrolastenrad ZUV (Zero Emission Utitly Vehicle) schaut nicht nur schick aus, sondern lässt sich als stark vereinfachte Konstruktion, angefertigt mit dem 3-D-Drucker, leicht und überall produzieren.
Bauen mit Holz und Lehm
Im Bereich Architektur zeigt man Entwürfe der Büros Shigeru Ban und Anna Heringer. Der japanische Architekt, 2014 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet, baut große Projekte schwerpunktmäßig mit Holz, Papierrollen und Transportbehältern und schuf etwa mit dem Swatch-Headquater im Schweizer Biel eine der größten Holzfachwerkkonstruktionen der Welt.
Die deutsche Architektin Anna Heringer ist wiederum eine westliche Expertin des Lehmbaus – und setzt in ihren Projekten auf lokale Expertise. Ein leichter Zuckerwattegeruch verströmt eine Installation aus alternativem, biologischem Plastik. Und da ist auch noch – ja, tatsächlich – ein großes Netz aus menschlichen Haaren, angefertigt von der niederländischen Designerin Sanne Visser: Wohl mehr ein Kunstprojekt, das nachwachsende Rohstoffe in den Blick rücken will.
Politische Konzeptkunst im Kunst Haus Wien
Komplettiert wird die Vienna Biennale von weiteren kleineren Präsentationen im MAK sowie Projekten der Universität für angewandte Kunst, der Kunsthalle Wien und des Architekturzentrums – und nicht zuletzt auch des Kunst Hauses Wien. Im kleinen Ausstellungsraum „Garage“ im Erdgeschoß und im Kunst-Haus-Innenhof gastiert mit der Künstlerin Ines Doujak ein Aushängeschild österreichischer politischer Konzeptkunst.

Doujak stellte unter anderem bei der documenta 2007, der Sao-Paolo-Biennale 2014 und 2015 im renommierten Kunstmuseum Macba in Barcelona aus, wo sie mit ihrer sexuell anzüglichen Skulptur zum spanischen König für heftige Turbulenzen sorgte. Mehr Ruhe ist nun in Wien garantiert; dem politischen recherchebasierten Ansatz rund um die Themen Kolonialismus und Machtpolitik blieb Doujak aber treu.
Feministische Idole als Namensgeberinnen
Auf den ersten Blick harmlos wirkende Stiche alter Apfelsorten hat die Künstlerin mit Zitaten historischer und aktueller Landraubpraktiken bedruckt. Vor allem ins Auge sticht aber die Sammlung an Botanik, die in allen Farben und Formen schillernden Pflanzensamen, getrockneten Blüten und Blätterreste, die Doujak von einem verstorbenen Freund geerbt hat, und die sie nun in einer Installation aus Kürbisgefäßen und auf einem Regalbrett in 160 Dosen präsentiert.
Diese eigenwillige Natursammlung ist für Doujak der Ausgangspunkt, der Benennungspraxis des schwedischen Naturforschers Carl Linne ihre eigene entgegenzustellen. Eine Hollywoodschaukel lädt ein, sich in die Bios revolutionärer Frauen einzulesen – von der „Piratenkönigin“ Grainne Ni Mhaille bis zur Architektin Margarete Schütte-Lihotzky: „Frauen, die ein Leben eingefordert haben, das gegen die Norm verstößt“, so Doujak gegenüber ORF.at.