Archivaufnahme vom weißrussischen Oppositions-Blogger Roman Protasevich
Reuters
Flugaffäre in Minsk

Blogger laut Opposition vermutlich gefoltert

Die weißrussische Bürgerrechtlerin und Regimegegnerin Swetlana Tichanowskaja vermutet, dass der nach der erzwungenen Landung einer Ryanair-Maschine in Minsk festgenommene Blogger und Oppositionelle Roman Protassewitsch im Gefängnis gefoltert wird – auch seine Mutter befürchtet das. Protassewitschs Vater geht davon aus, dass ein auf Video festgehaltenes Geständnis unter Zwang entstanden ist.

Die internationale Gemeinschaft müsse über gemeinsame Schritte diskutieren, „um die Täter vor Gericht zu stellen“, so Tichanowskaja am Dienstag via Telegram. Zugleich forderte sie die Freilassung des 26-Jährigen und auch anderer politischer Gefangener in Weißrussland. Tichanowskaja lebt in Litauen im Exil.

In einem am Montagabend in Weißrussland verbreiteten Video hatte der Blogger gesagt, er werde weiter mit den Ermittlern zusammenarbeiten und „Geständnisse über die Organisation von Massenunruhen in der Stadt Minsk“ abgeben. Nach Einschätzung der Opposition wurde Protassewitsch zu den Aussagen vor laufender Kamera gezwungen. Es seien Spuren von Schlägen sichtbar gewesen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass er jetzt von Mitgliedern der Sondereinheiten gefoltert wird“, sagte Tichanowskaja der Agentur BNS am Montag in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Sie stehe in Kontakt mit den Eltern von Protassewitsch.

Weißrussische Regimegegnerin Swetlana Tichanowskaja
AP/Mindaugas Kulbis
Die weißrussische Regimegegnerin Swetlana Tichanowskaja

Vater: Zu Geständnis gezwungen

Tichanowskaja zufolge wurde neben dem Aktivisten auch dessen Freundin festgenommen. Die 23-jährige Studentin Sofia Sapega sei in das berüchtigte Okrestina-Gefängnis in Minsk gebracht worden, sagte die Bürgerrechtlerin unter Berufung auf Angehörige der Frau. Was ihr vorgeworfen wird, sei nicht bekannt. Die russische Botschaft in Minsk hatte zuvor die Festnahmen bestätigt.

Der Oppositionell Blogger Roman Protassewitsch
Reuters TV
Bild aus dem „Geständnis“-Video mit Protassewitsch

Der Vater des inhaftierten Journalisten Protassewitsch äußerte sich am späten Montagabend erstmals zur Inhaftierung seines Sohnes. Er glaube, dass sein Sohn in einem Video, das online veröffentlicht wurde, durch Anwendung von Gewalt zu dem Schuldeingeständnis gezwungen worden sei. Seit dem vergangenen Sommer haben weißrussische Strafverfolgungsbehörden wiederholt Videos mit politischen Gegnern veröffentlicht, die in Haft vor laufenden Kameras sich selbst bezichtigten, Verbrechen begangen zu haben.

„Es ist möglich, dass seine Nase gebrochen ist, denn ihre Form ist anders, und es ist eine Menge Make-up darauf. Die ganze linke Seite seines Gesichts ist abgepudert“, sagte Dsmitri Protassewitsch in einem Interview am späten Montag der Nachrichtenagentur Reuters.

Mutter: Er wurde gefoltert

Auch nach Aussage seiner Mutter ist Protassewitsch schwer misshandelt worden. „Ich bin keine Chirurgin, aber es ist sicher, dass sie ihn auf die Nase geschlagen und diese möglicherweise gebrochen haben.“ Außerdem sei die linke Wange des 26-Jährigen geschwollen und hänge nach unten. „Selbst unter der Schminke sieht man eine gelbliche Färbung – vermutlich wurden Blutergüsse mit Puder überdeckt.“ Am Hals seien zudem Würgemale zu erkennen. „So wie es aussieht, haben sie ihn gewürgt, um aus ihm Beweise herauszuprügeln.“

Videobotschaft von Roman Protassewitschs Vater
Reuters TV
Der Vater des inhaftierten Regimegegners, Dsmitri Protassewitsch

Polen spricht von schlechtem Gesundheitszustand

„Es sind nicht seine Worte, es ist nicht die Art, wie er spricht. Er verhält sich sehr reserviert, und man kann sehen, dass er nervös ist.“ Es sei nicht seine Zigarettenschachtel auf dem Tisch – „die raucht er nicht“. Daher glaube er, dass sein Sohn zu der Aussage, er habe die Proteste in Weißrussland angestachelt, gezwungen wurde. „Mein Sohn kann nicht zugeben, die Massenunruhen verursacht zu haben, weil er so etwas einfach nicht getan hat.“ Die Inhaftierung seines Sohnes sei ein Akt der Vergeltung und soll Regierungskritikern zeigen: „Schaut, wozu wir in der Lage sind.“ „Das ist totaler Irrsinn, was hier passiert.“

Das weißrussische Innenministerium teilte mit, Protassewitsch sei in Untersuchungshaft und habe nicht über gesundheitliche Probleme geklagt. Der stellvertretende polnische Außenminister Pawel Jablonski sagte dem Privatsender TVN24, dass seine Regierung von der in Polen lebenden Mutter des Inhaftierten gehört habe, dass er sich in einem schlechten Gesundheitszustand befinde, nannte aber keine Details. Protassewitsch lebte vor seiner Festnahme im Exil. Sein Social-Media-Kanal war eine der letzten verbleibenden unabhängigen Quellen für Nachrichten über das Land seit der Massenunterdrückung von Dissidenten im letzten Jahr.

Sanktionen gegen Weißrussland

Nach der EU planen auch die USA Sanktionen gegen Weißrussland. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wurden Sanktionen bereits beschlossen. Die EU fordert die sofortige Freilassung des Journalisten Roman Protasewitsch.

Sieben Oppositionelle zu jahrelanger Haft verurteilt

Sieben Aktivisten der Opposition in Weißrussland wurden unterdessen am Dienstag zu Haftstrafen zwischen vier und sieben Jahren verurteilt. Das erfuhr die Nachrichtenagentur AFP nach der Urteilsverkündung von einem Journalisten an Ort und Stelle. Die Regierungskritiker wurden wegen Organisation und Teilnahme „an Massenprotesten“ verurteilt. Der Prozess in Mogiljow im Osten des Landes fand – bis auf die Urteilsverkündung – unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Mitstreiter: Erhalte Morddrohungen

Ein Mitstreiter Protassewitschs erhielt unterdessen nach eigenen Angaben Morddrohungen. „Sie schreiben mir, dass wir als Nächstes an der Reihe sind, dass man uns nicht nach Weißrussland entführen, sondern in Warschau erschießen wird“, sagte der Blogger Stepan Putilo der polnischen Zeitung „Rzeczpospolita“ (Dienstag-Ausgabe). Der 22-jährige Putilo war gemeinsam mit Protassewitsch Gründer des Portals Nexta auf Telegram. Die Redaktion hat ihren Sitz in Warschau. Der Telegram-Kanal wurde während der Proteste gegen Lukaschenko zur wichtigsten Informationsquelle der Opposition. Protassewitsch schied Ende 2020 aus Nexta aus.

EU beschließt Sanktionen und fordert Freilassung

Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten am Montag weitere Sanktionen gegen Weißrussland beschlossen und die sofortige Freilassung des Regierungskritikers und seiner Begleiterin Sapega gefordert. Zudem solle die Internationale Organisation für Zivilluftfahrt (ICAO) den Vorfall untersuchen.

Minsk hatte am Sonntag eine Ryanair-Maschine auf dem Weg von Athen nach Vilnius unter dem Vorwand einer Bombendrohung der radikalislamischen Hamas und mit einem Kampfjet zur Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Nach der Landung wurden der in Polen und Litauen im Exil lebende Oppositionelle Protassewitsch und seine aus Russland stammende Freundin festgenommen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte die Erklärung mit der Bombendrohung „vollkommen unglaubwürdig“. Die Hamas selbst widersprach Minsk und dementierte am Abend, eine Bombendrohung verfasst zu haben.

Maas: „An Niedertracht kaum zu überbieten“

Am Dienstag bezeichnete Merkel den Vorfall als beispiellos und inakzeptabel. Sie forderte die sofortige Freilassung Protassewitschs und seiner Partnerin. Das Video des Journalisten wertete Merkel als „besorgniserregend und erschütternd“.

Deutschlands Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte: „Was Lukaschenko getan hat, ist an Niedertracht kaum zu überbieten.“ Er sprach von einem „dreifachen Angriff“ – auf die „Sicherheit des Luftverkehrs, auf die Pressefreiheit und auf die europäischen Bürgerinnen und Bürger an Bord“. Diese „Grenzüberschreitung“ dürfe die „internationale Gemeinschaft nicht durchgehen lassen“. „Jedem Diktator, der mit derlei Gedanken spielt, dem muss klargemacht werden, dass es dafür einen bitteren Preis zu zahlen gibt“, sagte Maas.

Berichte aus Brüssel und Moskau

Über die erzwungene Landung eines Passagierflugzeugs in Weißrussland und die Androhung von Sanktionen seitens der EU berichten die ORF-Korrespondenten Roland Adrowitzer aus Brüssel und Carola Schneider aus Moskau.

AUA fliegt nicht mehr über Weißrussland

Der EU-Gipfel vereinbarte auch die Sperrung des Luftraums für Flugzeuge aus Weißrussland sowie ein Landeverbot auf EU-Flughäfen. Zahlreiche Fluglinien meiden nun den weißrussischen Luftraum. „Aufgrund der aktuell dynamischen Lage setzen wir die Operation im weißrussischen Luftraum vorerst aus“, teilte die deutsche Lufthansa am Montagabend mit. Die Entscheidung betreffe auch die AUA, sagte eine Sprecherin der zur Lufthansa-Gruppe gehörenden österreichischen Fluglinie auf Anfrage der APA. Weitere Fluggesellschaften – darunter Air France und Finnair – erklärten am Dienstag, sie würden den Luftraum über Weißrussland bis auf Weiteres meiden.

Die staatliche weißrussische Fluggesellschaft ihrerseits setzt ihre Flüge nach London und Paris bis Ende Oktober aus. Belavia reagiere damit auf ein Verbot von Frankreich und Großbritannien für Maschinen aus der Ex-Sowjetrepublik, teilte das Unternehmen am Dienstag mit. Man bedauere die aktuelle Situation, „die wir nicht ändern können“.

UNO-Sicherheitsrat mit Dringlichkeitssitzung

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßte die neuen EU-Sanktionen. „Die von Weißrussland erzwungene Landung eines Passagierflugs war gefährlich und inakzeptabel“, sagte der Norweger am Dienstag in Brüssel. Stoltenberg sprach von einer staatlichen Entführung und bestätigte, dass sich am Dienstag der Nordatlantikrat mit der Zwangslandung beschäftigen werde. In dem Gremium beraten die Botschafter der 30 NATO-Mitgliedstaaten.

Auch die UNO zeigte sich über die Sicherheit Protassewitschs besorgt und forderte seine Freilassung. Ein solcher Missbrauch staatlicher Gewalt gegenüber einem Journalisten, dessen Berufsausübung durch internationales Recht geschützt sei, werde auf das Schärfste verurteilt, sagte ein Sprecher des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte am Dienstag in Genf. Der Sicherheitsrat hält am Mittwoch eine Dringlichkeitssitzung zum Thema ab. Die informelle Sitzung werde virtuell und unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten und finde auf Antrag Frankreichs, Irlands und Estlands statt, hieß es.

Zuvor hatte auch US-Präsident Joe Biden die erzwungene Landung und die Festnahme auf das Schärfste verurteilt. Der Vorfall sei „skandalös“, sagte Biden am Montagabend (Ortszeit). Protassewitsch und alle weiteren politischen Gefangenen müssten umgehend freigelassen werden.

Russland: Nicht in Vorfälle verwickelt

Die russische Regierung verwahrte sich unterdessen auch gegen Mutmaßungen, sie sei in die Vorfälle verwickelt. Alle Behauptungen, Russland habe etwas damit zu tun, seien es nicht wert, darauf zu reagieren, sagte der Sprecher des Präsidialamtes, Dmitri Peskow, am Dienstag in Moskau.