Inderinnen trauern um einen an Covid verstorbenen Angehörigen
AP/Ajit Solanki
Indien

Experten vermuten weitaus mehr CoV-Tote

Letzte Woche hat Indien die höchste Zahl an täglichen Todesopfern in der Pandemie verzeichnet – 4.529. Eine Zahl, die laut Berechnungen durch Expertinnen und Experten höchstwahrscheinlich viel zu niedrig angesetzt ist. Ihnen zufolge könnte auch die Zahl der offiziell 3,5 Millionen Coronavirus-Toten weltweit viel höher sein, wenngleich es über exakte Zahlen nie Gewissheit geben dürfte.

Expertinnen und Experten wandten für verschiedene Szenarien im Beispielland Indien eine Berechnungsmethode an, die auf Antikörper-Tests beruht. Diese bieten nämlich die Möglichkeit, offizielle Aufzeichnungen zu korrigieren und zu besseren Schätzungen der Gesamtinfektionen und Todesfälle zu gelangen. Der Grund dafür ist einfach: Nahezu jeder und jede, der bzw. die sich mit Covid-19 infiziert, entwickelt Antikörper zur Bekämpfung der Krankheit. Diese hinterlassen Spuren der Infektion, die in den Untersuchungen erfasst werden können.

Sogar im besten Szenario übersteigen die geschätzten Infektionen und Todesfälle die offiziellen Zahlen bei Weitem. Die Johns-Hopkins-Universität (JHU) berichtet am Mittwoch offiziell von 27.157.795 CoV-Fällen und 311.388 Toten in Indien. Pessimistischere Schätzungen gehen gar von Millionen von Toten in der größten Demokratie der Welt aus. In Indien leben rund 1,4 Milliarden Menschen.

Offizielle Zahlen fragwürdig

Eine Unterschätzung der Infektionen und Todesfälle in Indien ist laut „New York Times“ („NYT“) aus technischen, kulturellen und logistischen Gründen wahrscheinlich. Weil die Krankenhäuser überlastet sind, würden viele Menschen zu Hause an CoV sterben, vor allem in ländlichen Gebieten, sagte Kayoko Shioda, eine Epidemiologin an der Emory University, zu der Zeitung. Diese würden bei der offiziellen Zählung nicht berücksichtigt. Labore, die die Todesursache bestätigen könnten, seien ebenfalls überlastet.

Indien wird außerdem vorgeworfen, zu niedrige Opferzahlen anzugeben. Eine Kritik, die die Regierung in Neu-Delhi zurückweist. Es sei möglich, dass die örtlichen Gesundheitsbehörden manche Covid-19-Fälle übersehen, sagte der Sprecher der regierenden BJP-Partei. Die Zahlen würden jedoch keinesfalls geschönt.

Überdies, so fanden andere Forscherinnen und Forscher heraus, gebe es nur wenige CoV-Tests. Zudem seien Familien oft nicht bereit zu sagen, dass ihre Angehörigen an Covid-19 gestorben seien. Auch das Melderegister sei auf technischer Ebene lückenhaft, schreibt die „NYT“. Laut der Zeitung wurden selbst vor der Pandemie etwa vier von fünf Todesfällen in Indien nicht medizinisch untersucht.

Fast die Hälfte infiziert?

Das Ergebnis der Extrapolation sind verschiedene Todesraten, die etwa doppelt bis fünfmal so hoch sind wie bisher gemeldet. Bei den Infektionsraten gehen die Forscherinnen und Forscher davon aus, dass sie 13,5 und 28,5-mal höher sein könnten. Das würde bedeuten, dass fast die Hälfte der indischen Bevölkerung das Virus gehabt haben könnte. Doch da die Konzentration der Antikörper in den Monaten nach einer Infektion abnehme, könnten die Zahlen sogar noch höher sein, so Shioda. Zweifelsfrei klar sei jedenfalls, dass die Pandemie in Indien viel größer sei, als die offiziellen Zahlen vermuten ließen.

Zwei Männer tragen neben einem Rettungswagen einen Holzsarg
APA/AFP/Aishwarya Kumar
Es gibt viele Gründe, warum in manchen Ländern die offiziellen Infektions- und Totenzahlen womöglich nicht stimmen

WHO geht von hoher Dunkelziffer bei Toten aus

Die Forschungsergebnisse für Indien decken sich im Wesentlichen mit den Erkenntnissen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Am Freitag gab die WHO an, dass die weltweite Zahl der Todesfälle durch Covid-19 möglicherweise zwei- oder dreimal höher ist als berichtet. Offiziell erlagen zwischen sechs und acht Millionen Menschen dem Coronavirus – mehr dazu in science.ORF.at.

Auch das Institut für Gesundheitsstatistik (IHME) kommt in seinen Modellen auf die Zahl von 6,9 Millionen Coronavirus-Toten seit März 2020 – mehr als doppelt so viele wie offiziell registriert. „In einigen Ländern sind die zu niedrigen Zahlen darauf zurückzuführen, dass nur wenige Coronavirus-Tests gemacht werden“, so Institutsleiter Chris Murray. „Das ist in Mexiko und Indien der Fall.“ In anderen Ländern sei die Definition eines CoV-Todesfalls sehr eng gefasst. „Für die Zukunft wird es für uns sehr wichtig sein zu wissen, in welchen Ländern es die meisten Todesfälle gab“, sagt Murray. Nur so könne beurteilt werden, welche Maßnahmen der Regierungen die Pandemie wirksam eingedämmt haben, wenngleich es auch nie Gewissheit geben dürfte.

Denn die Pandemie hat auch Todesfälle verhindert. Durch die Reisebeschränkungen seien etwa weniger Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen, so Stephane Helleringer, Demograf an der Universität New York in Abu Dhabi und WHO-Berater. Außerdem sei die Unterscheidung von Todesfällen aufgrund von Covid-19 und solchen, die während der Pandemie aus anderen Ursachen auftraten – zum Beispiel Lungenentzündungen oder Herzversagen – schwierig. Zu den indirekten Todesopfern der Pandemie zählen in manchen Ländern beispielsweise Menschen, die starben, weil sie in den mit CoV-Patientinnen und -Patienten überfüllten Krankenhäusern nicht behandelt werden konnten. Dennoch hängen auch diese Totenzahlen mit der Pandemie zusammen.