EU-Parlament in Straßburg
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Weg aus Brüssel

EU-Tross zieht wieder nach Straßburg

Einmal im Monat zieht das gesamte EU-Parlament von Brüssel nach Straßburg um. Einmal im Monat? Nicht während der Pandemie. Aber mit den sinkenden Inzidenzen geht auch das kostspielige und aufwendige Reisen der EU-Abgeordneten samt Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wieder los. Während die einen in Nostalgie über das historisch bedeutende Straßburg schwelgen, kritisieren andere den „Wanderzirkus“.

Denn die Plenartagung könnte problemlos in Brüssel bzw. „remote“, also online, abgehalten werden, so wie es pandemiebedingt 14 Monate der Fall war. Auch davor gab es immer schon Sitzungen in Brüssel, wo – genauso wie in Straßburg – die gesamte Infrastruktur mit einem eigenen Parlamentsgebäude vorhanden ist. Warum also der ganze Aufwand?

Der Grund ist ein historischer. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet und damit die Kontrolle der Montanindustrie von sechs Ländern, darunter Frankreich und Deutschland, beschlossen wurde, befanden sich deren Organe eigentlich in Luxemburg. Daneben gab es auch noch den Europarat, der 47 Länder umfasste und das Gremium für Menschenrechte war. Dieser saß im französischen Straßburg und stellte seinen Plenarsaal regelmäßig für die Sitzungen der EGKS zur Verfügung, aus der dann das Europäische Parlament hervorgehen sollte.

Kosten: Mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr

Die EU-Mitgliedstaaten einigten sich schließlich 1992 einstimmig darauf, die Sitze der EU-Organe dauerhaft festzulegen. Der offizielle Sitz und jener Ort, an dem die meisten Plenartagungen stattfinden, ist seither Straßburg. Die parlamentarischen Ausschüsse treten in Brüssel zusammen, und offizieller Sitz des Generalsekretariats des Parlaments ist Luxemburg.

Starker Verkehr in Brüssel
Reuters/Yves Herman
Trotz guter öffentlicher Verbindungen ist Brüssel eine Autostadt. Viele Politikerinnen und Politiker reisen auch per Pkw einmal im Monat nach Straßburg.

Für jede Überarbeitung dieser Regel ist eine Änderung des Vertrags erforderlich, die von den Regierungen aller Mitgliedstaaten einstimmig vereinbart und von allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden müsste. Der monatliche Umzug des Europaparlaments kostet den EU-Steuerzahlerinnen und -Steuerzahlern laut Berechnungen des EU-Rechnungshosf weit mehr als 100 Millionen Euro im Jahr.

Noch aufwendigeres Reisen während Pandemie

Kristian Knudsen, Generaldirektor für Personal im EU-Parlament, informierte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des EU-Parlaments letzte Woche darüber, was sie erwartet, wenn sie im Juni wieder nach Straßburg reisen. Dabei wurden sie vor allem darauf hingewiesen, einen Haufen Papierkram mitschleppen zu müssen.

„Um nach Frankreich einzureisen, müssen Sie die folgenden Dokumente mit sich führen und auf Verlangen vorzeigen“, heißt es in der E-Mail der Generaldirektion, die Medien in Brüssel zugespielt wurde: „Eine gedruckte Version Ihres Dienstauftrags; eine Bescheinigung, die besagt, dass Sie wesentliche Funktionen für das Parlament in Straßburg ausüben. Das Dokument wird von der Personalabteilung Ihrer Generaldirektion ausgestellt; eine ausgefüllte eidesstattliche Erklärung; ein negatives PCR-Testergebnis; der Test sollte nicht mehr als 72 Stunden vor der Ankunft in Frankreich durchgeführt werden.“

In Frankreich gilt zudem eine Ausgangssperre. „Wenn Sie über den Beginn der Ausgangssperre hinaus arbeiten müssen, führen Sie bitte die Bescheinigung mit sich, die besagt, dass Sie wesentliche Funktionen für das Parlament in Straßburg ausüben“, so die Mitteilung. Auch bei der Rückkehr nach Brüssel soll es keine Sonderbehandlung für EU-Abgeordnete und Co. geben: „Nach der Rückkehr aus dem Ausland müssen Sie die nationalen Regeln für Quarantäne und Tests befolgen, die in Belgien gelten.“ Das bedeutet derzeit: testen am ersten und siebten Tag und dazwischen Selbstisolierung. Einem Insider zufolge könnte im Europaparlament in Straßburg ein Testzentrum eingerichtet werden.

Karas: „Straßburg ist ein Symbol“

EU-Parlamentspräsident David Sassoli machte auch während der Pandemie keinen Hehl daraus, wo er den Mittelpunkt seines Hauses sieht. „Straßburg ist unsere Hauptstadt“, sagte er in einer Rede im Dezember. Doch mit der Öffnung vieler Lebensbereiche falle nun der einzige Grund weg, die Plenartagung nicht in Straßburg abzuhalten – und das sei der Punkt „unvorhergesehene Ereignisse“, wie der langjährige EU-Abgeordnete und einer der Vizepräsidenten des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), gegenüber ORF.at näher ausführte.

Othmar Karas (Vize-Präsident des Europäischen Parlaments)
APA/Hans Punz
Karas wird nach Straßburg reisen

„Vielen ist vielleicht nicht mehr bewusst, wie wichtig die deutsch-französische Versöhnung für den Frieden und auch als Baustein für die EU war. Straßburg ist nach wie vor ein Symbol dafür.“ Er selbst reise „aus Sicherheitsgründen“ jedoch alleine ins Elsass, da er bereits zweimal geimpft sei, so der 63-Jährige.

Etwas verstimmter zeigte sich seine Kollegin, ÖVP-Delegationsleiterin Angelika Winzig. „Ob diese Rückkehr unbedingt vor dem Sommer noch notwendig war, sei dahingestellt, weil sich auch die Erreichbarkeit aufgrund der derzeit eingeschränkten Flugoptionen und diverser anderer Reisehürden für alle Kolleginnen und Kollegen kompliziert gestaltet“, so Winzig in einer Stellungnahme.

FPÖ beklagt organisatorisches Chaos

Auch für die FPÖ ist es wichtig, dass die Sitzungen weiter in Straßburg stattfinden – nur in Straßburg. „Wir sprechen uns auch dafür aus, dass Straßburg als alleiniger Sitz des Europäischen Parlaments festgelegt werden sollte“, so FPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Harald Vilimsky. „Daher verstehen wir auch nicht, dass man wieder so viel Zeit hat verstreichen lassen, ohne konkrete Lösungsvorschläge zu präsentieren, um diesen sinnlosen Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg endlich zu beenden.“ Es habe alleine in der vergangenen Legislaturperiode zehn Anträge gegeben, die sich für einen ‚Single Seat‘, also einen Sitz des EU-Parlaments, ausgesprochen haben.

Zudem beklagte Vilimsky das „organisatorische Chaos“. So seien etwa die Quarantäneregeln unklar. Dementsprechend sei auch die Stimmung unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht die beste, da die Gesamtsituation „mit entsprechend viel bürokratischem Aufwand verbunden ist“, so der EU-Parlamentarier.

„Enorme CO2-Mehrbelastungen“

Bei der SPÖ wollen alle fünf EU-Abgeordneten am Plenum in Straßburg teilnehmen, wie ORF.at erfuhr. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe man eine Anreise aber freigestellt. „Sie können ihre Arbeit auch von Brüssel aus erledigen und so unnötige Reisen vermeiden“, sagte Andreas Schieder (SPÖ), der das monatliche Reisen wie Vilimsky als „Wanderzirkus“ bezeichnete.

EU-Parlament in Brüssel
ORF.at/Peter Prantner
Nicht nur in Straßburg gibt es ein Gebäude des EU-Parlaments, sondern auch in Brüssel

Abgesehen von den Millionen an Steuergeldern, die dafür draufgehen würden, verursache das Umziehen „enorme CO2-Mehrbelastungen“. „Die Stadt steht für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich und damit für einen Grundpfeiler der europäischen Einigung. Aber diesen Gedanken kann man sinnvoller würdigen als durch die allmonatliche Wanderung des Europäischen Parlaments“, beklagte Schieder.

Ähnlich sieht das Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament: „Viele Mitarbeiter*innen und junge Europaabgeordnete warten noch auf ihre Impftermine. Für diese Menschen stellt die Reise im Juni nach Straßburg ein unnötiges Risiko dar“, so Vana in einem Statement. „Deswegen werden wir grünen Europaabgeordneten aus Österreich nicht nach Straßburg reisen, sondern per Digitalschalte an der Plenartagung teilnehmen.“

„Diese Geldverschwendung kann man nicht rechtfertigen“

NEOS befürchtet durch die Rückkehr nach Straßburg einen digitalen Rückschritt. Das elektronische Abstimmen, das Teilnehmen an Ausschuss- und Fraktionssitzungen funktioniere von überall, und sogar Redebeiträge könnten aus dem Homeoffice aufgenommen werden, heißt es in einer E-Mail an ORF.at. „Wir sprechen uns absolut dafür aus, dass das Parlament nur einen Sitz hat“, so die Europaabgeordnete Claudia Gamon (NEOS). „Diese Geldverschwendung kann man den Steuerzahler_innen gegenüber nicht rechtfertigen und auch der unnötige CO2-Ausstoß ist ein Problem.“

NEOS-EU-Abgeordnete Claudia Gamon
APA/Georg Hochmuth
Gamon sieht große Vorteile im Homeoffice für EU-Abgeordnete sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Persönlich wünsche sie sich, so Gamon, dass man zumindest einen Teil des digitalen Arbeitens auch in Zukunft behalte. Sie stellte überdies die vielen Reisen nach Brüssel und wieder zurück nach Österreich infrage. Wenn die heimischen Abgeordneten nicht ständig nach Brüssel oder Straßburg reisen müssten, bliebe ihnen mehr Zeit, „sich mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort auszutauschen. Ich glaube, es würde der EU sehr guttun, wenn die, die in ihren Institutionen arbeiten, mehr Zeit damit verbringen, diese Arbeit den Menschen auch näherzubringen.“

Brief an Sassoli: Viele noch nicht geimpft

Auch wenn etliche EU-Politikerinnen und -Politiker erklärt hatten, nächste Woche nicht ins Elsass reisen zu wollen, werden dennoch erwartungsgemäß viele dem Ruf Sassolis nachkommen. Wer die viereinhalbstündige Autofahrt (von Brüssel aus gesehen) nicht auf sich nehmen will, kann auch mit der Bahn fahren. Diese ist allerdings schnell ausgebucht und teuer. Viele fliegen auch, was jedoch gerade ob der Klimaschutzdebatten besonders absurd erscheint. Insiderinnen und Insider gehen aus diesen Gründen davon aus, dass nicht nur die bekannten Themenschwerpunkte wie das Coronavirus und seine Bekämpfung, der europäische „Grüne Pass“ und die Situation in Belarus im Plenum diskutiert werden, sondern auch die ultimative Grundsatzdebatte „Straßburg oder Brüssel?“.

Noch könnte Sassoli den Ort des Plenums jedoch verlegen. Das streben zumindest rund sechzig Abgeordnete rund um die litauische EU-Parlamentarierin Rasa Jukneviciene an. Die geplante Straßburg-Sitzung im Juni „bedeutet, dass eine große Anzahl von Mitarbeitern reisen wird, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, geimpft zu werden und somit ohne Immunität gegen das Coronavirus“, heißt es in dem Brief, den Jukneviciene initiiert hatte. Ihr Plädoyer: noch einen Monat warten – oder drei bis September.