Der britische Premierminister Boris Johnson
APA/AFP/Matt Dunham
„Kein Bezug zur Realität“

Johnson wiegelt Kritik von Ex-Berater ab

Der britische Premierminister Boris Johnson ist schweren Vorwürfen seines ehemaligen Topberaters Dominic Cummings weitgehend ausgewichen und hat abgewiegelt. „Einige Kommentare, die ich gehört habe, haben keinen Bezug zur Realität“, sagte Johnson am Donnerstag. Und auch der von Cummings wenig schmeichelhaft gezeichnete Gesundheitsminister Matt Hancock wies auf seine Erfolge hin.

Johnson sagte, die Regierung habe „eine ungemein schwierige Reihe von Entscheidungen“ treffen müssen. Lockdowns mit Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen seien „sehr schmerzhaft, eine traumatische Erfahrung“, so der konservative Premier. „Zu jedem Zeitpunkt wurden wir von der Überzeugung geleitet, Leben zu schützen, Leben zu retten und sicherzustellen, dass der (Nationale Gesundheitsdienst, Anm.) NHS nicht überlastet ist.“

Weiter wollte sich Johnson beim Besuch eines Krankenhauses in Colchester 85 Kilometer nordöstlich von London nicht zu den schweren Anschuldigungen äußern. Cummings hatte dem Premier Unfähigkeit vorgeworfen. Die Regierung habe versagt und sei schuld am Tod Zehntausender Coronavirus-Opfer, hatte er gesagt. Johnson betonte, es gehe darum, sich darauf zu konzentrieren, „was wirklich zählt“. Den Menschen gehe es darum, dass die Regierung einen Weg aus der Pandemie vorgebe und das Land aus einer der schwierigsten Phasen seiner jüngeren Geschichte führe.

Dominic Cummings (ehemaliger Berater von Premierminister Boris Johnson)
Reuters/Toby Melville
Johnsons ehemaliger Topberater Dominic Cummings rechnete mit der Regierung ab

Hancock: Anschuldigungen „nicht wahr“

Gesundheitsminister Hancock wies die schweren Anschuldigungen Cummings’ zurück. „Diese haltlosen Anschuldigungen (…) sind nicht wahr“, sagte Hancock am Donnerstag im Unterhaus in London. Jeden Tag seit Beginn der Pandemie frage er sich, was er tun könne, um Leben zu schützen. „Was wir getan haben, um der CoV-Pandemie beizukommen, ist beispiellos in jüngerer Zeit“, sagte Hancock. Die Regierung werde weiterhin offen und transparent vorgehen.

Am Mittwoch war Cummings dem britischen Unterhaus stundenlang Rede und Antwort gestanden. Der Ex-Berater äußerte sich vor Mitgliedern zweier Unterhaus-Ausschüsse des britischen Parlaments. Er hatte die Regierung im November 2020 im Streit verlassen. Regierungsmitglieder werfen ihm einen Rachefeldzug vor.
Cummings sagte, die Regierung habe versagt. Johnson sei unfähig.

Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock
Reuters/Henry Nicholls
Gesundheitsminister Matt Hancock verwies als Replik auf Cummings auf seine Erfolge

Cummings: Gesundheitsministerium riet zu CoV-Partys

Hancock hätte wiederholt gefeuert werden müssen, er habe in vielen Fällen „gelogen“, etwa über die Beschaffung von Schutzausrüstung. Das hätten Cummings und andere ranghohe Personen Johnson mehrmals gesagt. Im April hätte Johnson Hancock dann tatsächlich beinahe entlassen, so Cummings. Warum es nicht dazu kam, konnte er aber nicht sagen.

Cummings erneuerte auch seine Vorwürfe gegen das Gesundheitsministerium. Der eigentliche Plan der Regierung sei es gewesen, eine Herdenimmunität zu erreichen. So habe der damalige oberste Spitzenbeamte Mark Sedwill Mitte März gesagt, Johnson solle die Bevölkerung zu Coronavirus-Partys aufrufen, ähnlich wie Eltern in Großbritannien und den USA Feuchtblatternpartys für ihre Kinder veranstalten. Das sei offizieller Rat des Gesundheitsministeriums gewesen, sagte Cummings.

Hancock verteidigt sich mit Impferfolgen

Gesundheitsminister Hancock betonte am Donnerstag indes den Erfolg der Impfkampagne in Großbritannien. Fast die Hälfte der Erwachsenen hat bisher beide Impfdosen erhalten. Er sei stolz auf sein Team im Gesundheitsministerium, Pflegekräfte, Krankenhauspersonal und Freiwillige. „Großbritannien stellt sich dieser Herausforderung. Wir werden es schaffen“, sagte Hancock. Wichtig sei, dass die Menschen geimpft und getestet würden – das liefere die Regierung. „Das ist es, was für dieses Land wichtig ist.“

Auf Vorwürfe von Cummings, die Regierung habe CoV-Patienten und -Patientinnen ohne zu testen zurück in Pflegewohnheime geschickt und damit die Ausbreitung des Virus gefördert, ging Hancock nicht direkt ein. Er sagte, besonders zu Beginn der Pandemie seien viele Eigenheiten des Virus noch nicht bekannt gewesen. Die Regierung sei wissenschaftlichem Rat gefolgt, sagte Hancock.

Cummings: Johnson wollte sich im TV infizieren lassen

Cummings sagte am Mittwoch unter anderem auch aus, Minister, Beamte und Berater seien „katastrophal hinter den Standards zurückgeblieben, die die Öffentlichkeit in einer Krise erwarten darf“. „Als die Öffentlichkeit uns am meisten gebraucht hat, haben wir versagt.“ Die Regierung habe die Anzeichen der sich ausbreitenden Pandemie nicht erkannt, sagte Johnsons Ex-Berater.

Der Regierungschef habe sich sogar absichtlich mit dem Coronavirus infizieren lassen wollen, um zu zeigen, dass das Virus nicht gefährlich sei, sagte Cummings. „Im Februar (2020, Anm.) glaubte Boris Johnson, es sei nur eine Gruselgeschichte. Er glaubte, das sei die neue Schweinegrippe“, so der ehemalige Berater. Laut Cummings sagte der Premier: „Ich werde (den medizinischen Chefberater, Anm.) Chris Whitty dazu bringen, mir das Coronavirus live im Fernsehen zu injizieren, damit jeder merkt, dass es nichts ist, wovor man Angst haben muss.“

Erst Ende Februar 2020 sei erkannt worden, dass die vorbereiteten Krisenpläne „hohl“ seien. Die Regierung habe zu spät zu Homeoffice-Arbeit aufgerufen sowie Pubs und Sportstätten zu lange offen gelassen. Cummings entschuldigte sich bei den Angehörigen der CoV-Toten.

Zwischen CoV, Bombardierungen und einem Hunde-Artikel

Noch in den ersten beiden März-Wochen gelang es der Regierung laut Cummings nicht, all ihre Kapazitäten auf die Bekämpfung der Pandemie zu lenken. So sei am 12. März plötzlich der Wunsch der USA im Raum gestanden, dass sich Großbritannien an „Bombardierungen im Nahen Osten“ beteilige. Das habe die Gespräche über das Coronavirus und einen möglichen Lockdown „völlig aus der Spur gebracht“, so Cummings.

Zugleich sei die Freundin des Premierministers, Carrie Symonds, „komplett übergeschnappt“. Anlass dafür sei ein Artikel in der „Times“ gewesen, der sich mit dem Hund des Paares beschäftigte. Symonds habe darauf bestanden, dass sich die Presseabteilung des Premierministers darum kümmere.

„Ein Teil des Gebäudes sprach über die Bombardierung des Irak, ein Teil sprach über Kontaktbeschränkungen, und die Freundin des Premierministers drehte völlig durch wegen etwas Trivialem“, so der ehemalige Regierungsberater. Am 14. März 2020 habe man Johnson dann gesagt, er müsse einen Lockdown durchsetzen. Die Regierung habe dafür jedoch keinen Plan gehabt.

Johnson und der Bürgermeister aus „Der weiße Hai“

Johnson wehrte sich laut Cummings auch gegen striktere Einreiseregeln. „Grundsätzlich gab es keine richtige Grenzpolitik, weil der Premierminister nie eine richtige Grenzpolitik wollte“, sagte er. Andere Berater und er hätten Johnson wiederholt aufgefordert, die strikte Grenzpolitik von Taiwan und Singapur nachzuahmen. Denn es untergrabe die Botschaft an die Briten, zu Hause zu bleiben, wenn gleichzeitig Menschen aus Risikogebieten ins Land reisen dürften.

Laut Darstellung von Cummings beschwerte sich Johnson daraufhin, der Lockdown in Großbritannien sei ein schrecklicher Fehler gewesen. Bei einer ernsthaften Grenzpolitik werde die Tourismusbranche zerstört. Johnson habe sich mit dem Bürgermeister aus dem Film „Der weiße Hai“ verglichen, der aus Sorge um den Tourismus die Strände nicht geschlossen habe.

Dass sich „die Leichen zu Tausenden auftürmen“

Wegen der Weigerung des Premiers sei der zweite Lockdown im Herbst auch um Wochen verzögert worden, sagte Cummings. Er habe Mitte September 2020 gemeinsam mit wissenschaftlichen Beratern bei Johnson mit Nachdruck für einen mindestens zweiwöchigen Lockdown geworben. Doch der Premier habe nicht gehandelt. Erst Ende Oktober verhängte die konservative Regierung neue Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen.

Auch nach dem Entschluss zu neuen Beschränkungen im Herbst habe Johnson noch gegen Schließungen des öffentlichen Lebens gewettert. Medienberichten zufolge sagte Johnson damals, lieber nehme er in Kauf, dass sich „die Leichen zu Tausenden auftürmen“. Cummings bestätigte die Aussage, die der Premier wiederholt dementiert hat.