„Pride Month“

Als Homosexualität „krank war“

Millionen demonstrieren im „Pride Month“ Juni für die Rechte der LGBTQ+-Community. Die Bewegung geht auf Proteste im Jahr 1969 in New York zurück: Lesben, Schwule und Transpersonen wehrten sich gegen eine Razzia. Der Widerstand gilt als Geburt der Lesben- und Schwulenbewegung – und ist ein Meilenstein im Kampf um Gleichstellung: Homosexuelle galten in den 60er Jahren als „abnormal“ und „geisteskrank“.

Magora Kennedy bezeichnet sich selbst als die „schwulste Uroma“ der LGBTQ+-Community. Die amerikanische Aktivistin und Pastorin kämpft seit mehr als fünf Jahrzehnten für soziale Gerechtigkeit – und ist eine Pionierin der Bürgerrechtsbewegung, der Frauenbewegung und der Bewegung für LGBTQ+-Gleichberechtigung. Kennedy war mittendrin in den Stonewall-Unruhen. „Nach all den Jahren dachte ich: Es ist so weit, endlich kämpfen wir unseren eigenen Kampf.“

Diskriminierung, Scham und Isolation prägten das Leben von vielen Lesben, Schwulen und Transpersonen in den USA der frühen 60er Jahre. Von der Kirche dämonisiert und vom Staat kriminalisiert, lebten viele Homosexuelle ein Leben im Verborgenen. Die Angst, vom Arbeitgeber hinausgeworfen und von der Familie verstoßen zu werden, war allgegenwärtig. Wer homosexuell war, war stigmatisiert. Nicht selten gingen Lesben und Schwule „Scheinehen“ ein, um ihre Sexualität zu verstecken.

Kennedy wurde 1938 in Saratoga Springs in New York geboren. Sie wusste schon früh, dass sie lesbisch ist, erzählt Kennedy im Interview mit ORF.at. Sie war 14 Jahre alt, als ihre Mutter davon erfuhr: „Sie war sehr aufgebracht, für sie war das nicht normal.“

Fatale Diagnose

Die Meinung, Homosexualität sei eine Krankheit, war in den USA zu dem Zeitpunkt nicht nur weit verbreitet, sondern auch institutionalisiert. 1952 veröffentlichte die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APA) ihren Index für psychische Erkrankungen (DSM), der eine wichtige Rolle in der Diagnostik spielte. Unter dem Abschnitt „Sexuelle Abweichungen“ wurde Homosexualität als „psychische Störung“ eingestuft.

Um vermeintlich „geheilt“ zu werden, wurden viele Lesben und Schwule gezwungen, sich pseudowissenschaftlichen Methoden zu unterziehen. Als klassische Behandlungsmethode galt die Gesprächstherapie, aber es kamen auch Elektroschocks und Lobotomien zum Einsatz – Eingriffe, bei denen ein eispickelähnliches Werkzeug über das Auge in das Gehirn des Patienten eingeführt wird, um Nervengewebe zu zerstören. Betroffene berichteten von traumatischen Erfahrungen in psychiatrischen Anstalten und schweren körperlichen Folgen wie Erinnerungslücken als Folge von Lobotomien.

Fotostrecke mit 5 Bildern

Magora Kennedy als Gast in der David Susskind Show um 1970
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Magora Kennedy als Gast in der David Susskind Show um 1970
Demonstration von Homosexuellen-Aktivisten
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Die Aktivistin und Fotografin Kay Lahusen verstarb im Mai dieses Jahres
Aktivistin und Pastorin Magora Kennedy
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Die Aktivistin und Pastorin Kennedy lebt heute in der Bronx, New York
Buchcover vom Statistischen und Diagnostischen Leitfaden psychischer Störungen (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft und Aktivistin Barbara Gittings
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Links: : Die 2. Auflage vom Statistischen und Diagnostischen Leitfaden psychischer Störungen (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft. Rechts: Die Aktivistin Barbara Gittings, Ehefrau von Kay Lahusen
Aktivistin und Pastorin Magora Kennedy
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Die amerikanische Aktivistin und Pastorin Magora Kennedy

Um „geheilt“ zu werden, stellte Magora Kennedys Mutter sie damals vor die Wahl: Heirat oder Psychiatrie. „Also habe ich mit 14 Jahren geheiratet“, erzählt Kennedy, „was in dem Alter, in New York, komplett illegal war. Von da an verspürte ich eine große Wut.“

Strenge Verfolgung in Österreich

Auch in Österreich war die Lage für Homosexuelle alles andere als gut: In den frühen 60er Jahren drohte homosexuellen Männern und Frauen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Hannes Sulzenbacher, Koleiter von QWien – Zentrum für queere Geschichte, erzählt im Interview, dass Lesben und Schwule ständig unter dem Damoklesschwert einer Verurteilung leben mussten: „Es ging nur darum, die eigene Sexualität um jeden Preis vor allen zu verstecken.“

Der Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs, der Homosexualität unter Strafe gestellt hat, war seit der Monarchie unverändert in Kraft. Dabei sei das österreichische Sexualstrafrecht im europäischen Vergleich „wahnwitzig streng“ gewesen, sagt der Historiker Andreas Brunner von QWien: „Österreich hatte mit Abstand die höchste Verfolgungsintensität.“

Frauen ohne Sexualität

Auch lesbische Liebe war verboten, allerdings wurden Frauen viel seltener – und milder – bestraft. Das liege vor allem daran, dass Frauen damals generell jegliche Sexualität abgesprochen wurde, so Sulzenbacher: „Die männliche Homosexualität war der größere Skandal, weil sie das Patriarchat direkt bedroht hat.“

Mit der „Kleinen Strafrechtsreform“ unter Bruno Kreisky wurde 1971 – vor genau 50 Jahren – der Paragraf 129 abgeschafft. Durch die Entkriminalisierung änderte sich erst mal „alles und nix“, so Sulzenbacher, „weil die ganze gesellschaftliche Ächtung, die Drohung, von der Familie verstoßen zu werden, vom Vater oder der Mutter verprügelt zu werden, vom Arbeitgeber entlassen zu werden“, aufrecht blieb. Ein „erstes Aufatmen“ war erst in den 1990er Jahren möglich.

Späte Entschuldigung im Namen der Justiz

Erst diese Woche entschuldigte sich, stellvertretend für die Justiz, Justizministerin Alma Zadic (Grüne) für die strafrechtliche Verfolgung von homosexuellen Menschen in Österreich: „Ich möchte mein tief empfundenes Bedauern für das Leid und das Unrecht, das Ihnen widerfahren ist, ausdrücken“, sagte sie. Anlässlich des Pride Month kündigte Zadic auch die Schaffung einer Gedenkmöglichkeit an.

Universum History: Die Regenbogen-Revolution – Der lange Weg in die Freiheit

Im Dokumentarfilm „Die Regenbogen-Revolution – Der Weg in die Freiheit“ erzählen Ikonen der US-amerikanischen Schwulen- und Lesbenbewegung wie Frank Kameny, Barbara Gittings und Magora Kennedy von ihrem beispiellosen Kampf um Gleichberechtigung und Freiheit. Anhand von Augenzeugenberichten und noch nie gezeigtem Archivmaterial beleuchtet der Film den spektakulären Weg. Auch ehemalige Verbündete und Gegner innerhalb der US-Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft kommen zu Wort. Durch Hartnäckigkeit, Genialität und Einfallsreichtum gelang den leidenschaftlichen Aktivistinnen und Aktivisten schließlich ein entscheidender Sieg in der modernen Bewegung für die Gleichberechtigung homosexueller Menschen.

Weg zur Gleichstellung

In den USA wiederum hatte eine aufsehenerregende Kampagne, angeführt von den Pionierinnen und Pionieren der amerikanischen Lesben- und Schwulenbewegung Barbara Gittings, Kay Lahusens und Frank Kamenys, zu der Entscheidung der APA geführt, Homosexualität 1973 aus ihrem Index der psychischen Krankheiten zu streichen. „Ich habe mir eine Flasche Champagner gekauft und beschlossen, es ist Zeit zu feiern“, erzählt Kennedy. Für sie begann Anfang der 70er Jahre eine neue Ära. Sie war geschieden und lebte allein mit ihren fünf Söhnen. Bis heute lebt Kennedy in der Bronx in New York.

Bis 1977 führte auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität auf ihrer offiziellen Liste von Krankheiten, der International Classification of Diseases (ICD), 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität aus ihrer Krankheitsliste. Sulzenbacher war gerade mit Freunden in der Rosa Lila Villa, als er davon erfuhr: „Jemand ist reingekommen und hat gesagt, wir sind endlich nicht mehr krank.“

Kennedy sagt: „Wir haben einen langen Weg hinter uns, aber auch noch vor uns.“ Ihre Botschaft für die jüngeren Generationen: „Steht zu euch selbst, liebt euch so, wie ihr seid, und kämpft weiter, bis es überall auf der Welt Gleichberechtigung gibt.“