Außenansicht der Jugendstrafanstalt in Gerasdorf am Steinfeld
APA/Robert Jaeger
Reformbedarf

Haft statt Psychiatrie

Nach jahrelangen Reformforderungen haben Justizministerin Alma Zadic (Grüne) und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) vergangene Woche den Entwurf für die Änderung des Maßnahmenvollzugs vorgelegt. Zwei führende Expertinnen aus der Strafrechtswissenschaft und der forensischen Psychiatrie kritisieren im Interview mit ORF.at: Die Reform geht zu wenig weit. Doch die Kritikpunkte unterscheiden sich.

Der österreichische Maßnahmenvollzug wird seit Jahren kritisiert, lässt diese spezielle Form von Justizanstalt doch zu, dass psychisch kranke Rechtsbrecher zeitlich unbegrenzt weggesperrt werden. Mit dem neuen Reformentwurf soll dem stark steigenden Trend an Unterbringungen nach dieser Regelung nun entgegengewirkt werden. In einem Gespräch mit dem ORF erklärt Zadic die geplanten Änderungen für Jugendliche im Maßnahmenvollzug: „Jugendliche und Erwachsene dürfen nicht mehr gleich behandelt werden.“

So können Jugendliche künftig erst nach schweren Kapitalverbrechen eingewiesen werden. Ebenso sollen die speziellen Justizanstalten in therapeutische Zentren umgewandelt und die psychiatrische Behandlung ausgebaut werden. Für die Strafrechtsprofessorin Katharina Beclin und die Primarärztin für forensische Psychiatrie Adelheid Kastner fehlen in diesem Reformentwurf jedoch wichtige Punkte wie die gezielte Unterscheidung der Tätergruppen oder eine entsprechende Übergangsregelung für Personen, die nach der künftigen Rechtslage nicht in den Maßnahmenvollzug gehören.

Fehlende Standards für Gutachten

Bei aller Kritik ist für Beclin die Anhebung der Schwelle für den Maßnahmenvollzug ein „wichtiger Schritt in die richtige Richtung“. Laut Entwurf können psychisch kranke Erwachsene künftig erst bei einer Straftat, die mit mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, im Maßnahmenvollzug untergebracht werden. Damit sei man einer langjährigen Forderung nachgekommen, da die bisherige Schwelle mit mindestens einem Jahr angedrohter Strafe „viel zu niedrig“ gewesen sei. Schade sei es laut Beclin, dass die bisherige Grenze von mindestens einem Jahr bei besonderer Gefährlichkeit des Täters erhalten bleibt.

Für die psychiatrische Begutachtung, die für die Beurteilung der Gefährlichkeit durch das Gericht maßgeblich ist, würden einheitliche Standards fehlen, wodurch auch „weiterhin Einweisungen aufgrund problematischer Gutachten“ erfolgen könnten. Ebenso vermisst Beclin eine Übergangsregelung für all jene Untergebrachten, die nach dem neuen Entwurf nicht die Einweisungsvoraussetzungen erfüllen. „Da muss man sich eine möglichst kurze Übergangsfrist überlegen und diese Menschen dann aus dem Maßnahmenvollzug entlassen.“

Erhöhung der Schwelle „gefährlich“

Kastner steht der Anhebung der Schwelle bei zurechnungsunfähigen Rechtsbrechern hingegen kritisch gegenüber. Für sie steht fest: „In der Maßnahme sitzen zwei Gruppen, die unterschiedlicher nicht sein können.“ Nicht zurechnungsfähige Rechtsbrecher seien zumeist schwerwiegend psychisch krank und werden daher als schuldunfähig eingestuft. „Hier halte ich eine Erhöhung der Schwelle für gefährlich“, so die leitende Primarärztin der forensischen Psychiatrie am Kepler Universitätsklinikum Linz.

Künftig werde damit nicht schon bei der Androhung einer Tat eingegriffen, sondern die Vollendung eines dramatischen Delikts in Kauf genommen. Es brauche einen Ausbau an kompetenten, personell nach den geltenden Behandlungsstandards ausgestatteten psychiatrischen Behandlungsplätzen, um psychisch kranken Personen eine effiziente Behandlung zu ermöglichen, noch bevor sie eine Straftat begehen.

Gerichte weisen heute schneller ein

Im Gegensatz dazu sei für Kastner die Erhöhung der Hürde für zurechnungsfähige Rechtsbrecher aber positiv zu bewerten, da diese Personen zunehmend aufgrund von Bagatelldelikten eingewiesen werden. „Bei den Zurechnungsfähigen sehe ich aus meiner gutachterlichen Praxis, dass in den vergangenen Jahren viel schneller von Gerichten die Frage gestellt wird, ob jemand als höhergradig geistig abnormer Rechtsbrecher eingewiesen gehört“, was auch auf ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft zurückgeführt werden könne.

Die neue Ausnahmeregelung, dass ein psychisch kranker Täter nur noch bei besonderer Gefährlichkeit bereits bei Delikten, die mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind, in die Maßnahme eingewiesen werden kann, wirft für Kastner unbeantwortete Fragen auf. Dadurch werde nämlich keine Änderung zur bisherigen Praxis herbeigeführt, da auch bisher eine Gefährlichkeitsprüfung durch das Gericht für eine Einweisung in den Maßnahmenvollzug notwendig war.

Fehlende Gutachter für Jugendliche

Der aktuelle Entwurf sieht besonders für Jugendliche und junge Erwachsene im Maßnahmenvollzug einige Veränderungen vor. So sollen Jugendliche künftig halbjährlich ausschließlich von Kinder- und Jugendpsychiatern begutachtet werden, die vorzugsweise auch in psychiatrischer Kriminalprognostik ausgebildet sind. Derzeit gibt es in Österreich allerdings kaum Kinder- und Jugendpsychiater, die diese Voraussetzungen erfüllen. „Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein anerkanntes Mangelfach“, so Kastner, wodurch sich in der Praxis große Probleme ergeben würden, sollte der Entwurf in dieser Form umgesetzt werden.

Die an der Universität Wien tätige Strafrechtsprofessorin Beclin begrüßt die verpflichtende Begutachtung jugendlicher Rechtsbrecher durch Kinder- und Jugendpsychiater, fordert das aber auch für junge Erwachsene, die zwischen 18 und 21 Jahre alt sind und aufgrund ihres geistigen Entwicklungsstandes eher den Jugendlichen zugeordnet werden. Insgesamt sieht Beclin bei den Reformplänen in Bezug auf Jugendliche noch mehr Handlungsbedarf: „Es ist eine Verbesserung, aber nicht wirklich das, was Experten für Jugendliche fordern.“

Nach 15 Jahren „das Leben gelaufen“

Die Arbeitsgruppe Jugend im Recht, die von Beclin koordiniert wird, lehnt in ihrem Forderungskatalog jeglichen Maßnahmenvollzug für Jugendliche ab. Im Reformentwurf wird die Dauer des Maßnahmenvollzugs bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf maximal 15 Jahre beschränkt, was für Beclin noch immer viel zu hoch sei. „Das Problem ist, dass diese Jugendlichen sich in einer wichtigen Entwicklungssituation befinden. Wenn man mit 15 oder 17 Jahren in den Maßnahmenvollzug kommt und dort zehn oder 15 Jahre bleiben muss, dann ist das Leben gelaufen.“

16-Jährige im Maßnahmenvollzug

Fälle von Maßnahmenvollzug sind komplex – und belastend für alle Beteiligten. So auch der einer 16-jährigen Oberösterreicherin.

Die seit 17 Jahren als forensische Gutachterin tätige Kastner berichtet allerdings, dass in der Praxis zurechnungsfähige Jugendliche nur äußerst selten in den Maßnahmenvollzug eingewiesen werden. Dieser Bereich werde mit großer Zurückhaltung behandelt und komme meist nur bei Tötungsdelikten infrage. „Man schickt als Gutachter nicht leichtfertig einen 16-Jährigen in eine unbegrenzte Freiheitsstrafe, die im Gefängnis vollzogen wird.“