AHS-Schüler am Gang
ORF.at/Wolfgang Rieder
Zurück in der Schule

„Das Zeugnis ist zweitrangig“

Nach den Volksschulen konnten vor drei Wochen endlich auch die Mittelschulen und AHS das Distance-Learning – erst im Lockdown, dann im Schichtbetrieb – beenden. ORF.at hat mit Schulleiterinnen und einem Schulleiter darüber gesprochen, welche Folgen der monatelange Ausnahmezustand – auch für das Zeugnis – hat und was für die Kinder und Jugendlichen jetzt wichtig ist.

Das Leben ist in die Schulen zurückgekehrt: Vormittags wieder durch das Schulhaus zu gehen und durch die offenen Türen der Klassenzimmer „konzentriertes Lehren und Lernen da und spielerisches, praktisches Arbeiten dort“ zu sehen sei ein schöner Anblick, sagt Ilse Larl, Schulleiterin eines Innsbrucker Gymnasiums.

Der neue, aber doch vertraute Rhythmus tue den Kindern und Jugendlichen gut. Das soziale Miteinander habe den einen aber mehr gefehlt als den anderen: „Auf einer Skala von eins bis zehn beantworten die Schülerinnen und Schüler diese Frage mit einer breiten Streuung von zwei bis acht.“

Stimmung im Schichtbetrieb „sehr gedämpft“

Während des Schichtbetriebs sei die Stimmung noch „sehr gedämpft“ gewesen, das habe sich in den letzten drei Wochen aber stark verbessert, erzählt Andreas Gruber, Schulleiter einer Mittelschule in Wien. „Im Schichtbetrieb waren nur die halben Klassen da, und jeder hat gespürt, dass es noch immer eine Ausnahmesituation ist. Jetzt spüren die Kinder, dass alles wieder normal sein kann.“

Manche hätten es zwar auch genossen, zu Hause zu sein und ganz in Ruhe zu lernen. Doch dem Großteil seiner Schülerinnen und Schüler habe das soziale Miteinander sehr gefehlt. „In Gemeinschaft lernt man besser und man lernt miteinander und voneinander. Das digitale Lernen kann unterstützen, aber es kann das Zusammensein nicht ersetzen. Und die Kinder lernen ja nicht nur miteinander, sie essen und spielen auch gemeinsam.“

Schüler vor einer Schule am 17. Mai 2021 in Wien
APA/Hans Punz
Am 17. Mai startete der Vollbetrieb für alle Klassen an Gymnasien und Mittelschulen

Studie: Soziale Dimension motiviert

Dass die Schule mehr als ein Ort der Wissensvermittlung ist, hat sich durch die Monate des Distance-Learning einmal mehr bestätigt. Wie wichtig die soziale Dimension beim Lernen ist, zeigte gerade erst eine internationale Studie, an der auch 19.000 Schülerinnen und Schüler aus Österreich teilnahmen. Das Gefühl der Verbundenheit sei im Lockdown besonders hilfreich gewesen. Aufgaben, die auch eine soziale Dimension haben, würden motivieren – mehr dazu in Science.ORF.at.

„Einige waren überfordert“

„Die Stimmung ist sehr gut“, sagt Ingrid Weltler-Müller, Schulleiterin an einem Gymnasium in Oberschützen im Burgenland. „Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler ist sehr froh über den Präsenzunterricht. Nur ganz wenigen war die Ruhe zu Hause lieber.“

Mit dem selbst organisierten Lernen hätten sich manche leichter getan und manche schwerer. Und auch ob und wie sehr Eltern ihre Kinder unterstützen konnten, machte einen Unterschied. „Einige hatten keine Unterstützung und waren mit der Situation überfordert.“ Vor allem bei jüngeren Kindern der Unterstufe zeigen sich nach der langen Zeit ohne täglichen Präsenzunterricht nun Unterschiede im Lernstand.

„Mut zur Lücke“ im Stoff

Große Unterschiede im Wissensstand ortet auch Schulleiterin Larl aus Innsbruck. Es sei erstaunlich, wie sehr manche Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht zurückhaltender seien, sich im Distance-Learning durch Produktivität und Kreativität hervorgetan hätten. Andere hätten es wiederum schwer gehabt, ihr Pensum zu erfüllen.

Es zeige sich nun doch eine „breite Kluft, die es zu schließen gilt“. Vom Wiederholen und Festigen des Lehrstoffs würden jedenfalls auch gute Schülerinnen und Schüler profitieren. Zudem bedürfe es in diesem besonderen Jahr – „sofern dies keine gravierenden Folgen hat“ – auch Mut zur Lücke im Stoff.

Dem stimmt auch Schulleiter Gruber aus Wien zu: „Sicher muss Stoff wiederholt werden – aber mit Abstrichen. Wir müssen uns auf das Notwendigste beschränken, und gleichzeitig darauf schauen, dass sich der Übertritt in die nächste Schulstufe ausgeht.“

Volksschüler auf dem Schulweg
Reuters/Leonhard Foeger
Statt nur vom Badezimmer zum Schreibtisch führt der tägliche Schulweg nun wieder ins Freie

Das Zeugnis naht

Doch wie wirken sich diese Unterschiede im Wissensstand auf das anstehende Zeugnis aus? Sind Kinder, die zu Hause weniger Unterstützung beim Distance-Learning hatten, im Nachteil? Aktuellen Studien zufolge ist zudem die psychische Belastung durch die Pandemie gerade auch bei Kindern und Jugendlichen groß. Wie sehr können und sollen Pädagoginnen und Pädagogen diese Faktoren bei der Notenvergabe berücksichtigen?

„So weit es geht, nehmen wir Rücksicht“, sagt Weltler-Müller. Jeder Schüler und jede Schülerin bekomme die Möglichkeit, alles nachzubringen und sich um eine bessere Note zu bemühen. Die Anzahl von Schularbeiten und Tests sei zudem reduziert und das Aufsteigen mit einem Nicht Genügend vom Ministerium gewährleistet worden. Es werde mit Maß und Ziel vorgegangen, dennoch müssten „die alten Verhaltensweisen des pünktlichen Arbeitens, Inhalte pünktlich vorbereiten und Leistung erbringen“ wieder geübt und eingefordert werden.

„Beurteilungen müssen milder sein“

„Die Beurteilungen müssen milder sein“, sagt Gruber. „Wir sind seit eineinhalb Jahren im Ausnahmezustand, und alle Faktoren müssen miteinberechnet werden.“ Bei einzelnen Kindern werde „auf alle Fälle“ auch die psychische Belastung berücksichtigt. „Wir haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die im Heim leben, und Kinder in Wohngemeinschaften und Krisenzentren. Für die war das Distance-Learning meist noch schwieriger als für andere.“

„Die Lehrerinnen und Lehrer an unserer Schule kennen die Kinder und ihre Familiensituationen“, so der Schulleiter. „Wir bauen stark auf Beziehungsarbeit und schauen, wie wir die Kinder stützen können.“ Unterstützung erhalten die Lehrenden von den Beratungslehrern und Schulpsychologinnen. Das Wichtigste sei nun, „dass wir das kollektive Trauma gemeinsam aufarbeiten“. Das Zeugnis sei – mit Ausnahme der Abschlussklassen – zweitrangig.

„Mit Herz und Hirn beurteilen“

„Es geht immer um Angemessenheit, und in diesem speziellen Schuljahr wird es angemessene Jahresnoten geben“, sagt Larl. Verschenkt werden Noten nicht, aber es werde „mit Herz und Hirn beurteilt, und in manchen Fällen stimmt das Wissen um eine besonders belastende Situation natürlich milder“.

Es gelte, „ein Gesamtbild von der erbrachten Leistung zu bekommen, die den besonderen Umständen und dem individuellen Schüler und der Schülerin gerecht werden“. Im Zweifelsfall liege immer die bessere Note nahe. „Wenn aber das Weiterkommen in die nächste Schulstufe unrealistisch ist, weil zu große Lücken vorherrschen, ist das Zusammendrücken beider Augen nicht hilfreich.“

Kinder im Freibad
APA/Jakob Gruber
In vier bzw. fünf Wochen, je nach Bundesland, beginnen die Sommerferien

„Wirkliche Ferien“ nach einem fordernden Jahr

In den nun anstehenden Sommerferien brauchen alle Beteiligten zuerst einmal Ruhe, sagt Weltler-Müller. Denn das Jahr sei sehr fordernd gewesen. Für September wünscht sich die Schulleiterin, dass alle Schülerinnen und Schüler geimpft in die Schule kommen können. „Damit wir das Thema Pandemie hinter uns lassen können.“

Auch Larl hofft auf eine rasche Umsetzung eines Impfprogrammes an den Schulen und eine damit einhergehende Normalisierung des Schulalltags. Was die Kinder und Jugendlichen nach diesem schwierigen Jahr brauchen, sei eine „unbeschwerte Sommerpause mit viel Bewegung im Freien und Spiel und Spaß unter Freunden“. Außerdem: „einen Computer, der offline bleibt“.

Den Computer ausschalten, das Handy – zumindest zeitweise – weglegen, und stattdessen Freundinnen und Freunde treffen und ins Schwimmbad gehen, dafür spricht sich auch Gruber aus: „Die Kinder brauchen Freizeit und wirkliche Ferien.“ Bevor das nächste Schuljahr beginnt – „hoffentlich ohne Lockdowns und mit so vielen Präsenztagen wie möglich“.