Verfassungsgerichtshof
ORF.at/Christian Öser
Fall Brandstetter

Diskretion im Höchstgericht

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) gerät selten in die Schlagzeilen. Wenn das der Fall ist, dann betrifft es zumeist die Entscheidungen des Gremiums. In den vergangenen Tagen waren es aber private Chats, die dem Höchstgericht ungewollte Präsenz bescherten. Darin äußerte sich ein VfGH-Mitglied auch über Erkenntnisse des Gremiums – dieses legt aber für gewöhnlich sehr viel Wert auf Diskretion.

„Die Beratung und Abstimmung sind nicht öffentlich“: So steht es im Verfassungsgerichtshofgesetz (VfGG). Chats zwischen dem suspendierten Sektionschef im Justizministerium, Christian Pilnacek, und Verfassungsrichter Wolfgang Brandstetter legen aber nahe, dass das Abstimmungsverhalten des VfGH-Mitglieds in zwei Fällen offenlegt wurden: Ende 2020 hob das Höchstgericht das Kopftuchverbot in der Volksschule auf und kippte das Verbot von Beihilfe zum Suizid. Brandstetter hielt von den Entscheidungen – laut vorliegenden Chats – offensichtlich nichts.

Der ehemalige Justizminister und Strafverteidiger zog am Donnerstag selbst die Reißleine. Mit Ende Juni legt er sein Amt als VfGH-Mitglied zurück. Damit wolle er einen „persönlichen Beitrag“ leisten, damit der VfGH „besser aus der tagespolitischen Diskussion herausgehalten werden kann“. VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter will einen „Schlussstrich“ unter eine „unerfreuliche Entwicklung“ ziehen und in die Zukunft zu schauen.

Brandstetter: „Verdacht durch Chats entkräftet“

Der scheidende Verfassungsrichter Wolfgang Brandstetter beanstandet, dass in der Donnerstag-ZIB fälschlicherweise behauptet wurde, er habe rassistische und sexistische Aussagen getätigt – wofür sich die verantwortliche Redakteurin Kramar-Schmid bei ihm auch per SMS entschuldigt habe. Sämtliche für das Verfahren gegen ihn und Sektionsleiter Christian Pilnacek relevanten Nachrichten seien entlastend. Die Veröffentlichung des Privatchats mit seinem Freund Pilnacek sei auf illegale Weise erfolgt.

Schweigen als Garant für Unabhängigkeit

Gesetzlich ist klar geregelt: Ein Mitglied oder ein Ersatzmitglied des VfGH kann seines Amtes unter anderem deshalb enthoben werden, wenn es sich „durch sein Verhalten im Amt oder außerhalb des Amtes der Achtung und des Vertrauens, die sein Amt erfordert, unwürdig gezeigt oder die Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit gröblich verletzt hat“. Sehr selten dringen Interna nach außen. Unter Fachleuten gilt das Schweigen der Richterinnen und Richter als Garant für die Unabhängigkeit des Höchstgerichts. Interne Debatten gibt es, aber nach außen spreche man durch das Erkenntnis.

VfGH Beratungszimmer Freyung 2018
VfGH/Achim Bieniek
Beratungen des VfGH finden nicht öffentlich statt

Im aktuellen Fall Brandstetter stellt sich auch die Frage, ob und, wenn ja, was genau an die Oberfläche drang. Bekannt sind etwa Meinungen zum Erkenntnis der Sterbehilfe. Doch schon im September 2020 schrieb Brandstetter, dass er in der Beratung angeboten habe, ein „Papier“ über die Auswirkungen, „die die Aufhebung des 78 in Bezug auf andere strafrechtliche Regelungen hätte“, zu erarbeiten. Das war einen Tag nach der öffentlichen Verhandlung zur Sterbehilfe. Einen Monat später ging es um ein „Papier zum Thema Sterbehilfe“, das er Pilnacek, der für die Regierung an der Verhandlung teilnahm, schicken wolle. Der VfGH-Richter erhielt eine private E-Mail-Adresse.

Wochen später wollte Brandstetter mit Pilnacek über „Material Sterbehilfe“ telefonieren, und in der Dezember-Session, wenige Tage vor der Veröffentlichung des Erkenntnisses zur Sterbehilfe, wäre zu einer „vfgh Entscheidung einiges zu sagen“, so der VfGH-Richter. Mitte Dezember verkündete der VfGH, dass Paragraf 78 des Strafgesetzbuches zum Teil verfassungswidrig ist. Auf ORF.at-Nachfrage teilte Brandstetter mit, dass „ich mich mit Kollegen Pilnacek als Strafrechtsexperten auch über das schwierige Thema der Sterbehilfe sicher öfters ausgetauscht habe. Ich habe aber keine vertraulichen Papiere des VfGH an ihn weitergeleitet.“

Indiskretionen im VfGH

„Grundsätzlich ist alles, was die Willensbindung eines Richters oder einer Richterin anlangt, geheim zu halten“, sagt eine Person, die am Höchstgericht tätig war. Dass man hin und wieder über Themen, die in den VfGH-Sessionen behandelt werden, „abstrakt“ spricht, sei nicht auszuschließen. Dennoch, so hält der Insider fest: „Wenn etwas aus den Beratungen nach außen dringt, wenn das Beratungsgeheimnis gebrochen wird, ist das ein grober Verstoß gegen sämtliche Regeln des Höchstgerichts und ein gewichtiger Faktor für ein Verfahren zur Amtsenthebung.“

Auch ein weiterer Kenner der Materie bestätigt gegenüber ORF.at, dass der VfGH grundsätzlich eine „sehr abgeschlossene Gemeinschaft“ sei. Das Selbstverständnis des Kollegiums und des Einzelnen sei im Großen und Ganzen, dass das, was im Gerichtshof passiert, im Gerichtshof bleibt. In der Vergangenheit habe es jedoch durchaus Fälle von Indiskretionen gegeben, meistens „zwischen Entscheidung und Veröffentlichung der Entscheidung“, so der Verfassungsexperte.

VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter
ORF.at/Christian Öser
Präsident Grabenwarter nahm den Rücktritt von Brandstetter zur Kenntnis

Beide gehen davon aus, dass Brandstetter wegen seiner Chats über Erkenntnisse, die noch gar nicht publik waren, intern unter Druck geraten ist. Er sei noch gesichtswahrend ausgeschieden, so ein Insider. Die andere Person meint hingegen, dass Brandstetter mit dem Rücktritt dem Gerichtshof einen „großen Dienst“ erwiesen habe. „Der Schaden ist ja bereits angerichtet, und ein Verfahren hätte sich noch in die Länge ziehen können und wäre aufwendig. Die Disziplinarbehörde des VfGH ist der VfGH.“ Brandstetter selbst sagte am Donnerstag im „Kurier“, dass es intern keinen Druck gegeben habe.

„Verhaberung kontraproduktiv“

Die Mitglieder des Höchstgerichts üben eher eine zurückhaltende Rolle aus. Viele arbeiten zudem nicht hauptberuflich am VfGH, sondern üben die Funktion neben ihrer Zivilarbeit aus. Manche sind als Anwältinnen und Anwälte tätig, andere wiederum im akademischen Bereich. Doch, heißt es aus Fachkreisen, wenn man die Funktion eines VfGH-Mitglieds innehat, dann würde man sich ein wenig zurücknehmen. „Es gab immer welche, die kontaktfreudiger waren als die anderen. Aber eine Verhaberung mit der Politik ist für den Gerichtshof kontraproduktiv.“

Dass der VfGH als Kollegialorgan mit einer Stimme nach außen spricht, würde zeigen, dass der oder die Einzelne ein Teil des Ganzen sei, so ein ehemaliges Mitglied. Brandstetters Bestellung stand schon von Beginn an in der Kritik, da er quasi von der Regierungs- direkt an die Richterbank wechselte. Die Verfassung schreibt nur vor, dass Präsident und Vizepräsident des VfGH in den vergangenen fünf Jahren nicht Mitglied einer Regierung oder eines Parlaments gewesen sein dürfen. Für die zwölf „einfachen“ Richter gibt es keine Abkühlphase.

Debatten: Angestoßen von Mitgliedern

Der VfGH achtet zwar immer darauf, für politische Unabhängigkeit zu stehen. Doch den Anstoß zu Debatten darüber lieferten nicht zuletzt auch die eigenen Mitglieder. Neben der Bestellung des Ex-ÖVP-Ministers Brandstetter stand auch VfGH-Mitglied Michael Rami in der Kritik. Dieser verteidigte in seinem Brotberuf nämlich den früheren Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Zwar ist es laut Gesetz möglich, dass er seinen Anwaltsberuf weiterführen kann, doch die Opposition protestierte lautstark. Rami stellte 2019 klar, dass er keine Spitzenpolitiker und -politikerinnen mehr vertreten werde.

Drei Jahre zuvor war es VfGH-Richter Johannes Schnizer, der für eine heftige Debatte über den Bestellvorgang sorgte. Grund dafür waren seine Interviews zu der Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl 2016 durch den VfGH. Nicht nur, dass er öffentlich das Erkenntnis des Höchstgerichts verteidigte, was ein Fall für den Präsidenten ist. Er gab auch offen zu erkennen, wen er wählte. Die FPÖ forderte einen neuen Bestellmodus. Bis heute werden die Mitglieder und Ersatzmitglieder von der Regierung, dem Nationalrat und dem Bundesrat vorgeschlagen. Ernannt werden sie vom Bundespräsidenten.

Brandstetter war auf Vorschlag der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung zum Richter ernannt worden. So steht es nun auch der ÖVP-Grünen-Regierung zu, die Nachbesetzung vorzuschlagen. Zuletzt hatte es Monate gedauert, bis sich die Regierung auf den Nachfolger von Ersatzrichterin Lilian Hofmeister verständigt hatte. Sie war Ende 2020 altersbedingt ausgeschieden. Ende Mitte Mai 2021 wurde Michael Mayrhofer, Rechtsprofessor an der Uni Linz, angelobt. Er oder eines der anderen fünf Ersatzmitglieder springt ein, wenn einer bzw. eine der eigentlichen 14 Richter und Richterinnen verhindert ist – oder der Posten nicht nachbesetzt wurde.