Menschenmenge am Karlsplatz in Wien
ORF.at/Roland Winkler
Generation Dosenbier

Jugend fordert ihren Platz

Dass sich Jugendliche im öffentlichen Raum treffen, plaudern, trinken und feiern, ist an sich nichts Neues. Doch mit der Pandemie hat sich das Phänomen aus naheliegenden Gründen nicht nur besonders verstärkt, sondern ist auch in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Über die Bilder vom Wiener Donaukanal, aber auch jene der Konfrontation mit der Polizei auf dem Karlsplatz wird vieles verhandelt: der Umgang mit der Pandemie und die Situation der Jugend in den vergangenen Monaten – aber auch die Platzfrage im öffentlichen Raum.

Die Fotos vom Wiener Donaukanal galten vor einem Jahr als Symbol für den angeblich sorglosen Umgang mit dem Coronavirus. Umgekehrt symbolisierten sie – gerade in den vergangenen Wochen – aber auch den Drang der Jugend, das „normale“ Leben zurückhaben zu wollen, gerade jetzt, wo die Ansteckungsgefahr im Sinken begriffen ist. Und auch in Ermangelungen länger geöffneter gastronomischer Angebote bot sich das Bild einer „Generation Dosenbier“, die sich mit selbst mitgebrachten Getränken an öffentlichen Orten traf – sichtbarer als zuvor.

Am Samstag eskalierte dann die Situation auf dem Wiener Karlsplatz: Die Polizei schritt mit Helm und Schild ein und räumte den Platz. Die einen sprechen von einer Eskalation durch die Polizei, die eine friedliche, wenn auch nicht wirklich coronavirusregelkonforme Ansammlung auflöste und dabei auch Pfefferspray einsetzte. Umgekehrt musste sich ein Teil der Feiernden die Vorwürfe gefallen lassen, mit Dutzenden Flaschenwürfen und zumindest einer Leuchtrakete die Exekutivkräfte beschossen und gefährdet zu haben. Laut Polizei gab es acht verletzte Beamte.

Mehr als ein Jahr zurückgezogen

Mit dieser Eskalation kam die Frage der Jugendlichen und ihrem Platz im öffentlichen Raum auch politisch aufs Tapet. Immer wieder hatten in den vergangenen Monaten Jugendliche auch öffentlich artikuliert, in der Krise vergessen worden zu sein. Als die am wenigsten gefährdete Gruppe, am Coronavirus schwer zu erkranken, musste sie zurückstecken, um Ältere nicht zu gefährden. Mehr als ein Jahr lang gab es über weite Strecken keinen Präsenzunterricht für alle, nicht nur die Bildungsfrage, sondern auch die der Sozialkontakte blieb prekär.

Fotostrecke mit 10 Bildern

Menschenmenge am Karlsplatz in Wien
ORF.at/Roland Winkler
Der Karlsplatz, noch vor ein paar Jahren eher eine No-Go-Area, entwickelte sich zum Treffpunkt
Leerer Schanigartentisch am Karlsplatz in Wien
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Mit der frühen Sperrstunde der Gastronomie um 22.00 Uhr verschärfte sich zumeist danach die Problematik
Menschenmenge am Karlsplatz in Wien
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Geplaudert, getrunken und gefeiert wurde dicht an dicht
Menschenmenge am Karlsplatz in Wien
ORF.at/Roland Winkler
Das Bedürfnis nach Freiheit ist groß
Menschenmenge am Karlsplatz in Wien
ORF.at/Roland Winkler
Nicht immer war der Platz dicht bevölkert
Polizeiwagen verkündet Platzverbot im Resselpark
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Für einige Stunden war der Karlsplatz mit einem Platzverbot belegt
Menschenmenge am Karlsplatz in Wien
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Ruhige Atmosphäre einige Tage vor der Konfrontation auf dem Karlsplatz
Menschenmenge am Donaukanal in Wien
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Auch der Donaukanal ist ein beliebter Treffpunkt – Bilder von vielen Menschen sorgten schon im Vorjahr für Aufsehen
Menschenmenge am Donaukanal in Wien
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Der Donaukanal bietet auch Raum für Menschen, die ohne Gastronomie einander treffen wollen
Müll nach einer Party an der Pipeline in Bregenz
Facebook/Reini Boss
Gefeiert wird auch in den anderen Bundesländern: Müll nach einer Party an der Pipeline in Bregenz

Auch bei den älteren Jugendlichen stellten und stellen sich existenzielle Probleme: der Anstieg der Arbeitslosigkeit bei den im Berufsleben stehenden und der durchgehende Fernunterricht bei den studierenden, die noch dazu häufig ihre Einkünfte aus Nebenjobs, etwa in der Gastronomie, verloren. Dass einige Universitäten überlegen, auch im Herbst die Präsenzzeiten einzuschränken, sorgt teilweise für Kopfschütteln: Wieder seien es die Jungen, die als Letzte in Richtung Normalität entlassen werden. Und auch bei den Impfterminen müssen sich Junge am längsten gedulden.

Wichtige Phase für Jugendliche

Sie habe fest mit einer Gegenbewegung der Jugend gerechnet, sagte Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer-Rosinak im Gespräch mit ORF.at. Die Aneignung des öffentlichen Raums sei eine Form, in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Das sei auch eine wichtige Phase in der Entwicklung von Jugendlichen. Und jetzt, nach Monaten der Entbehrungen, sei auch der Druck größer, so die Psychologin.

Ähnlich sieht das Christoph Stoik, Professor an der FH Campus Wien und Sozialraumexperte am Departement Soziales: In öffentlichen Räumen „können sich Jugendliche außerhalb der Familie aufhalten. Hier können sie Kontakte knüpfen und pflegen.“ In gewisser Weise würden sie auch über „öffentliche Räume ihr eigenes selbstbestimmtes Leben“ entwickeln.

Größerer Verlust an Lebenszeit

Das Einschränken von Sozialkontakten trifft die Jungen weit härter, weil das Sozialleben in diesem Alter eine andere Rolle spielt und wichtigere Funktionen erfüllt als bei anderen. In der Phase der Jugend gebe es mit den Entwicklungsphasen viel stärkere Veränderungen als bei Älteren, so Ehmayer-Rosinak. In diesem Alter sei ein verlorenes Jahr in den Lockdowns eine „ganz andere Form von Verlust“ und eine „ganz andere Welt“.

Dass Jugendliche sich nun, bei sinkenden Inzidenzen und gleichzeitig wärmeren Temperaturen, an öffentlichen Orten treffen, ist wenig verwunderlich – auch angesichts geschlossener Gastronomie ab 22.00 Uhr und der Tatsache, dass ein Treffen draußen noch immer sicherer ist als in geschlossenen Räumen.

Egalitäre Räume

Die Wichtigkeit von Plätzen in Städten, die frei von Konsumzwang sind, sei immer schon klar gewesen, jetzt zeige sie sich aber viel deutlicher, so Ehmayer-Rosinak, die vor einigen Jahren auch am Masterplan für den Donaukanal mitgearbeitet hatte. Solche Freiräume seien auch egalitärere Zonen als etwa die Gastronomie.

Darauf weist auch Stoik hin: „Die Stadt ist (und war in der Vergangenheit) immer auch schon ein Ort der Vielfalt und der Widersprüche. In Städten zeigt sich auch Armut, die ja kein städtisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Menschen, die von Armut oder einfach nur von engen Wohnverhältnissen betroffen sind, brauchen konsumzwangfreie Räume – sie haben oft kein Wohnzimmer oder können es sich nicht leisten, kommerzielle Angebote zu nutzen.“

Kostbare Raumressourcen

Katharina Kirsch-Soriano, Leiterin der Stadtteilarbeit der Caritas der Erzdiözese Wien, verwies gegenüber ORF.at wiederum darauf, dass es vor allem demokratiepolitisch interessant sei, „wer zu öffentlichen Räumen Zugang hat, wer sie nutzen kann, wer sie mitgestalten kann“. Auch für Jugendliche, die oftmals über wenig „eigene“ Räume verfügen, biete er Möglichkeiten, sich Räume anzueignen, andere zu treffen, sich zu entwickeln. Gerade während der Lockdowns seien „Raumressourcen – zumindest temporär – nicht mehr oder nur sehr hochschwellig zugänglich“ gewesen. Das habe vor allem die getroffen, die eben nicht „Homeoffice und Homeschooling im Zweitwohnsitz im Haus am Land verbringen können“.

Ein urbanes Phänomen – nicht nur in Österreich

Dass sich Jugendliche jetzt vermehrt draußen und auf belebten Plätzen treffen, ist freilich kein spezifisch wienerisches Phänomen, auch in anderen Städten Österreichs suchen Jugendliche ihren Platz in der Stadt – und finden ihn, etwa in Graz im Stadtpark und in Linz an der Donaulände. Als Hauptproblem wird dort allerdings vor allem der zurückgelassene Müll beklagt. In anderen Ländern Europas ist es ähnlich: Massen an Jugendlichen, die feiern, sind in etlichen Städten zu beobachten – auch zu Konfrontationen mit der Polizei kommt es ab und zu.

„Geopferte Generation“?

Zahlreiche Studien belegten in den vergangene Wochen eine tiefe Unzufriedenheit und viele psychische Probleme bei Jugendlichen. Zuletzt hieß es von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): „Seit dem Beginn der Covid-19-Krise haben psychische Leiden vor allem bei jungen Menschen stark zugenommen.“ In einigen Ländern hätten sich Angststörungen und Depressionen sogar verdoppelt.

Der britische „Guardian“ interviewte Hunderte junge Menschen in vielen Ländern Europas – und das Stimmungsbild fiel ähnlich aus: „Unsere ganze Generation wurde einfach als ein Problem beiseite geschoben, mit dem man sich später befassen muss“, antwortete ein 17-Jähriger aus dem Norden Englands. Aus Deutschland schrieb ein 21-Jähriger: „Wir sind die unterste Priorität.“ Und in Frankreich sagte ein 21-Jähriger, er zähle sich zu „einer geopferten Generation“.

Und der Autor Paul Mason schreibt in einem „Guardian“-Kommentar, der „Corona-Schock“ habe „einer ganzen Generation verdeutlicht, dass niemand zu Hilfe eilen wird, wenn es ernst wird. Und dass, dank des demografischen Wandels, die Politik gegen sie arbeitet.“ Die Pandemie habe die Generation Z „radikalisiert“, schrieb Mason.

Jugend und Stadt als historisches Konfliktfeld

Ob man dieser These folgen will oder nicht: Die Geschichte von Jugend im öffentlichen Raum war auch immer schon eine, die von der Erwachsenenwelt durchaus konfliktreich gesehen wurde. In den 1950er Jahre wollte die Polizei in Wien dem „Halbstarkenunwesen“ begegnen, indem man den „Eckenstehern“ und „Stufensitzern“ mit der Straßenpolizeiordnung wegen „Verstellung des Gehsteiges“ Strafen androhte. Zwischen 1979 und 1981 versuchte die Burggarten-Bewegung mit Demonstrationen und Besetzungen die Wiese eben im Burggarten für junge Menschen zu erobern. Und als Mitte der 90er Jahre das Lokal Flex an den Donaukanal zog, gab es Aufregung und Minidemonstrationen von Anrainern.

Widersprüche als Teil der Stadt

Dass Wien im April ausgerechnet die Hotspots der Jugendlichen wie den Donaukanal, den Stephansplatz und den Karlsplatz mit einer Maskenpflicht belegte, erinnerte manche – zumindest entfernt – an solche Kulturkämpfe. Umgekehrt betonten Ehmayer-Rosinak und Stoik, dass sich in Wien sehr viel getan habe und es ja auch Bekenntnisse wie – teils auch schon umgesetzte – Konzepte für konsumzwangfreie Orte gibt.

Viele Menschen sitzen am Wiener Donaukanal
APA/Hans Punz
Es sind oft „die nicht ganz properen Orte“ wie der Donaukanal, die die Jugend anziehen, so Ehmayer-Rosinak

Und im Umgang mit Konflikten, etwa mit Anrainern, gebe es mit aufsuchender Jugendarbeit und sozialer Arbeit wie dem Fair-Play-Team gute Lösungsansätze. „Die Stadt lebt davon, dass sich viele Menschen treffen – da gibt es auch Widersprüche und Konflikte“, sagte Stoik: Doch die könne man auch als Zeichen für Kommunikation und Auseinandersetzung positiv bewerten.

Nicht nur in der eigenen „Blase“

Er weist auch auf eine neue Qualität der derzeitigen Ansammlungen hin: In den vergangene Wochen sei zu beobachten gewesen, dass sich Menschen aus unterschiedlichsten Milieus und sozialen Schichten nebeneinander aufgehalten haben. Solche „inklusiven Räume“ seien auch demokratiepolitisch wertvoll, so Stoik, weil Menschen im Normalfall über ihre Milieus hinaus nur sehr eingeschränkt kommunizieren.

Ehmayer-Rosinak bestätigte, dass auch bei Jugendlichen eine Durchmischung sonst selten ist und vor allem Bildungseinrichtungen trennend wirken, so würden sich Schülerinnen und Schüler aus Gymnasien eher an andern Orten treffen als jene in Mittelschulen.

Zentrale und dezentrale Orte

Dass die derzeitigen Hotspots eher zentrale Orte sind, ist ebenso wenig ein Zufall, wie dass es Orte sind, wo es vergleichsweise wenige Anrainer gibt. Jugendliche an die Peripherie zu verbannen, wäre, da sind Expertinnen und Experten einig, wiederum eine Abwertung, eine symbolische und tatsächliche Verdrängung der Jugend aus der Gesellschaft.

Aber natürlich gäbe es auch dezentrale Treffpunkte in anderen Bezirken, so Ehmayer-Rosinak. Diese würden aber unter dem Radar der Aufmerksamkeit liegen. Zentrale und dezentrale Räume hätten auch unterschiedliche Funktionen, sagte Stoik: „Jugendliche brauchen Räume, in denen sie sich auch zurückziehen können und möglichst selbstbestimmt aufhalten können. Es braucht aber eben auch öffentliche Räume, in denen sich viele unterschiedlichen Menschen begegnen können.“

Gekommen, um zu bleiben

Mit einer Verlängerung der Gastronomiesperrstunde und vor allem der Öffnung der Clubs und Discos (einmal mehr sind es die Freizeitangebote, die fast ausschließlich von Jungen genutzt werden, die am längsten pandemiebedingt geschlossen sind) wird das Treffen im öffentlichen Raum wohl ein bisschen an Dringlichkeit verlieren. Doch auch angesichts der finanziellen Beeinträchtigung der Jugendlichen durch die Pandemie und deren Bekämpfung werden konsumzwangfreie Ort kaum an Zulauf verlieren – das sieht man auch in anderen europäischen Städten.

Auch Ehmayer-Rosinak und Stoik sind sich sicher, dass diese ganz unabhängig von der Pandemie an Bedeutung gewinnen werden. Die jungen Generationen hätten ein neues und ausgeprägteres Verhältnis zur Präsenz in öffentlichen Räumen, sagte die Psychologin. Und das sei auch wichtig für die Zukunft von Städten. Und Stoik betonte, dass dringend darauf geachtet werden müsse, dass konsumzwangfreie Räume erhalten und auch neu geschaffen werden.