Frau verlässt Medizinzug
Reuters/Kozyrev Evgeny
Im Medizinzug

Russland kämpft gegen Impfskepsis

Mit dem weltweit ersten CoV-Impfstoff hat Russland im August vergangenen Jahres für viel Aufsehen gesorgt. „Sputnik V“ wurde schnell zum Exportschlager, inzwischen ist das Präparat in über 60 Ländern der Welt zugelassen. In Russland selbst allerdings geht die Impfkampagne nur schleppend voran. Impfskepsis und die mangelnde medizinische Versorgung in entlegenen Regionen sind Gründe dafür. Sie werden per Spezialzug mit Vakzin versorgt.

Im kleinen sibirischen Ort Polowina, genau auf halber Strecke der Transsibirischen Eisenbahn gelegen, ist die Eisenbahn die einzige Lebensader. Neben dem Bahnhof gibt es noch drei Kindergärten, vier Schulen und ein Kulturzentrum. Das örtliche Krankenhaus wurde vor Jahren im Rahmen einer Gesundheitsreform geschlossen, es steht nur noch als Ruine da. Für die rund 7.000 Einwohnerinnen und Einwohner ist die Bahn dadurch noch wichtiger geworden: vor allem wenn der Medizinzug der Russischen Eisenbahnen (RZD) Halt macht.

Auf einer Länge von zehn Waggons sind in dem rollenden Spital eine Zahnarztpraxis, eine Augenambulanz, eine Röntgenabteilung und ein Operationssaal untergebracht. Gerade für Menschen in abgelegenen Ortschaften ist der mehrmals im Jahr kursierende Zug ein wichtiges Angebot. „Wir haben bei uns im Ort zwar eine Ambulanz mit ein paar Rettungssanitätern“, erzählt die Pensionistin Valentina, die zu einer Routineuntersuchung gekommen ist. „Aber die können uns nur eine Überweisung ins nächste Spital schreiben, und das ist weit entfernt.“

Weit entfernt ist damit auch für viele die Möglichkeit einer Coronavirus-Impfung: Der Medizinzug dient in Pandemiezeiten daher als Impfstation auf Rädern. Einer der Waggons wurde kurzerhand zum Impfkabinett umfunktioniert. Vor allem ältere Menschen und Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten hätten großes Interesse an der CoV-Schutzimpfung, erzählt die Ärztin Tatjana Fryschkina: „Derzeit verwenden wir den russischen Impfstoff EpiVacCorona. Die erste Dosis verabreichen wir jetzt, die zweite in 14 Tagen. Das heißt, wir fahren in zwei Wochen mit diesem Zug dieselbe Strecke noch einmal ab.“

Zwei Drittel gegen Impfung

Rund 2.000 Impfdosen verabreichen Fryschkina und ihr Team auf einer Fahrt mit dem Medizinzug – in den dünn besiedelten Weiten Sibiriens ist das nicht wenig. Doch insgesamt läuft die Impfkampagne in Russland bei Weitem nicht nach Fahrplan.

Impfzug durch Sibirien

In Sibirien kommt die Impfung mit einem speziellen Zug zu den Menschen. ORF-Korrespondent Paul Krisai ist zugestiegen.

Bis Herbst sollten 60 Prozent der impfbaren Bevölkerung immunisiert sein, wenn es nach Präsident Wladimir Putin geht. Beim derzeitigen Tempo würde es Jahre dauern, bis dieses Ziel erreicht ist. Der Grund ist die in Russland traditionell verbreitete Impfskepsis: Laut einer aktuellen Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts wollen sich zwei von drei Russinnen generell nicht gegen das Coronavirus impfen lassen.

Skepsis und Verschwörungsmythen

Die Vorbehalte der Bevölkerung haben vielfältige Gründe: „Eine Impfung muss eine Zeit lang getestet werden“, meint Roman, der in der sibirischen Stadt Irkutsk als Handyverkäufer arbeitet. „Aber die russische Impfung wurde sofort am Menschen angewandt. Man verwendet uns als Versuchskaninchen.“ Die Krankenpflegerin Nina bemängelt, dass der Staat zu wenig gegen Falschinformationen unternehme: „Man hört viel Negatives über die Impfung. Viele Leute glauben das und fürchten sich daher vor Langzeitfolgen.“

„Ich halte Covid überhaupt für ein politisches Virus“, meint der Wachdienstmitarbeiter Sergej. „Die Politiker wollen uns damit nur einschränken und Geld verdienen. Diese Impfung richtet sich gegen das Volk.“

Impfung in Medizinzug
Reuters
In entlegenen Regionen Russlands wird im Zug geimpft

Verschwörungstheorien und generelles Misstrauen in den Staat hält auch die Ärztin Tatjana Fryschkina vom Medizinzug der Russischen Eisenbahnen für das größte Problem der russischen Impfkampagne: „Die Bevölkerung liest irgendwelche Informationen im Internet, anstatt auf die zu hören, die sich auskennen. Sie sollten mehr auf ihren eigenen Arzt hören, dann würden sich auch viel mehr Menschen impfen lassen.“

Nur zehn Prozent bisher geimpft

Auch in der Hauptstadt Moskau fehlt es an Impfwilligen. Bisher sind gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung immunisiert. Dabei ist die Impfung in der Zwölf-Millionen-Stadt seit einem halben Jahr für jeden frei zugänglich – unabhängig von Alter und Berufsgruppe. Selbst in Einkaufszentren, Theatern und Fußballstadien wird das Vakzin angeboten.

Die Nachfrage allerdings stagniert: Zuletzt wurden nur 6.000 Menschen pro Tag immunisiert – viel zu wenig, um die Pandemie aufzuhalten, wie der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin zuletzt scharf kritisierte. Es sei eine „Schande“, dass der Anteil in der russischen Hauptstadt niedriger sei als in den meisten europäischen Metropolen – obwohl Moskau als eine der ersten Städte weltweit mit der Massenimpfung begonnen habe: „Wenn die Pandemie schon vorbei wäre, könnten wir ja sagen: egal. Aber es erkranken und sterben weiterhin Menschen. Und trotzdem wollen sich die Leute nicht impfen lassen.“

Tatsächlich steigt derzeit in ganz Russland die Zahl der Neuansteckungen wieder an – eine konkrete Folge der niedrigen Impfrate. Das Land, das sich einst mit dem weltweit ersten CoV-Impfstoff brüstete, bringt seine Impfkampagne nur langsam auf Schiene.