Seitdem Lapid wenige Minuten vor Ablauf der Frist für die Regierungsbildung bekanntgab, dass er eine Koalition beisammenhat, versuchten Benjamin „Bibi“ Netanjahu, sein rechtskonservativer Likud und die verbündeten ultraorthodoxen Parteien mit allen Mitteln, das Bündnis noch zum Scheitern zu bringen: Von höchst verlockenden Angeboten an einzelne Abgeordnete aus dem Lager der neuen Koalition bis zu schweren Vorwürfen, dem Androhen von irdischen und göttlichen Sanktionen und lautstarken Demos vor dem Wohnsitz von Abgeordneten reichte die Bandbreite.
Der Inlandsgeheimdienst Schin Bet sah sich an Verhältnisse wie vor der Ermordung von Ministerpräsident Jizchak Rabin 1995 erinnert und warnte, die Spannungen könnten zu Gewaltakten gegen Politiker führen.
Irgendwann fehlen die Verbündeten
Nach mehr als zwölf Jahren, in denen Netanjahu durchgängig an der Macht war und das Land wie wenige Regierungschefs vor ihm polarisierte und prägte, ist der Regierungswechsel allein schon Programm, daher auch die Selbstbezeichnung „Regierung der Veränderung“. Sowohl der liberale Lapid als auch der ultrarechte Bennett – Letzterer war einst enger Weggefährte Netanjahus – haben das Politikmachen von „King Bibi“ gelernt: oft genug als Ziel und Opfer seiner polittaktischen Manöver.
Am Ende stand der König zwar nicht ohne Kleider, aber ohne genügend Verbündete da, nachdem er es jahrelang verstanden hatte, Koalitionspartner gnadenlos auszutricksen, wenn es ihm selbst zum Vorteil gereichte.
Acht Parteien unter einem Hut
Viele Parteien in einer Koalition zu vereinen ist in Israel Alltag, angesichts einer mit 3,25 Prozent mittlerweile deutlich erhöhten, aber noch immer vergleichsweise niedrigen Prozenthürde, um in die Knesset zu gelangen. Auch die ideologische Bandbreite war dabei oft sehr breit. Die neue Koalition aus acht Parteien reicht vom linken (Merez) bis zum weit rechten Spektrum (Jamina und Israel Beitenu).
Neu nach längerer Zeit ist, dass es eine Regierung ohne eine einzige ultraorthodoxe Partei ist – und vor allem, dass erstmals eine arabische Partei, die islamisch-konservative Ra’am von Mansur Abbas, zentraler Teil einer Koalition ist.
Keine Hoffnung für Friedensprozess
Angesichts der ideologischen Differenzen und völlig unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunkte sollte man die Erwartungen – gerade international – nicht zu hoch stecken. Im Dauerkonflikt mit den Palästinensern ist wohl keine Bewegung zu erwarten, da hier die Positionen zwischen den Koalitionspartnern diametral auseinandergehen. Auch im Konflikt mit dem Iran wird die bisherige Politik fortgesetzt werden. Nuancen und Ton können sich ändern, aber inhaltlich werden wohl mangels Konsens die bisherigen Positionen fortgeschrieben.

Ausbau der Hightech-Industrie
International oft wenig beachtet, gibt es aber auch innenpolitisch große Baustellen. Die Fliehkräfte in der israelischen Gesellschaft – Säkulare vs. Religiöse, Juden vs. Araber, Zentralregion vs. Peripherie, die immer weiter aufgehende soziale Schere, hohe Wohnungspreise, Umgang mit Migration sind einige der wichtigsten – nehmen tendenziell zu. Die Koalition will sich daher auf soziale und wirtschaftliche Fragen konzentrieren: Hier können die Bündnispartner am ehesten ihre Wählerschaft bedienen, zugleich sind diese Felder ideologisch teils weniger stark aufgeladen.
Der Wirtschaft wird laut dem Finanzblatt „Globes“ eine Deregulierung und Entbürokratisierung versprochen – ähnlich wie in Österreich ein beliebtes Versprechen, dem selten Taten folgen. Die Zahl der Beschäftigten in der Hightech-Branche, die bereits jetzt sehr stark ist, soll mit Hilfe entsprechender Rahmenbedingungen – etwa Forschungsgeldern für Quantencomputing und einem Ausbau von Ausbildungen – auf 15 Prozent der gesamten Beschäftigten deutlich angehoben werden.
Beduinensiedlungen sollen anerkannt werden
Nationale Infrastrukturprojekte sollen definiert und gesetzlich verankert werden, darunter ein weiterer Flughafen, der Ausbau der Eisenbahn, neue Spitäler und Schulen. Ein Schwerpunkt ist es zudem, Wohnungen erschwinglicher zu machen – ein Dauerthema in dem Land mit einem seit Langem überhitzten Immobilienmarkt. Zudem gibt es ein allgemeines Bekenntnis zum Ausbau des Sozialstaates.
Die arabische Bevölkerung soll mehr Mittel bekommen und seit Jahrzehnten offiziell nicht existierende Beduinensiedlungen staatlich anerkannt werden – und in der Folge an öffentliche Strom-, Wasser- und Kanalversorgung angeschlossen werden. Letzteres wären wichtige Zeichen nach den innerisraelischen Unruhen im Zuge der jüngsten Gewaltrunde mit der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen.

Zwei große Projekte
Es gibt viele, die der Regierung von Lapid und Bennett keine lange Lebensdauer prognostizieren. Netanjahu wird vom ersten Tag an versuchen, das ideologisch disparate Bündnis mit parlamentarischen Anträgen zu spalten. In zwei Bereichen könnte die Regierung nachhaltig das Land prägen – vorausgesetzt, sie hält länger als ein Jahr.
Einerseits ist ein „Abkühlungsgesetz“ geplant, wonach jemand nur acht Jahre durchgehend Regierungschefin oder -chef sein kann und dann mindestens vier Jahre pausieren muss. Die taktische Absicht von Lapid und Bennett liegt auf der Hand: Der 71-jährige Netanjahu wäre damit für vier Jahre von der Regierungsspitze verbannt. Das würde die Fliehkräfte innerhalb seiner Likud-Partei und die internen Versuche, ihn als Parteichef abzusetzen, wohl deutlich stärken. Genau darauf – und dass es sich selbst nicht die Hände dabei schmutzig machen muss – hofft das neue Regierungsduo.
„Umbau“ des Höchstgerichts
Vor allem aber könnte unter dieser Regierung der Oberste Gerichtshof ein völlig neues – rechtes – Gesicht bekommen. Denn in den nächsten Monaten läuft die Amtszeit von sechs der 15 Richterinnen und Richter ab. Im Nominierungsrat, der vom Höchstgericht selbst, der Knesset, der Regierung und der Anwaltsvertretung beschickt wird, wird die rechtsgerichtete Ex-Justizministerin Ajelet Schaked eine zentrale Position innehaben.
Ähnlich wie in den USA landen immer mehr sensible und hochumstrittene Themen vor dem Höchstgericht, da für politische Entscheidungen dazu in der Knesset oft keine Mehrheiten gefunden werden können. Und zunehmend tragen Aktivistinnen und Aktivisten aller Lager ihre Anliegen vor das Höchstgericht, um so ihre Agenda voranzutreiben.

Angeklagter Premier
Netanjahu griff jahrelang mit scharfen Verbalattacken die Justiz frontal an, die er in der Manier Donald Trumps wiederholt einer „Hexenjagd“ auf ihn zieh. Er untergrub die Legitimität der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Den Rechtsstaat nach den jahrelangen Attacken von Netanjahu, der sich gegen Korruptionsermittlungen mit Händen und Füßen wehrte (und derzeit als amtierender Regierungschef in Tel Aviv wegen Korruption auf der Anklagebank sitzt), wieder zu stärken ist eines der hehren Ziele. Ob das tatsächlich passiert, bleibt freilich abzuwarten. Wie die Ernennung neuer Höchstrichterinnen und -richter abläuft, wird ein starkes Indiz dafür sein, wie ernst es der „Regierung der Veränderung“ damit ist.
Unterschiedliches Gewicht
Die Stabilität der Lapid-Bennett-Koalition hängt stark vom Interessenausgleich und der Machtverteilung innerhalb der Koalition ab. Dafür wurden selbst für israelische Verhältnisse komplexe Mechanismen gefunden. Der vereinbarte Wechsel an der Regierungsspitze – erste Halbzeit Bennett, zweite Lapid – ist schon fast Routine.
Darunter gliedert sich die Achterkoalition aber formell in einen Rechts- und einen Links-Block, angeführt von Bennett bzw. Lapid. Der Rechtsblock zählt deutlich weniger Mandate (13) als der Linksblock (42), zu dem auch der rechtsgerichtete künftige Finanzminister Avigdor Lieberman gezählt wird. Die Gewichtung erfolgt allerdings so, dass im Ministerrat die Blöcke Stimmengleichheit haben. Dazu gibt es Vetorechte – etwa, welche Gesetze der Knesset vorgelegt werden.
Dem 57-jährigen früheren Starjournalisten Lapid, der als Zentrumspolitiker mit sozialliberalem Profil gilt, war die Entmachtung Netanjahus jedenfalls einen sehr hohen Preis wert: Er begrub viele seiner Wahlkampfversprechen. Und obwohl er bei der Wahl mehr als doppelt so viele Mandate erzielte wie Bennett, lässt er diesem den Vortritt an der Regierungsspitze – mit dem nicht geringen Risiko, wegen vorzeitiger Neuwahlen selbst nicht an die Reihe zu kommen.
Israel vor Regierungswechsel
Israels Langzeit-Premierminister Benjamin Netanjahu steht vor seinem möglichen Abschied. Am Sonntag stimmt das Parlament über eine neue Regierung ab.
„Verweis auf den, der sie wieder und wieder betrog“
Entscheidend für das gewagte Politexperiment dürfte das in Jahren der gemeinsamen Gegnerschaft zu Netanjahu gewachsene gegenseitige Vertrauen zwischen Lapid und dem 49-jährigen IT-Millionär Bennett werden. Lapid hatte 2013 Netanjahu de facto gezwungen, neben ihm auch Bennett, der vom engen Ex-Mitarbeiter Netanjahus zu dessen Konkurrent geworden war, in die Regierung zu holen.
Netanjahu revanchierte sich, indem er beiden Aufgaben umhängte, an denen die vergleichsweise unerfahrenen Politiker nur scheitern konnten. Nach vorgezogenen Neuwahlen hatten Lapid und Bennett zusammen statt vorher 31 nur noch 19 Mandate. Das war eine prägende Erfahrung. Beide, so ein Kommentator des öffentlich-rechtlichen Senders Kan, würden häufig betonen, dass sie vom jeweils anderen nie hintergangen wurden, „womit sie nur auf den verweisen, der sie wieder und wieder betrog“: Netanjahu.