Naftali Bennett (Jamina) und  Yair Lapid (Yesh Atid)
Reuters/Ronen Zvulun
Post-Netanjahu-Ära

Israel versucht Zeitenwende

Die Ära von Benjamin Netanjahu ist am Sonntag – herbeigeführt durch ein Duo, das von ihm – fast – alles gelernt hat, zu Ende gegangen: Israels Parlament, die Knesset, stimmte bei einer Vertrauensabstimmung mit einer knappen Mehrheit für die Links-bis-rechts-Koalition von Jair Lapid und Naftali Bennett statt. Israel stehen weiter turbulente innenpolitische Wochen und Monate bevor.

Seitdem Lapid wenige Minuten vor Ablauf der Frist für die Regierungsbildung bekanntgab, dass er eine Koalition beisammenhat, versuchten Benjamin „Bibi“ Netanjahu, sein rechtskonservativer Likud und die verbündeten ultraorthodoxen Parteien mit allen Mitteln, das Bündnis noch zum Scheitern zu bringen: Von höchst verlockenden Angeboten an einzelne Abgeordnete aus dem Lager der neuen Koalition bis zu schweren Vorwürfen, dem Androhen von irdischen und göttlichen Sanktionen und lautstarken Demos vor dem Wohnsitz von Abgeordneten reichte die Bandbreite.

Der Inlandsgeheimdienst Schin Bet sah sich an Verhältnisse wie vor der Ermordung von Ministerpräsident Jizchak Rabin 1995 erinnert und warnte, die Spannungen könnten zu Gewaltakten gegen Politiker führen.

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Demonstranten vor dem Wohnsitz des israelischen Premier Netanjahu in Jerusalem
APA/AFP/Emmanuel Dunand
Wie seit Monaten demonstrierten auch am Vorabend der Ablöse von Netanjahu wieder hunderte Israelis Samstagabend vor seiner Residenz. Eine Demonstrantin meinte hoffnungsvoll: „Das ist das letzte Mal“.
Naftali Bennett und Ayelet Shaked (beide Jamina)
APA/AFP/Gil Cohen-Magen
Netanjahus Nachfolger ist Naftali Bennett. Er wird Regierungschef mit nur sechs Mandaten. Bennett – hier mit Ajelet Schaked – ist der erste Ministerpräsident Israels, der im Alltag die Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung religiöser Juden, trägt.
Brennendes Auto in Lod (Israel)
APA/AFP
Die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern im Mai – hier ein brennendes Auto in Lod nahe Tel Aviv – erschütterten die offiziell gern gehegte Vorstellung eines funktionierenden Zusammenlebens. Es ist eine der dringendsten Baustellen der neuen Regierung. Dass mit Ra’am eine arabische Partei gewichtiger Koalitionspartner ist, könnte für Bewegung sorgen.
Eine Frau sammelt Feuerholz in einer Beduinensiedlung in der Negev-Wüste
APA/AFP/Hazem Bader
So will die Regierung Beduinendörfer in der Wüste Negev nach Jahrzehnten erstmals offiziell anerkennen. Damit sollten sie nicht mehr von Zerstörung bedroht sein und könnten endlich an das öffentliche Strom-, Wasser und Kanalnetz angeschlossen werden. Im Bild eine Frau, die Feuerholz am Rande einer Beduinensiedlung sammelt.
Aryeh Deri (Chef der Shas-Partei) und Jakov Litzman (Yahadut haTorah)
Reuters/Ammar Awad
Die ultraorthodoxen Parteien (Jaakov Lizman von Vereinigtes Thora-Judentum links, Arie Deri von der Schas-Partei rechts) – seit den 1970ern in den meisten Regierungen – finden sich in der Opposition wieder. Sie fürchten um Einfluss. Umgekehrt könnte das die Chance für liberalere Bürgerrechte, etwa für die LGBTQ-Community, bieten.
Merav Michaeli (Labor-Partei)
APA/AFP/Gil Cohen-Magen
Merav Michaeli, Ex-Journalistin und Chefin der zur Kleinpartei geschrumpften Arbeiterpartei, geht in die Koalition mit teils ultrarechten Parteien. Sie teilt mit ihnen das Ziel, Netanjahu abzulösen. Und sie sieht sich in der Koalition neben der Linkspartei Merez als Wahrerin des Rechtsstaates.
Luftaufnahme der israelischen Stadt Tel Aviv
Getty Images/Photostock-Israel
Israel ist ein Land der Gegensätze – auch zwischen der hochmodernen Metropolregion Tel Aviv (im Bild) und den armen, infrastrukturell unterversorgten Rändern des Landes. Dazu kommen für viele unfinanzierbar hohe Wohnkosten. Dem will die neue Regierung mit einem Ausbau des unter Netanjahu stark reduzierten öffentlichen Wohnbaus begegnen.
Großdemonstration vor der Residenz des israelischen Premierministers
AP/Sebastian Scheiner
Wegen der Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu und seine Angriffe auf den Rechtsstaat gab es seit Jahren regelmäßig Demos besorgter Bürgerinnen und Bürger vor der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem. Abzuwarten bleibt, ob auch gegen Bennett regelmäßig demonstriert wird, dann von Netanjahu-Anhängern, Siedlern und Ultrarechten, die sich von Bennett verraten fühlen.

Irgendwann fehlen die Verbündeten

Nach mehr als zwölf Jahren, in denen Netanjahu durchgängig an der Macht war und das Land wie wenige Regierungschefs vor ihm polarisierte und prägte, ist der Regierungswechsel allein schon Programm, daher auch die Selbstbezeichnung „Regierung der Veränderung“. Sowohl der liberale Lapid als auch der ultrarechte Bennett – Letzterer war einst enger Weggefährte Netanjahus – haben das Politikmachen von „King Bibi“ gelernt: oft genug als Ziel und Opfer seiner polittaktischen Manöver.

Am Ende stand der König zwar nicht ohne Kleider, aber ohne genügend Verbündete da, nachdem er es jahrelang verstanden hatte, Koalitionspartner gnadenlos auszutricksen, wenn es ihm selbst zum Vorteil gereichte.

Acht Parteien unter einem Hut

Viele Parteien in einer Koalition zu vereinen ist in Israel Alltag, angesichts einer mit 3,25 Prozent mittlerweile deutlich erhöhten, aber noch immer vergleichsweise niedrigen Prozenthürde, um in die Knesset zu gelangen. Auch die ideologische Bandbreite war dabei oft sehr breit. Die neue Koalition aus acht Parteien reicht vom linken (Merez) bis zum weit rechten Spektrum (Jamina und Israel Beitenu).

Neu nach längerer Zeit ist, dass es eine Regierung ohne eine einzige ultraorthodoxe Partei ist – und vor allem, dass erstmals eine arabische Partei, die islamisch-konservative Ra’am von Mansur Abbas, zentraler Teil einer Koalition ist.

Keine Hoffnung für Friedensprozess

Angesichts der ideologischen Differenzen und völlig unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunkte sollte man die Erwartungen – gerade international – nicht zu hoch stecken. Im Dauerkonflikt mit den Palästinensern ist wohl keine Bewegung zu erwarten, da hier die Positionen zwischen den Koalitionspartnern diametral auseinandergehen. Auch im Konflikt mit dem Iran wird die bisherige Politik fortgesetzt werden. Nuancen und Ton können sich ändern, aber inhaltlich werden wohl mangels Konsens die bisherigen Positionen fortgeschrieben.

Grafik zur Regierungsbildung in Israel
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Haaretz

Ausbau der Hightech-Industrie

International oft wenig beachtet, gibt es aber auch innenpolitisch große Baustellen. Die Fliehkräfte in der israelischen Gesellschaft – Säkulare vs. Religiöse, Juden vs. Araber, Zentralregion vs. Peripherie, die immer weiter aufgehende soziale Schere, hohe Wohnungspreise, Umgang mit Migration sind einige der wichtigsten – nehmen tendenziell zu. Die Koalition will sich daher auf soziale und wirtschaftliche Fragen konzentrieren: Hier können die Bündnispartner am ehesten ihre Wählerschaft bedienen, zugleich sind diese Felder ideologisch teils weniger stark aufgeladen.

Der Wirtschaft wird laut dem Finanzblatt „Globes“ eine Deregulierung und Entbürokratisierung versprochen – ähnlich wie in Österreich ein beliebtes Versprechen, dem selten Taten folgen. Die Zahl der Beschäftigten in der Hightech-Branche, die bereits jetzt sehr stark ist, soll mit Hilfe entsprechender Rahmenbedingungen – etwa Forschungsgeldern für Quantencomputing und einem Ausbau von Ausbildungen – auf 15 Prozent der gesamten Beschäftigten deutlich angehoben werden.

Beduinensiedlungen sollen anerkannt werden

Nationale Infrastrukturprojekte sollen definiert und gesetzlich verankert werden, darunter ein weiterer Flughafen, der Ausbau der Eisenbahn, neue Spitäler und Schulen. Ein Schwerpunkt ist es zudem, Wohnungen erschwinglicher zu machen – ein Dauerthema in dem Land mit einem seit Langem überhitzten Immobilienmarkt. Zudem gibt es ein allgemeines Bekenntnis zum Ausbau des Sozialstaates.

Die arabische Bevölkerung soll mehr Mittel bekommen und seit Jahrzehnten offiziell nicht existierende Beduinensiedlungen staatlich anerkannt werden – und in der Folge an öffentliche Strom-, Wasser- und Kanalversorgung angeschlossen werden. Letzteres wären wichtige Zeichen nach den innerisraelischen Unruhen im Zuge der jüngsten Gewaltrunde mit der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen.

Unterzeichnung der israelischen Koalitionsvereinbarung
APA/AFP
Ein Bild für die israelischen Geschichtsbücher: Lapid und Bennett unterschreiben mit dem Chef der arabischen Partei Raam Mansur Abbas den Koalitionsdeal.

Zwei große Projekte

Es gibt viele, die der Regierung von Lapid und Bennett keine lange Lebensdauer prognostizieren. Netanjahu wird vom ersten Tag an versuchen, das ideologisch disparate Bündnis mit parlamentarischen Anträgen zu spalten. In zwei Bereichen könnte die Regierung nachhaltig das Land prägen – vorausgesetzt, sie hält länger als ein Jahr.

Einerseits ist ein „Abkühlungsgesetz“ geplant, wonach jemand nur acht Jahre durchgehend Regierungschefin oder -chef sein kann und dann mindestens vier Jahre pausieren muss. Die taktische Absicht von Lapid und Bennett liegt auf der Hand: Der 71-jährige Netanjahu wäre damit für vier Jahre von der Regierungsspitze verbannt. Das würde die Fliehkräfte innerhalb seiner Likud-Partei und die internen Versuche, ihn als Parteichef abzusetzen, wohl deutlich stärken. Genau darauf – und dass es sich selbst nicht die Hände dabei schmutzig machen muss – hofft das neue Regierungsduo.

„Umbau“ des Höchstgerichts

Vor allem aber könnte unter dieser Regierung der Oberste Gerichtshof ein völlig neues – rechtes – Gesicht bekommen. Denn in den nächsten Monaten läuft die Amtszeit von sechs der 15 Richterinnen und Richter ab. Im Nominierungsrat, der vom Höchstgericht selbst, der Knesset, der Regierung und der Anwaltsvertretung beschickt wird, wird die rechtsgerichtete Ex-Justizministerin Ajelet Schaked eine zentrale Position innehaben.

Ähnlich wie in den USA landen immer mehr sensible und hochumstrittene Themen vor dem Höchstgericht, da für politische Entscheidungen dazu in der Knesset oft keine Mehrheiten gefunden werden können. Und zunehmend tragen Aktivistinnen und Aktivisten aller Lager ihre Anliegen vor das Höchstgericht, um so ihre Agenda voranzutreiben.

Anhörung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in einem Bezirksgericht von Jerusalem
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Der wegen Korruption angeklagte Netanjahu in einer Verhandlungspause mit seinem Anwaltsteam.

Angeklagter Premier

Netanjahu griff jahrelang mit scharfen Verbalattacken die Justiz frontal an, die er in der Manier Donald Trumps wiederholt einer „Hexenjagd“ auf ihn zieh. Er untergrub die Legitimität der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Den Rechtsstaat nach den jahrelangen Attacken von Netanjahu, der sich gegen Korruptionsermittlungen mit Händen und Füßen wehrte (und derzeit als amtierender Regierungschef in Tel Aviv wegen Korruption auf der Anklagebank sitzt), wieder zu stärken ist eines der hehren Ziele. Ob das tatsächlich passiert, bleibt freilich abzuwarten. Wie die Ernennung neuer Höchstrichterinnen und -richter abläuft, wird ein starkes Indiz dafür sein, wie ernst es der „Regierung der Veränderung“ damit ist.

Unterschiedliches Gewicht

Die Stabilität der Lapid-Bennett-Koalition hängt stark vom Interessenausgleich und der Machtverteilung innerhalb der Koalition ab. Dafür wurden selbst für israelische Verhältnisse komplexe Mechanismen gefunden. Der vereinbarte Wechsel an der Regierungsspitze – erste Halbzeit Bennett, zweite Lapid – ist schon fast Routine.

Darunter gliedert sich die Achterkoalition aber formell in einen Rechts- und einen Links-Block, angeführt von Bennett bzw. Lapid. Der Rechtsblock zählt deutlich weniger Mandate (13) als der Linksblock (42), zu dem auch der rechtsgerichtete künftige Finanzminister Avigdor Lieberman gezählt wird. Die Gewichtung erfolgt allerdings so, dass im Ministerrat die Blöcke Stimmengleichheit haben. Dazu gibt es Vetorechte – etwa, welche Gesetze der Knesset vorgelegt werden.

Dem 57-jährigen früheren Starjournalisten Lapid, der als Zentrumspolitiker mit sozialliberalem Profil gilt, war die Entmachtung Netanjahus jedenfalls einen sehr hohen Preis wert: Er begrub viele seiner Wahlkampfversprechen. Und obwohl er bei der Wahl mehr als doppelt so viele Mandate erzielte wie Bennett, lässt er diesem den Vortritt an der Regierungsspitze – mit dem nicht geringen Risiko, wegen vorzeitiger Neuwahlen selbst nicht an die Reihe zu kommen.

Israel vor Regierungswechsel

Israels Langzeit-Premierminister Benjamin Netanjahu steht vor seinem möglichen Abschied. Am Sonntag stimmt das Parlament über eine neue Regierung ab.

„Verweis auf den, der sie wieder und wieder betrog“

Entscheidend für das gewagte Politexperiment dürfte das in Jahren der gemeinsamen Gegnerschaft zu Netanjahu gewachsene gegenseitige Vertrauen zwischen Lapid und dem 49-jährigen IT-Millionär Bennett werden. Lapid hatte 2013 Netanjahu de facto gezwungen, neben ihm auch Bennett, der vom engen Ex-Mitarbeiter Netanjahus zu dessen Konkurrent geworden war, in die Regierung zu holen.

Netanjahu revanchierte sich, indem er beiden Aufgaben umhängte, an denen die vergleichsweise unerfahrenen Politiker nur scheitern konnten. Nach vorgezogenen Neuwahlen hatten Lapid und Bennett zusammen statt vorher 31 nur noch 19 Mandate. Das war eine prägende Erfahrung. Beide, so ein Kommentator des öffentlich-rechtlichen Senders Kan, würden häufig betonen, dass sie vom jeweils anderen nie hintergangen wurden, „womit sie nur auf den verweisen, der sie wieder und wieder betrog“: Netanjahu.