Der Schriftsteller H.C.Artmann
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100. Geburtstag

H. C. Artmanns Lyrik für die Stiefel

Österreichs größter Lyriker trägt in einer Schuhwerbung ein Haiku vor. Was heute unvorstellbar wäre, war 1980 Realität. H. C. Artmann dichtete für eine Schuhhandelskette über „papierene Stiefel“. Artmann, der am Samstag seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, verband mühelos anspruchsvolle Formen, eine legendäre Vielsprachigkeit und Wiener Schmäh. Mit seiner Dialektlyrik machte er das Wienerische zum künstlerischen Ausdrucksmittel.

„Bei die Japana / trogns papierene Stiefel / des hast dann Gedicht“ – ein nach allen Regeln der Kunst gedichtetes Haiku mit jeweils fünf Silben in der ersten und dritten Zeile und sieben Silben in der zweiten Zeile. Auch die Ortsangabe („Bei die Japana“) und ein subtiler Hinweis auf die Jahreszeit („papierene Stiefel“ werden wohl sommerlichen Temperaturen vorbehalten bleiben) sind vorhanden, ganz wie es die japanische Gedichtform vorschreibt.

Dass Artmann, der beim Vortrag die Silben an der rechten Hand abzählt, in elegantem Wienerisch Verb und Personalpronomen zu „trogns“ verkürzt, macht das Gedicht erst zum Haiku, weil er damit zwei Silben einspart und im Schema 5–7–5 bleibt.

„Mein Vater war Schuster, warum nicht“

In den 1970er bis in die 1990er Jahre machte das Unternehmen Humanic mit avantgardistischer Kunst Werbung. Verantwortlich dafür war Horst Gerhard Haberl, damals Chef der Werbeabteilung der Grazer Schuhhandelskette, der später den Steirischen Herbst leitete. Sein Credo bei den legendären Werbungen war: „Ich habe immer daran geglaubt, dass Kunst kommunizieren muss. Und kommuniziert haben diese Dinger!“, wie er vor einigen Jahren dem „Kurier“ erzählte.

Alle Folgen endeten mit dem legendären Ausruf „Franz!“, ein Running Gag aus der ersten Folge. Wer in den betreffenden Jahrzehnten in Österreich fernsah, dem brannten sich diese Werbungen ein, und höchstwahrscheinlich hatten die Zuseher und Zuseherinnen damals auch Menschen mit dem beliebten Vornahmen Franz in der Familie.

Wie es der Ausnahmelyriker Artmann in die Werbereihe schaffte? Ernst Jandl zog seinen Werbefilm in letzter Sekunde zurück. Und das trotz des außergewöhnlich hohen Honorars von 100.000 Schilling, das entsprach damals dem großen Staatspreis für Literatur. Artmann sprang für Jandl ein: „Mein Vater war Schuster, warum nicht“, sagte er laut Haberl.

Artmann und die „Wiener Gruppe“

Den großen Staatspreis für Literatur hatte der als Sohn eines Schumachers in Wien-Breitensee Geborene bereits seit 1974 in der Tasche. Die kleine literarische Szene Wiens betrat Artmann bereits in den 50er Jahren. Er wurde Mitglied des „Art Club“, ab 1947 Sammelbecken für junge Künstler unter der Ägide des Malers und Autors Albert Paris Gütersloh, der sich im „Strohkoffer“, dem Kellerlokal der Loosbar in der Wiener Innenstadt, traf.

Der Schriftsteller H.C.Artmann 1957
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Artmann mit den Paneelen eines Ringelspiels, die Friedrich Polakovics später für die Umschlaggestaltung des Buches „med ana schwoazzn dintn“ verwendete

Artmann kam mit Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener in Kontakt. Bald traten sie mit Gemeinschaftstexten und Aktionen miteinander auf. In der Literaturgeschichtsschreibung firmieren die fünf bis heute als legendäre „Wiener Gruppe“, als Motor der Avantgarde im tristen Nachkriegs-Wien. Artmann distanzierte sich stets vom Gruppenbegriff und sah sie als freundschaftlich verbundener Künstler, nicht mehr.

Buchcover „Übrig blieb ein moosgrüner Apfel“
Suhrkamp Verlag
Zu Artmanns Jubiläum gibt es zahlreiche Neuerscheinungen, u. a.:

Mit seinen von der spanischen Barocklyrik genauso wie vom Surrealismus und der zeitgenössischen Konkreten Poesie beeinflussten Gedichten machte Artmann früh Furore. Die Begriffe der Dichtung und des Poetischen waren schon früh für ihn zentral. In seiner „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Aktes“ (1953) fiel der berühmte Satz, nachdem „man Dichter sein kann, ohne irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben“.

„Nua ka Schmoez“

Dem entsprach Artmann auf gewisse Weise auch selbst: Als sein größter Erfolg erwies sich der Dialektgedichteband „med ana schwoazzn dintn“ (1958) in dem er ganz auf das Gesprochene schaute und dem Poetischen in seinem Kindheitsidiom zu neuer Akzeptanz und Beliebtheit verhalf. Seine Poetik fasste er dort im ersten Gedicht zusammen: „Nua ka Schmoez how e xoght!“. Ja keine Sentimentaliät und Verklärung verordnete er sich, bei den sprachlich funkelnden Verdichtungen der Realität, die auch Missbrauch und Gewalt (Kindafazara, Blauboad) nicht ausschließt.

Artmann rehabilitierte das Wienerische abseits jedes Kitsches und erbrachte damit Vorarbeit für das Neue Wiener Lied. Das zeigt sich am besten, wenn Artmann seine Texte selbst rezitierte – sein Einsatz des Dialekts als Kunstmittel war stilprägend. Ohne seine Gedichte wäre eine ganze Tradition, von Ludwig Hirsch und Georg Danzer über Ostbahn Kurti bis herauf zum Nino aus Wien und Voodoo Jürgens, nicht denkbar.

Der Weltensammler

Bereits in den 1950er Jahren führten ihn Reisen durch ganz Europa. In den 1960ern war er fast ständig unterwegs, mit Aufenthalten in Stockholm, West-Berlin, Lund, Malmö, Graz und Rennes. Zum runden Geburtstag widmet die Wien Bibliothek dem Jubilar die Ausstellung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“, die den Einfluss dieser Reisen auf sein Schaffen erkundet.

Die aus diesen Wanderjahren resultierende Vielsprachigkeit Artmanns war legendär. Eines der wohl außergewöhnlichsten Gedichte der österreichischen Literatur geht auf Artmanns Sprachliebe zurück. „Versuch ersuch einer kleinen Chrestomathie mit Zisternen“ ist in einem Art Keltisch verfasst. Die ersten Zeilen lauten: „hol hen amassar am ttarffon crimm / ni:hoel littam / han amassar tti conccro / h-ulffan ccacarchi / cceal cconclurar aramadar ccarchi“.

Wie der Grazer Autor Clemens J. Setz für sein Buch über Plansprachen „Die Bienen und das Unsichtbare“ (2020) eruiert hat, dürfte sich Artmann ab 1973 mit dem Piktischen beschäftigt haben und auf Basis dieser altschottischen Sprache eine persönliche Sprache erdacht haben, deren einziges Zeugnis dieses unverständliche Gedicht ist.

Artmann wurde in den 1970ern sesshaft. Nach Jahren in Salzburg und Graz übersiedelte er nach Wien, wo er an der Wiener Schule für Dichtung lehrte. Das literarische Lebenswerk Artmanns wurde 1997 mit der Verleihung des Georg-Büchner-Preises sowie des Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln geehrt. Artmann starb am 4. Dezember 2000. Seit 2004 vergibt die Stadt Wien in seinem Gedenken alle zwei Jahre den H.-C.-Artmann-Preis für Lyrik.