NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
Reuters/Olivier Hoslet
Gipfeltreffen mit Biden

NATO nimmt China ins Visier

Bei ihrem ersten Gipfeltreffen mit US-Präsident Joe Biden haben die NATO-Staats- und -Regierungschefs klar Position gegenüber Russland und China bezogen. Die Beziehungen zu Moskau hätten einen „Tiefpunkt“ erreicht, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach dem Treffen am Montag. Ins Visier der Allianz geriet erstmals auch die Großmacht China, die laut Stoltenberg eine „Herausforderung für die Sicherheit“ der NATO darstelle.

Bei dem Treffen habe Einigkeit darüber geherrscht, dass die Partner in Europa und Nordamerika zusammenstehen müssten, „um ihre Werte und Interessen zu verteidigen“, sagte NATO-Generalsekretär Stoltenberg in Richtung Moskau und Peking. Das gelte besonders in einer Zeit, „in der autoritäre Regime wie Russland und China die auf Regeln basierende internationale Ordnung herausfordern“, so Stoltenberg bei der Pressekonferenz weiter.

Stoltenberg sagte weiter, die Bündnispartner hätten die Beratungen mit dem neuen US-Präsidenten Biden vor dessen Gipfel mit Kreml-Chef Wladimir Putin an diesem Mittwoch in Genf begrüßt. „Unser Verhältnis zu Russland ist auf dem tiefsten Punkt seit dem Kalten Krieg, und Moskaus aggressive Handlungen sind eine Bedrohung für unsere Sicherheit.“ „Chinas wachsender Einfluss stellt eine Herausforderung für die Sicherheit des Bündnisses dar", sagte Stoltenberg auch. Und weiters sagte er: „Heute schlagen wir ein neues Kapitel für unser Bündnis auf.“ Er betonte, der Gipfel sei sehr gut verlaufen. Die NATO bezeichnete er als „wahrhaft transatlantische Familie“.

Gruppenbild der NATO Mitglieder
AP/Yves Herman
Im kommenden Jahr wollen die 30 NATO-Staats- und Regierungschefs ein neues Strategiekonzept verabschieden

China als „systematische Herausforderung“

Die Großmacht China stelle eine „systemische Herausforderung für die regelbasierte internationale Ordnung“ dar, heißt es auch in der NATO-Abschlusserklärung. Peking baue schnell sein Atomwaffenarsenal aus und kooperiere auch „militärisch mit Russland, unter anderem durch die Teilnahme an russischen Übungen im euroatlantischen Raum.“

Russland verstoße überdies weiter gegen Werte und Prinzipien der Allianz sowie gegen internationale Verpflichtungen. Die NATO sei besorgt über eine „Politik des Zwangs“, die im Gegensatz zu Grundwerten der Allianz stehe und Bereiche betreffe, „die für die Sicherheit der Allianz relevant sind“, heißt es nun in der Gipfelerklärung.

Solange Russland nicht beweise, dass es das Völkerrecht und seine internationalen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten einhalte, könne es auch im Verhältnis zu Moskau keine Rückkehr zum „Business as usual“ geben, erklärte der Gipfel zwei Tage vor dem ersten Treffen Bidens mit dem russischen Präsidenten Putin. Trotz des stetigen Ausbaus des russischen Raketenprogramms habe die NATO aber „nicht die Absicht, landgestützte Atomraketen in Europa zu stationieren“.

NATO zu Dialog bereit

In beiden Fällen zeigte sich die NATO aber zum Dialog bereit. Um sich gegenüber diesen Herausforderungen sowie Bedrohungen wie Cyberangriffen besser aufzustellen, beschlossen die NATO-Staaten, ein überarbeitetes strategisches Konzept zu erstellen. Es soll im kommenden Jahr beim nächsten NATO-Gipfel in Spanien verabschiedet werden. Der übernächste NATO-Gipfel soll in Litauen tagen. Die Entscheidung für den Gipfelort könnte von Russland als Provokation aufgenommen werden. Es ist das erste NATO-Gipfeltreffen in einer Ex-Sowjetrepublik, seit die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim die Spannungen zwischen Russland und der NATO dramatisch verschärft hat.

Darüber hinaus beschloss der Gipfel, dass auch Angriffe im Weltraum die Beistandsklausel nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages auslösen können. Hier ist das Bündnis schon länger besorgt, dass China und Russland, aber auch andere Länder Möglichkeiten zur Beeinträchtigung oder gar Zerstörung von Satelliten getestet haben.

Biden: „Die NATO steht zusammen“

Nach den schwierigen Jahren unter seinem Vorgänger Donald Trump hatte sich US-Präsident Biden nach seinem Amtsantritt klar zur NATO und ihrer Beistandsverpflichtung bei Angriffen bekannt. Aber auch er drängt die europäischen NATO-Mitglieder, stärker China ins Visier zu nehmen. Im Vergleich zu Russland, das ausführlich in der rund 40-seitigen Gipfelerklärung Niederschlag fand, blieb es bei China im Wesentlichen bei zwei Absätzen.

Joe Biden und Jens Stoltenberg
Reuters/Francois Mori
US-Präsident Joe Biden – hier mit Jens Stoltenberg – sieht die demokratischen Werte der NATO unter Druck

„Russland und China versuchen beide, einen Keil in unsere transatlantische Solidarität zu treiben“, sagte Biden am Montagabend. „Aber unser Bündnis hat ein starkes Fundament, auf dem wir unsere kollektive Sicherheit und unseren gemeinsamen Wohlstand weiter aufbauen können.“ Biden betonte erneut, er habe sich bei dem Gipfel klar zum Artikel 5 zur kollektiven Verteidigung bekannt. „Es ist eine heilige Verpflichtung.“ Er unterstrich: „Die NATO steht zusammen.“

Biden signalisierte vor seinem Treffen mit Putin Bereitschaft zum Entgegenkommen. Das für Mittwoch in Genf geplante Treffen werde kritisch sein. „Ich werde Präsident Putin klar machen, dass es Bereiche gibt, in denen wir kooperieren können, wenn er so will“, sagte Biden. Nach einem Treffen mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan zeigte sich der US-Präsident zudem zuversichtlich, dass die Länder an ihren Differenzen arbeiten können.

Merkel will „Zweisäulenansatz“

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel plädierte dafür, dass die NATO mit China wie mit Russland einen doppelten Ansatz aus Abschreckung und Dialog entwickelt. „Ich bin eine große Verfechterin des Zweisäulenansatzes“, sagte Merkel nach den Beratungen auf dem NATO-Gipfel in Brüssel. Es sei richtig, das aufstrebende China in dem neuen strategischen Konzept des Bündnisses stärker zu beachten.

Wenn man sich etwa die Cyberbedrohung und die außenpolitische und militärische Zusammenarbeit zwischen Russland und China anschaue, dann sei klar, dass man das Land nicht übersehen dürfe. Aber man dürfe es nicht übertreiben, sondern müsse die richtige Balance finden, fügte sie hinzu. „China ist Rivale in vielen Frage, aber China ist auch Partner in vielen Fragen“, sagte Merkel. Sie plädierte deshalb dafür, dem kommunistischen Land nach dem Vorbild der NATO-Russland-Gespräche ein Dialogangebot zu machen.

Eine Grafik zeigt die Militärausgaben der NATO-Länder
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: NATO

Der britische Premierminister Boris Johnson betonte vor dem Gipfel, dass das westliche Bündnis keinen „neuen Kalten Krieg“ mit China wolle. Die zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt sei allerdings ein „gigantischer Faktor in unserem Leben“ und für die NATO eine neue strategische Herausforderung, sagte Johnson am Montag. Johnson forderte auch Russland auf, sein Verhalten gegenüber den NATO-Staaten zu ändern. Mit Blick auf das für Mittwoch in Genf geplante Treffen sagte er: „Ich weiß, dass Präsident Biden in den nächsten Tagen einige recht harte Botschaften an Präsident Putin richten wird.“

Erstes Treffen mit Biden

Johnson beriet vor Beginn des Gipfels in einer Videokonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski. Der Premierminister wolle seine Sorgen über Russlands Aktivitäten an der ukrainischen Grenze beim Gipfel auf den Tisch bringen, hieß es anschließend aus der Regierungszentrale in London. Die Ukraine hatte zuvor nochmals ihr Interesse an der baldigen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der NATO deutlich gemacht – Biden wollte dem Land unterdessen keine neuen Hoffnungen machen.

Eine besondere Bedeutung kommt dem Spitzentreffen zu, weil es das erste mit dem neuen US-Präsidenten Biden ist. Dieser hat versprochen, die unter seinem Vorgänger Trump sehr angespannten Beziehungen zwischen der NATO und den Vereinigten Staaten wieder zu normalisieren. Die europäischen NATO-Staaten erhoffen sich nach den unterkühlten Jahren mit Trump von Biden neue Impulse für die Allianz.

China: Rational betrachten

China wies die Kritik der NATO scharf zurück. Die NATO übertreibe die von China ausgehende Bedrohung, so die Vertretung Pekings bei der EU am Dienstag. Sie forderte das Sicherheitsbündnis auf, „Chinas Entwicklung rational zu betrachten“, nicht länger verschiedene übertriebene Formen einer „Bedrohungstheorie“ zu verbreiten und Chinas „legitime Interessen und Rechte“ nicht länger als Vorwand für Manipulation und die „künstliche“ Schaffung von Konfrontation zu nutzen.