Menschen genießen in der Lissabonner Altstadt das schöne Wetter
AP/Armando Franca
Delta-Variante in Europa

Sorgen, Warnungen und erste Vorkehrungen

Die Ausbreitung der als besonders infektiös geltenden Delta-Variante des Coronavirus wird europaweit mit Sorge beobachtet. Vielerorts sprechen Expertinnen und Experten Warnungen aus – auch die heimische Ampelkommission verwies am Donnerstag auf ein „ernstzunehmendes Risiko“. In mehr und mehr Ländern werden – ausgerechnet während der laufenden Fußball-EM – geltende Einschränkungen verlängert oder neue in Kraft gesetzt.

Eine solche neue Maßnahme ergriff die portugiesische Regierung aufgrund der drastischen Zunahme von Fällen in der Hauptstadt Lissabon: Die Metropole wird über das Wochenende abgeriegelt. Bis Montagfrüh dürfen die 2,8 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner den Großraum auf Anordnung der Regierung nur aus triftigem Grund verlassen. Auswärtige dürfen nur in Ausnahmefällen einreisen.

Das Ergreifen dieser Maßnahmen erscheine „unerlässlich, damit die Lage, die in Lissabon derzeit herrscht, nicht auf das ganze Land übergreift“, sagte Präsidentschaftsministerin Mariana Vieira da Silva. Der Ausnahmezustand zur Eindämmung der Pandemie war aufgrund einer vorübergehend beruhigten Pandemielage am 1. Mai nach fünfeinhalb Monaten zu Ende gegangen.

Rasch steigende Zahlen in Großbritannien

Zuletzt war der Fokus stark auf Großbritannien gerichtet – die Delta-Variante trieb dort die Fallzahlen in den vergangenen Wochen signifikant in die Höhe. Die 7-Tage-Inzidenz liegt im Königreich wieder bei 75. Premierminister Boris Johnson hatte bereits Anfang der Woche für England die Aufhebung von Beschränkungen verschoben. Auch in Teilen von Schottland müssen die Menschen länger auf weitere Lockerungen warten.

Wales verschiebt Lockerungen um vier Wochen

Nun verschob auch die britische Provinz Wales geplante Lockerungen: „Wir haben alle Daten überprüft und werden die Änderungen der Regeln um vier Wochen verschieben“, teilte der walisische Regierungschef Mark Drakeford am späten Donnerstagabend mit. Er verwies auf Nachweise der Delta-Variante in allen Teilen von Wales. Mitte Juli sollen die Beschränkungen erneut überprüft werden – jedenfalls soll das Impfprogramm noch einmal beschleunigt werden.

Menschen sitzen vor einem Restaurant in Soho (London)
AP/Alberto Pezzali
Straßenszene vor einem Restaurant im Londoner Stadtteil Soho

„Das dürfen wir einfach nicht riskieren“

Auch in Deutschland rückt die Variante in den Fokus: In Großbritannien zeige sich, dass bei einer starken Ausbreitung auch fixe Öffnungen wieder infrage gestellt werden könnten. Das gelte es zu vermeiden, wie Gesundheitsminister Jens Spahn am Freitag sagte. „Es ist nicht die Frage, ob Delta die führende Variante wird, sondern wann“, sagte der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. Diese Entwicklung könne vor allem Ungeimpfte und Einmalgeimpfte treffen. „Das dürfen wir einfach nicht riskieren.“

Spätestens im Herbst werde die Variante die Oberhand haben, derzeit liege der Anteil in Deutschland noch bei nur sechs Prozent. RKI-Chef Wieler warnte vor dem Verspielen von Erfolgen („Wichtig ist, dass wir die Ansteckungen jetzt unten halten“). Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kommentierte die Lage Freitagvormittag: „Wir müssen einfach Schritt für Schritt und vorsichtig vorgehen“, sagte Merkel in einem öffentlichen Videogespräch mit Lufthansa-Chef Carsten Spohr.

Drosten: Variante wirklich ernst nehmen

Nach Einschätzung des Berliner Virologen Christian Drosten muss Deutschland die Delta-Variante in der Pandemie ab sofort ernst nehmen. „Ich bin mittlerweile so weit, dass ich sage, wir sind hier jetzt im Rennen in Deutschland mit der Delta-Variante“, sagte Drosten am Freitagabend auf einem Onlinekongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin. „Wir müssen das ab jetzt wirklich ernst nehmen.“

Auch der Vorsitzende des Weltärztebundes, der Deutsche Frank Ulrich Montgomery, warnte vor einer sehr raschen Ausbreitung der Variante. „Das Tückische bei dieser Variante ist, dass Infizierte sehr schnell eine sehr hohe Viruslast im Rachen haben und damit andere anstecken können, bevor sie überhaupt merken, dass sie sich infiziert haben“, sagte Montgomery der deutschen Funke-Mediengruppe. Die Länder sollten deswegen jetzt prüfen, ob die angekündigten Lockerungen nicht zu weit gingen.

Gar nicht mehr nach London reisen?

Auch spielt die Debatte über die Delta-Variante stark in die laufende Fußball-EM hinein: So riet der deutsche Kanzleramtsminister Helge Braun den deutschen Fans wegen der dortigen Virusausbreitung von Reisen nach London zu den Halbfinal-Spielen und dem Finale ab. Die Ausbreitung der Variante in Großbritannien sei seine „große Sorge“, sagte Braun dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Freitag-Ausgaben). „Man sollte nicht in Virusvariantengebiete reisen“, warnte er.

Das Wembley-Stadion in London während der Fußball-EM
Reuters/Catherine Ivill
Das Londoner Wembley-Stadion beim ersten Auftritt der englischen Nationalteams

Bericht über mögliche Verlegung von EM-Spielen

Gleichzeitig erhöhte der Europäische Fußballverband (UEFA) den Druck auf die englischen Behörden, Ausnahmeregeln zu beschließen. Einen Bericht der britischen „Times“, wonach sogar die Verlegung der Halbfinale und des Endspiels nach Budapest diskutiert werden könnte, kommentierte die UEFA zurückhaltend, aber auch mit dem Satz: „Es gibt immer einen Notfallplan, aber wir sind zuversichtlich, dass die Finalwoche in London ausgerichtet wird.“

In Wembley sind in der kommenden Woche zwei Achtelfinale (26. und 29. Juni) angesetzt, ehe dort am 6. und 7. Juli beide Halbfinal-Spiele und am 11. Juli das Endspiel steigen sollen. Für die K.-o.-Runde sollen bis zu 45.000 Zuschauerinnen und Zuschauer zugelassen werden, was 50 Prozent der Gesamtkapazität des Stadions entspricht. Die „Times“ berichtete, in den Verhandlungen gehe es insbesondere um die VIP-Gäste, für die nicht dieselben strikten Regeln bei der Einreise gelten sollen wie für „normale“ Rückkehrer und Einreisende.

UEFA: „Verstehen Druck, unter dem die Regierung steht“

„Im Moment sind wir in Gesprächen mit den lokalen Behörden, um zu versuchen, den Fans der teilnehmenden Mannschaften die Teilnahme an den Spielen zu ermöglichen“, teilte die UEFA mit und schrieb von „strikten“ Test- und CoV-Blasen-Konzepten. Der Aufenthalt der Zuschauerinnen und Zuschauer aus dem Ausland würde dann weniger als 24 Stunden dauern, die Bewegung im Land auf „genehmigte Transportmittel und Veranstaltungsorte beschränkt“ werden.

„Wir verstehen den Druck, unter dem die Regierung steht, und hoffen, dass wir einen zufriedenstellenden Abschluss unserer Gespräche in dieser Angelegenheit erreichen können“, teilte die UEFA mit. Die britische Regierung wollte die Berichte bisher nicht kommentieren. Der „Times“ zufolge besteht die Sorge, dass die Briten die Ausnahmen für die EM in der aktuell besorgniserregenden Lage scharf kritisieren würden.

Moskau schließt EM-Fanzone, verlängert Beschränkungen

Bezüglich der Menschenansammlungen anlässlich der Fußball-EM reagierte auch die russische Hauptstadt Moskau auf dort steigende Zahlen: Bürgermeister Sergej Sobjanin gab bekannt, dass die Fanzone der Stadt geschlossen werde. Generell werden Veranstaltungen auf maximal 1.000 Menschen begrenzt. Spielplätze in Parks sollen weitere zehn Tage geschlossen bleiben, hieß es. Innerhalb von zwei Wochen hat sich die Fallzahl verdreifacht – nach offiziellen Angaben stieg die Zahl neuer Patientinnen und Patienten in Spitälern innerhalb einer Woche um 30 Prozent.

Russische Fußball-Fans in einem Fanpark in Moskau
Reuters/Tatyana Makeyeva
Solche Szenen aus der Moskauer EM-Fanzone gibt es fortan nicht mehr – sie wurde pandemiebedingt geschlossen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte die Delta-Variante als „besorgniserregend“ eingestuft, da sie Wissenschaftlern zufolge ansteckender ist als die Ursprungsform von SARS-CoV-2. In Österreich sind laut AGES bisher 71 CoV-Fälle der Variante B.1.617.2 aufgetreten (jüngster publizierter Stand von Dienstag). Mit Abstand die meisten Fälle wurden in Wien sequenziert (32), 19 in Salzburg, sieben in Tirol, sechs in Niederösterreich, fünf in der Steiermark und je einer in Kärnten und Oberösterreich.

PCR-Angebote auch außerhalb Wiens gefordert

Erst Donnerstagabend erging der Aufruf des Landes Tirol an die Bevölkerung von neun Gemeinden im Umkreis von Innsbruck, dass sie einen PCR-Test machen sollen. Diese Maßnahme hielt NEOS für nicht ausreichend, nur punktuelle Tests seien zu wenig – man müsse sich jetzt auf breitflächigere PCR-Tests konzentrieren, hieß es von NEOS. Auch die SPÖ forderte, dass niederschwellige PCR-Gurgeltest-Angebote geschaffen werden.

Konkret sollte der Bevölkerung einmal pro Woche ein Gratis-PCR-Gurgeltest zur Verfügung gestellt werden, der in Geschäften per Einwurf abgegeben werden könne und zentral in einem Labor ausgewertet werde, hieß es von der Tiroler SPÖ mit dem Verweis auf Wien. Derzeit testet nur Wien großflächig mit PCR-Tests. Aus dem Büro des Wiener Gesundheitsstadtrates Peter Hacker (SPÖ) kam nun die Anregung, diese Tests zumindest auch in den größeren Städten auf dem Land anzubieten.