Der im Oktober eingesetzte parlamentarische Ausschuss hatte monatelang die Vorkommnisse des Skandals aufgearbeitet, bei dem ein Börsenwert von rund 24 Milliarden Euro vernichtet und zahllose Anleger und Anlegerinnen geschädigt worden waren. Dazu wurden Dutzende Zeugen und Zeuginnen vernommen – darunter auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD), aber auch der österreichische Firmenchef Markus Braun. Er hatte die Aussage verweigert.
Für die Opposition ergab sich aus den Befragungen der Schluss, dass es im Wirecard-Skandal zu einem kollektiven Aufsichts- und Behördenversagen gekommen war. Eine politische Verantwortung für den Skandal liege beim Finanzministerium. Dieses ist zuständig für die Finanzaufsicht BaFin und die Anti-Geldwäsche-Einheit FIU, die beide nicht rechtzeitig eingegriffen hätten. Die Behörden hätten deutlich früher einschreiten müssen und so den Milliardenskandal zumindest abschwächen können, sagte FDP-Ausschussobmann Florian Toncar bei einer Pressekonferenz zum Abschlussbericht.
„Politisches Netzwerk“
Toncar nannte es „bedauerlich“, dass Spitzenpolitiker der Bundesregierung „nicht einmal zu einer lauen Form der Selbstkritik“ bereit seien. Der Obmann der Linken im Ausschuss, Fabio De Masi, sagte, die „Illusionsfabrik“ Wirecard sei nur möglich gewesen, weil sie sich „ein politisches Netzwerk organisiert“ habe. Über die BaFin sagte De Masi, diese habe die Aufsicht über Wirecard nicht nur schleifen lassen, sondern das Unternehmen auch noch aktiv schützen wollen. Er bemängelte zudem, dass die deutschen Aufsichtsbehörden nicht für das digitale Zeitalter gerüstet seien.
Lisa Paus, Grünen-Obfrau im Untersuchungsausschuss, sagte, auch die Wirtschaftsprüfer von EY hätten jahrelang „die kritische Grundhaltung“ vermissen lassen. Als die BaFin schließlich eingegriffen habe, sei das mit einer „Wagenburg-Mentalität“ geschehen, wonach deutsche Unternehmen immer die besten seien. Wirecard war von der Politik jahrelang als Digitalisierungs- und Zukunftshoffnung umgarnt worden. Unter anderem hatte Merkel Wirecard in China beworben. Auch Paus übte Kritik an Scholz: Dieser könne keine Fehler eingestehen. Das sei aber wichtig für einen Kanzler.
Nur AfD fordert Scholz-Rücktritt
Als einzige Partei forderte indes die AfD als Konsequenz den Rücktritt von Scholz, der seine Partei im Herbst in die Bundestagswahl führen wird. „Herr Scholz muss zurücktreten“, sagte der Ausschussvorsitzende Kay Gottschalk am Dienstag in Berlin. Das gleiche gelte für Lars-Hendrik Röller. Der Wirtschaftsberater von Merkel war in die Kritik geraten, weil seine Ehefrau als Schnittstelle zwischen Wirecard und einem chinesischen Unternehmen agiert haben soll.
Auch die Union schoss sich auf Scholz ein, stellte aber keine Rücktrittsforderung. Das Finanzministerium habe weggesehen, nicht gehandelt und die Aufklärung erschwert, sagte der Obmann der Unionsfraktion im Ausschuss, Matthias Hauer (CDU), am Dienstag in Berlin. Scholz habe sich dem Ausschuss als „schweigender Minister“ präsentiert, fadenscheinige Ausreden gebraucht und Akten verspätet geliefert. Die Finanzaufsicht BaFin und das für sie zuständige Finanzministerium hätten sich „jahrelang in einem Aufsichtstiefschlaf befunden“.
Kritik an „Gütesiegel“ für Wirecard
„Die politische Verantwortung trägt Olaf Scholz“, so Hauer. Die Fäden seien bei der Bonner Aufsichtsbehörde BaFin zusammengelaufen, die dem Finanzministerium unterstellt ist. Auf die Frage, ob die Union den Rücktritt von Scholz fordere, sagte Hauer, Scholz sollte zumindest den Staatssekretär Jörg Kukies freistellen: „Er hat den Hut bei der BaFin auf.“
Die Union kritisierte in erster Linie das Leerverkaufsverbot, das Anfang 2019 verhängt wurde. Damit wurden Wetten auf Kursverluste mit Wirecard-Aktien unterbunden – obwohl es damals schon Vorwürfe zu Bilanzungereimtheiten gegen das ehemalige DAX-Unternehmen gab. Der BaFin wird zur Last gelegt, Wirecard damit ein Gütesiegel ausgestellt zu haben. Das Finanzministerium hätte das verhindern müssen, so Hauer. Die Union steht in der Affäre selbst in der Kritik – die deutsche Wirtschaftsprüferaufsicht Apas steht unter der Rechtsaufsicht von Wirtschaftsminister Peter Altmaier von der CDU, auch er wies in der Vergangenheit Vorwürfe von sich.
SPD verteidigt Scholz, sieht schnelles Handeln
Die SPD verteidigte indes Scholz. Der Finanzminister habe rechtzeitig die nötigen Konsequenzen aus dem Fall gezogen. Es gebe im Abschlussbericht keine konkreten Verfehlungen von Scholz. „Ich halte das für Wahlkampfgetöse“, sagte die SPD-Finanzpolitikerin Cansel Kiziltepe. Die Wirecard-Bilanzen seien seit 2010 fehlerhaft gewesen, Scholz aber erst seit 2018 Finanzminister.
„Er hat sofort gehandelt“, ergänzte SPD-Politiker Jens Zimmermann. Es seien mit dem „Wirecard-Gesetz“ FISG erste Konsequenzen für eine bessere Aufsicht und Bilanzprüfung gezogen worden. Scholz habe an keiner Stelle die Chance gehabt, den Skandal zu verhindern. Wichtig sei nun, den Kulturwandel bei der BaFin unter dem neuen Präsidenten Mark Branson mit Leben zu füllen. Die SPD sah vielmehr die Wirtschaftsprüfer in der Verantwortung.
Parteien in Kritik an EY geeint
Einig waren sich die Parteien in ihrer Kritik am Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY. CDU-Politiker Fritz Güntzler – selbst Steuerberater und Wirtschaftsprüfer – sagte etwa, EY sei seiner Funktion nicht gerecht geworden. Sondergutachten hätten schwere Versäumnisse und nur lasche Kontrollen aufgezeigt. „Es sind viele rote Ampeln überfahren worden.“ EY habe die gesamte Branche in Misskredit gebracht und kämpfe daher nun gegen Schadenersatzforderung und einen Reputationsverlust. Das Unternehmen teilte mit, man bedauere, den Betrug nicht früher aufgedeckt zu haben. Dafür werde Verantwortung übernommen.
Ein Ex-Wirecard-Prüfer hatte mit einem kurzfristig eingebrachten Eilantrag übrigens versucht, die Veröffentlichung des Abschlussberichts zu verhindern bzw. zu verzögern. Er hatte gefordert, dass Passagen mit seinem Namen nicht veröffentlicht werden. Sein Anwalt hatte mit den Persönlichkeitsrechten argumentiert. Doch der Antrag wurde vom Verwaltungsgericht Berlin noch am Nachmittag abgelehnt, der Bericht kann wie geplant erscheinen.
Braun in U-Haft, Marsalek auf der Flucht
Die inzwischen insolvente Wirecard AG um den ehemaligen österreichischen Firmenchef Braun und den mutmaßlich ins Ausland geflüchteten Vorstand Jan Marsalek hatte im vergangenen Sommer eingestanden, dass in der Bilanz aufgeführte 1,9 Mrd. Euro nicht auffindbar sind. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht von einem „gewerbsmäßigen Bandenbetrug“ aus – und zwar seit dem Jahr 2015.
Braun und zwei weitere Manager sitzen seit dem Sommer des vergangenen Jahres in U-Haft. Zuletzt wurde aufgrund der bereits lange andauernden U-Haft gemutmaßt, dass es in der zweiten Jahreshälfte zu einer Anklage kommen könnte. Braun weist die Vorwürfe jedenfalls zurück. Ein Medienberater Brauns teilte im Mai der „Zeit“ mit, dass Braun von dem milliardenschweren Betrug aus den Akten erfahren habe. „Wenn einer zur Aufklärung etwas beitragen könnte, dann Jan Marsalek“, so Brauns Sprecher zudem in der „Zeit“. „Zum Verbleib des Geldes kann er sicher viel sagen.“
Am Dienstag durchsuchte die Staatsanwaltschaft München zudem einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ zufolge das Büro und das Privathaus des Wirecard-Aufsichtsratschefs. Dabei gehe es um den Verdacht der Beihilfe zur Untreue. Die Staatsanwaltschaft lehnte eine Stellungnahme zu dem Bericht ab.
Kickl mit Verweis auf Wirecard
In Österreich sprach sich indes am Dienstag der neue FPÖ-Chef Herbert Kickl mit Bezug auf Wirecard für eine Fortsetzung des „Ibiza“-U-Ausschusses aus. Als „interessanten Aspekt“ will er den Wirecard-Skandal und mögliche Verbindungen zur ÖVP beleuchten.
Kickl berichtete, er habe mit einem Kollegen der deutschen AfD gesprochen, der im deutschen Wirecard-Ausschuss tätig ist – und aus diesem Gespräch habe sich ergeben, dass es bei diesem Thema „interessante Verbindungen nach Österreich“ gebe – und zwar „nicht irgendwohin, sondern ins Bundeskanzleramt“. Auch erinnerte Kickl an die „Tatsache, dass (Wirecard-Gründer, Anm.) Markus Braun Großspender der ÖVP“ gewesen sei und auch im Thinktank des Kanzleramtes saß.