Bundeskanzler Sebastian Kurz und die detsche Kanzlerin Angela Merkel
Reuters/Olivier Matthys
Russland, Flucht und CoV

EU-Gipfel sucht neue Strategien

Das Verhältnis der EU zu Russland und zur Türkei, die Migrationspolitik und der im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie – das sind die Themen auf dem EU-Gipfel am Donnerstag. Überschattet wurde das Treffen vom Streit über ein umstrittenes ungarisches Gesetz zur Homosexualität.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte sich im Vorfeld des Gipfels für den deutsch-französischen Vorschlag zu einem Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgesprochen. Es könne nicht sein, dass sich der Dialog mit Russland und der EU „darauf beschränkt, dass wir da sitzen und zusehen, was (US-Präsident Joe, Anm.) Biden und Putin miteinander besprechen“.

Die EU „ist geografisch näher an Russland, viele der Probleme betreffen uns unmittelbarer als die USA“, so Kurz. Daher werden „wir sowie Deutschland und andere Staaten einfordern, dass es einen direkten Austausch zwischen der Europäischen Union und Russland geben muss, trotz aller Unterschiede“. Er unterstützte einen „dualen Ansatz“: klare Reaktion bei Menschenrechtsverletzungen, aber trotzdem Gesprächskanäle offen lassen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz und die detsche Kanzlerin Angela Merkel
Reuters/Olivier Hoslet
Wie weiter tun mit Russland? Das ist eine der großen Fragen auf dem EU-Gipfel.

Merkel für Dialog mit Russland

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte sich zuvor ähnlich geäußert. „Es reicht nicht aus, wenn der amerikanische Präsident Joe Biden mit dem russischen Präsidenten redet“, sagte Merkel im Bundestag in Berlin. „Die Europäische Union muss hier auch Gesprächsformate schaffen.“ Merkel forderte dabei eine geschlossenere Haltung der EU gegenüber Russland.

„Die Ereignisse der letzten Monate haben deutlich gezeigt, dass es nicht reicht, wenn wir auf die Vielzahl russischer Provokationen unkoordiniert reagieren“, sagte Merkel in ihrer voraussichtlich letzten Regierungserklärung in ihrer bald 16-jährigen Amtszeit. Diskutiert wurde am Abend ein deutsch-französischer Vorschlag, der ein neues Sanktionsregime, aber auch einen Gipfel mit Putin vorsieht.

EU-Gipfel: Irritation über Russland-Annäherung

Beim Gipfel in Brüssel hat ein Vorstoß von Deutschland und Frankreich für Irritation gesorgt. Die EU solle wieder einen Russland-Gipfel abhalten, so die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron pflichtet ihr bei. Russlands direkte Nachbarn fühlen sich überrumpelt.

Der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins sah die Aufnahme eines neuen Dialogs mit Moskau skeptisch. Der Kreml verstehe nur „Machtpolitik“ und sehe „keine Gratiszugeständnisse als ein Zeichen der Stärke“, sagte Karins vor Beginn des Gipfels. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte sagte, er selbst werde an einem Gipfel mit Putin sicher nicht teilnehmen, werde sich dem aber nicht entgegenstellen, wenn die EU-Spitzen ein solches Treffen planten.

Drohung mit neuen Sanktionen

Beim EU-Gipfel in Brüssel sollen Russland zusätzliche Wirtschaftssanktionen angedroht werden. In einem Entwurf für die Abschlusserklärung des Treffens heißt es nach dpa-Informationen, es gebe „die Notwendigkeit einer entschlossenen und koordinierten Reaktion der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf jede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivität Russlands“.

Die EU müsse deswegen die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente in vollem Umfang nutzen. Zu diesem Zweck sollten die EU-Kommission und der Außenbeauftragte Josep Borrell „Optionen für weitere restriktive Maßnahmen“ vorlegen, einschließlich Wirtschaftssanktionen. Zugleich soll laut dem Entwurf für die Abschlusserklärung betont werden, dass die EU in bestimmten Bereichen offen für eine Zusammenarbeit mit Russland bleibt.

Dazu gehören zum Beispiel der Klimaschutz sowie der Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die Gesundheitspolitik. Unklar blieb zunächst allerdings, ob nach dem Gipfel auch versucht werden wird, entsprechend einem Vorschlag von Deutschland und Frankreich den im Zuge der Ukraine-Krise eingestellten Dialog auf Spitzenebene mit Russland wieder aufzunehmen.

Moskau begrüßt Vorstoß, Kiew warnt

Russland begrüßte den Vorstoß für eine Rückkehr zu Spitzentreffen mit der EU am Donnerstag. „Wir bewerten diese Initiative positiv“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau der Agentur Interfax zufolge. Präsident Putin sei ein Befürworter, wenn es darum gehe, Dialog und Kontakte zwischen Brüssel und Moskau wiederherzustellen.

Berichte aus Brüssel und Moskau

Die ORF-Korrespondenten Roland Adrowitzer in Brüssel und Paul Krisai in Moskau berichten über den Vorstoß von Deutschland und Frankreich auf dem EU-Gipfel, nach sieben Jahren wieder eine Annäherung zu Russland zu suchen.

Die ukrainische Regierung warnte hingegen vor der Wiederaufnahme von Spitzentreffen. Diese seien eine „gefährliche Abweichung von der EU-Sanktionspolitik“ und würden Russland „noch mehr von der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen“ für einen Frieden in der Ukraine abhalten, sagte der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba laut dpa am Donnerstag in Brüssel.

Geflüchtete: Milliarden für Türkei

Ähnlich uneins wie bei Russland ist die EU beim Verhältnis zur Türkei und in der Migrationspolitik. Einige Staaten wollen den Flüchtlingspakt mit der Türkei von 2016 retten. Der Regierung in Ankara sollen deshalb neue Hilfen zur Versorgung syrischer Geflüchteter in Aussicht gestellt werden – nach Vorstellungen der EU-Kommission wären das 3,5 Milliarden Euro bis 2024. Kurz erklärte dazu: „Wenn die Europäische Kommission hier zusätzliches Geld in die Hand nimmt, ist es angemessen und in Ordnung, es muss aber auch damit verbunden sein, dass verhindert wird, dass Menschen illegal weiterziehen.“

In der Gipfelerklärung vom Donnerstagabend warnten die EU-Staats- und -Regierungschefs vor steigenden Migrationsbewegungen. Trotz Rückgängen in den vergangenen Jahren würden die Entwicklungen auf einigen Routen Anlass zu „ernsthafter Sorge“ geben. Wachsamkeit und „dringendes Handeln“ seien erforderlich. Der EU-Gipfel forderte die EU-Kommission und den EU-Außenbeauftragten Borrell auf, bis Herbst dieses Jahres Aktionspläne für prioritäre Herkunfts- und Transitländer vorzulegen, die klare Ziele, Unterstützungsmaßnahmen und Zeitvorgaben enthalten. Ohne Länder beim Namen zu nennen, verurteilte der EU-Gipfel außerdem alle Versuche von Drittstaaten, Migranten für politische Zwecke zu missbrauchen.

Einheitliche CoV-Reiseregeln

Auch die Coronavirus-Krise war Thema auf dem Gipfel. Kurz forderte im Vorfeld, dass für Inhaber des europäischen CoV-Zertifikats („Grüner Pass“) die Quarantäne in Europa gänzlich wegfallen solle. Auch solle es einheitlichere Bestimmungen geben, wann jemand als geimpft gelte, sagte Kurz. „Es wäre gut, wenn alle etwas großzügiger wären.“ Derzeit können die EU-Staaten angesichts von Virusvarianten noch zusätzliche nationale Vorschriften erlassen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz
Reuters/John Thys
Kurz für Wegfall der Quarantäne mit „Grünem Pass“

Die Furcht vor der Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus soll jedenfalls dazu führen, dass die EU-Staaten ihre Grenzen für Reisende aus Drittstaaten allerdings nur vorsichtig und koordiniert öffnen wollen. Das berichteten Teilnehmerkreise am Donnerstagabend der dpa aus der Debatte auf dem EU-Gipfel.

Das Auftreten mutierter Viren erfordere, „wachsam und koordiniert“ zu handeln, heißt es auch in den verabschiedeten Schlussfolgerungen des Gipfels. Deshalb wollen die 27 EU-Staaten die Impfkampagne auch weiter vorantreiben. Das gelte auch international, hier wurde auf die COVAX-Initiative verwiesen. Nach Angaben von von der Leyen werden bis Sonntag rund 220 Millionen Europäer mindestens einmal geimpft sein – rund 60 Prozent der Erwachsenen in der EU. Im zweiten Halbjahr sollen weiter große Mengen Impfstoff kommen.

Merkel sprach sich zudem gegen eine Aussetzung des Patentschutzes für Coronavirus-Impfstoffe aus. Sie plädierte dafür, die Produktion von Impfstoffen für ärmere Länder über eine verstärkte Lizenzvergabe zu erhöhen. Die Welt werde „auch in Zukunft weiter darauf angewiesen sein, dass Impfstoffe entwickelt werden“, sagte Merkel. „Das wird nur gelingen, wenn der Schutz geistigen Eigentums nicht außer Kraft gesetzt wird, sondern gewahrt bleibt.“

Protest gegen ungarischen Gesetzentwurf

Das ungarische Gesetz zur Stigmatisierung homosexueller und transgeschlechtlicher Menschen steht zwar nicht auf der offiziellen Tagesordnung, es wurde allerdings diskutiert. Dabei muss sich Ungarns Regierungschef Viktor Orban wegen seines umstrittenen LGBTQ-Gesetzes wohl auf Kritik einstellen. Besonders ungarnkritisch hatte sich zuvor Rutte gezeigt, der sagte: „Meiner Meinung nach haben sie in der Europäischen Union nichts mehr zu suchen.“

Eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten fordert die EU-Kommission dazu auf, entschieden gegen Ungarn vorzugehen. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält das Vorhaben für „eine Schande“. An zahlreichen EU-Gebäuden in Brüssel ist während des Gipfels die Regenbogenfahne zu sehen. Vor dem Gipfel hatten 17 Staats- und Regierungschefs in einer Protestnote die Einhaltung von Rechten der LGBTQ-Gemeinschaft gefordert. Auch Kurz hat den Brief unterschrieben

Guterres: „Wir teilen dieselbe DNA“

Der Gipfel begann mit einem Treffen der Staats- und Regierungschefs mit dem UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. „Wir teilen dieselbe DNA“, sagte EU-Ratschef Charles Michel, als er Guterres empfing. Sowohl die UNO als auch die EU seien völlig überzeugt, dass nur der multilaterale Ansatz die Probleme der Welt lösen könne. „Eine starke UNO, eine starke EU sind gut für die Welt“, sagte Michel.

Guterres nannte die EU einen „absolut essenziellen strategischen Partner“. Mehr Zusammenarbeit und ein noch weiter reichender Multilateralismus seien nötig angesichts der Zerbrechlichkeit der Welt bei Themen wie Klima, wachsender Ungleichheit, geopolitischer Spaltung und Vertrauensverlust.