Ungarns Premierminister Viktor Orban mit dem zypriotischen Präsidenten Nicos Anastasiades
AP/Olivier Matthys
LGBTQ-Gesetz

Streit mit Ungarn überschattet EU-Gipfel

Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag sind die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron mit ihrem Vorstoß für einen Dialog mit Russland gescheitert. Die Mehrheit der EU-Staaten will einen härteren Kurs gegenüber Moskau. Besonders scharfe Töne gab es allerdings in der Diskussion um das jüngst beschlossene ungarische Gesetz zur Einschränkung von Informationen über Homo- und Transsexualität. Dabei wurde auch Ungarns EU-Mitgliedschaft offen hinterfragt.

Das Gesetz stand zwar offiziell vorerst nicht auf der Agenda, trotzdem entbrannte am Abend eine hitzige Debatte, wie mehrere Diplomaten berichteten. Einzelne Staats- und Regierungschefs hätten sogar infrage gestellt, ob Ungarn bei der Fortsetzung der aktuellen Politik noch einen Platz in der EU haben kann, bzw. die Kürzung von EU-Geldern über den neuen Rechtsstaatsmechanismus ins Spiel gebracht.

Unterstützung für Premier Viktor Orban hätten Polen und Slowenien signalisiert. Das ungarische Gesetz war in der Nacht auf Donnerstag im Amtsblatt veröffentlicht worden und tritt 14 Tage später in Kraft – und Orban will es nach eigenen Angaben nicht zurückziehen. Es verbietet Publikationen, die Kindern zugänglich sind und nicht heterosexuelle Sexualität darstellen. Auch wird Werbung verboten, in der Homosexuelle und Transsexuelle als Teil einer Normalität erscheinen.

„Diesmal geht es zu weit“

Der niederländische Regierungschef Mark Rutte stellte sogar die Mitgliedschaft Ungarns in der EU infrage. „Diesmal geht es zu weit“, sagte Rutte nach Angaben aus EU-Kreisen in der rund zweistündigen und zum Teil „emotional“ geführten Debatte zu Orban. Er rief den ungarischen Regierungschef auf, wie Großbritannien ein Austrittsverfahren nach Artikel 50 des EU-Vertrags einzuleiten, wenn er die europäischen Werte nicht achten wolle. Eigene Mittel zum Rauswurf eines missliebigen Mitgliedsstaats hat die EU nicht.

Besonders scharf ging auch der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel mit Orban ins Gericht. Bettel lebt selbst offen schwul und ist mit seinem Partner seit 2015 verheiratet. „Du hast eine rote Linie überschritten“, sagte er nach Angaben aus EU-Kreisen zu Orban. „Das ist nicht das Europa, in dem ich leben möchte.“ EU-Ratspräsident Charles Michel erinnerte demzufolge zudem daran, „dass Werte wie Freiheit, Toleranz und menschliche Würde im Zentrum der Europäischen Union stehen“.

Bundeskanzler Sebastian Kurz, mit dem Premierminister von Luxemburg Xavier Bettel
Reuters/Olivier Matthys
Heftige Kritik kam unter anderem von Luxemburgs Premier

Brief signalisiert Besorgnis

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und 16 weitere Staats- und Regierungschefs hatten vor dem Gipfel in einem Brief an die Spitzen der EU ihre Besorgnis über die Bedrohung von Grundrechten und Diskriminierung sexueller Minderheiten deutlich gemacht. „Respekt und Toleranz sind das Herzstück des europäischen Projekts“, heißt es in dem Schreiben.

„Wir sind entschlossen, diese Anstrengungen fortzuführen und dafür zu sorgen, dass die künftigen Generationen Europas in einem von Gleichberechtigung und Respekt geprägten Umfeld aufwachsen.“ Der Brief erwähnt als Anlass den International Lesbian Gay Bisexual and Transgender Pride Day am 28. Juni.

Neben Österreich wurde der Brief unter anderem von Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Deutschland und Luxemburg unterzeichnet. Von den östlichen EU-Staaten machten nur Estland und Lettland mit. Neben Ungarn fehlten auch Länder wie Polen, die Slowakei, Tschechien, Slowenien, Kroatien, Bulgarien und Rumänien.

Kurz: „Klare Meinung“

Kurz sagte am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel, in vielen Fragen gebe es unterschiedliche Zugänge zwischen Ost- und Westeuropa, auch in der Flüchtlingsfrage und in Finanzfragen. Österreich habe stets die Rolle eingenommen, immer mit allen im Gespräch zu bleiben und Brücken zu bauen. „Das ändert aber nichts daran, dass wir eine klare Meinung zu Grund- und Freiheitsrechten haben“, auch zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie zur Notwendigkeit unabhängiger Medien, sagte Kurz. „Ich sehe in diesen Positionen überhaupt keinen Widerspruch.“ Kurz: „Wir gehören nicht zu den Ländern, die versuchen, Gräben in der Europäischen Union zu schaffen.“

Im Ö1-Morgenjournal am Freitag sagte Kurz, dass Ungarn eine Grenze überschritten habe. Es sei ihm aber lieber, wenn die gemeinsamen Werte eingehalten würden, als dass ein Land die EU verlässt.

Die EU-Kommission und zahlreiche EU-Staaten sind der Auffassung, dass das ungarische Gesetz Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ein entschiedenes Vorgehen der Kommission angekündigt. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn nannte als mögliche Konsequenzen einen Zahlungsstopp von EU-Hilfen und einen Entzug des Stimmrechts – allerdings sind die Hürden für einen solchen Schritt sehr hoch.

Härtere Gangart gegen Russland beschlossen

Abseits der Debatte über das ungarische Gesetz drehte sich der Gipfeltag unter anderem um das Verhältnis zu Russland. Deutschland und Frankreich hatten sich für ein Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgesprochen. Es könne nicht sein, dass sich der Dialog zwischen Russland und der EU „darauf beschränkt, dass wir dasitzen und zusehen, was (US-Präsident Joe, Anm.) Biden und Putin miteinander besprechen“. Auch Kurz forderte einen besseren Austausch.

Bundeskanzler Sebastian Kurz und die detsche Kanzlerin Angela Merkel
Reuters/Olivier Hoslet
Wie weiter tun mit Russland? Das ist eine der großen Fragen auf dem EU-Gipfel.

Der Vorstoß zu mehr Dialog wurde aber abgelehnt. Die Mehrheit der EU-Staaten ist künftig für deutlich härtere Reaktionen etwa auf rechtswidrige Handlungen wie Hackerangriffe und Operationen russischer Geheimdienste in EU-Staaten. Dafür soll ein Plan für Strafmaßnahmen erstellt werden, der auch Wirtschaftssanktionen umfasst. Es gebe „die Notwendigkeit einer entschlossenen und koordinierten Reaktion der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf jede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivität Russlands“, heißt es in der Gipfelerklärung.

Die EU müsse deswegen die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente in vollem Umfang nutzen. „Ich persönlich hätte mir einen mutigeren Schritt gewünscht“, sagte Merkel Freitagfrüh nach den Beratungen.

Vage Beschlüsse zum Thema Migration

Beim Thema Flucht und Migration wurden nur vage Beschlüsse gefasst. In der Gipfelerklärung vom Donnerstagabend warnten die EU-Staats- und -Regierungschefs vor steigenden Migrationsbewegungen. Trotz Rückgängen in den vergangenen Jahren würden die Entwicklungen auf einigen Routen Anlass zu „ernsthafter Sorge“ geben. Wachsamkeit und „dringendes Handeln“ seien erforderlich.

Der EU-Gipfel forderte die EU-Kommission und den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell auf, bis Herbst dieses Jahres Aktionspläne für prioritäre Herkunfts- und Transitländer vorzulegen, die klare Ziele, Unterstützungsmaßnahmen und Zeitvorgaben enthalten. Ohne Länder beim Namen zu nennen, verurteilte der EU-Gipfel außerdem alle Versuche von Drittstaaten, Migranten für politische Zwecke zu missbrauchen.

Bewegung gab es auch in der Frage nach neuen Geldern für die Türkei für die Versorgung von Flüchtlingen aus Syrien. Die Staats- und Regierungschefs forderten die EU-Kommission auf, unverzüglich Vorschläge für eine Fortsetzung der finanziellen Unterstützung vorzulegen. Erste Überlegungen der Brüsseler Behörde sehen vor, der Türkei bis 2024 zusätzliche 3,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt zukommen zu lassen. Bisher wurden bereits rund sechs Milliarden Euro bereitgestellt.

CoV: Nur langsam Reiselockerungen für Drittstaaten

Auch die Coronavirus-Krise war Thema auf dem Gipfel. Kurz forderte im Vorfeld, dass für Inhaber des europäischen CoV-Zertifikats („Grüner Pass“) die Quarantäne in Europa gänzlich wegfallen solle. Auch solle es einheitlichere Bestimmungen geben, wann jemand als geimpft gelte, sagte Kurz. „Es wäre gut, wenn alle etwas großzügiger wären.“ Derzeit können die EU-Staaten angesichts von Virusvarianten noch zusätzliche nationale Vorschriften erlassen.

Die Furcht vor der Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus scheint jedenfalls dazu zu führen, dass die EU-Staaten ihre Grenzen für Reisende aus Drittstaaten allerdings nur vorsichtig und koordiniert öffnen wollen. Das berichteten Teilnehmerkreise am Donnerstagabend der dpa aus der Debatte auf dem EU-Gipfel.

Das Auftreten mutierter Viren erfordere, „wachsam und koordiniert“ zu handeln, heißt es auch in den verabschiedeten Schlussfolgerungen des Gipfels. Deshalb wollen die 27 EU-Staaten die Impfkampagne auch weiter vorantreiben. Das gelte auch international, hier wurde auf die COVAX-Initiative verwiesen. Nach Angaben von von der Leyen werden bis Sonntag rund 220 Millionen Europäer mindestens einmal geimpft sein – rund 60 Prozent der Erwachsenen in der EU. Im zweiten Halbjahr sollen weiter große Mengen Impfstoff kommen.