EU-Gipfel in Brüssel
Reuters/Olivier Hoslet
Kein Dialog mit Putin

EU für härtere Gangart gegen Russland

Die Mehrheit der EU-Staaten will schärfere Reaktionen gegen Russland auf „böswillige Handlungen“. Dazu gab es auf dem EU-Gipfel in der Nacht auf Freitag eine Einigung. Der Vorstoß der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin in den Dialog zu treten, wurde abgeschmettert. Freitagmittag endete der Gipfel.

„Ich persönlich hätte mir einen mutigeren Schritt gewünscht“, sagte Merkel Freitagfrüh nach dem Abschluss des ersten Gipfeltages. Merkel und Macron hätten sich eine Kurskorrektur gewünscht: härtere, koordinierte Sanktionen bei Rechtsverstößen Russlands etwa bei Hackerangriffen und Operationen russischer Geheimdienste auf der einen Seite, die Option auf ein EU-Spitzentreffen mit Putin auf der anderen Seite.

Geblieben ist die Erarbeitung eines Plans für Strafmaßnahmen, der auch Wirtschaftssanktionen umfasst. Es gebe „die Notwendigkeit einer entschlossenen und koordinierten Reaktion der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf jede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivität Russlands“, heißt es in der Gipfelerklärung. Dort findet sich ebenfalls, dass die EU zusätzliche Hilfen für Staaten ins Auge fasst, die unter dem Druck Russlands stehen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz und die detsche Kanzlerin Angela Merkel
Reuters/Olivier Hoslet
Kurz sprach sich wie Merkel und Macron für einen Dialog mit Putin aus

Litauen: „Zu früh“ für Treffen

Zugleich soll die Zusammenarbeit mit Russland in Bereichen von gemeinsamen Interessen wie Klimawandel, Gesundheit und punktuell in der Außen- und Sicherheitspolitik intensiviert werden. Was den Dialog mit Russland betrifft, findet sich nun folgende Formulierung in der Gipfelerklärung: Der EU-Rat solle „Formate und Bedingungen“ für den Dialog untersuchen.

Auf der Bremse stand etwa Litauens Präsident Gitanas Nauseda. Es sei aus einer Sicht „zu früh“ für einen Gipfel mit Putin. „Denn wir sehen bisher keinerlei radikale Änderung im Verhaltensmuster“ von Putin. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hingegen unterstützte die Merkel-Macron-Initiative. Auch er forderte einen besseren Austausch mit Putin.

„Prioritäten definieren“

Ähnlich argumentierte der belgische Regierungschef Alexander De Croo: „Die Beziehungen zu Russland können sich nicht auf Wirtschaftssanktionen und die Ausweisung von Diplomaten beschränken.“ An einem bestimmten Moment müsse es die Möglichkeit geben, sich an einen Tisch zu setzen. Bevor es aber etwa ein Treffen Putins mit EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionschefin Ursula von der Leyen gebe, müsse die EU „zunächst ihre Prioritäten definieren“, sagte De Croo. „Letztlich waren die Positionen aber nicht so weit auseinander.“

Der letzte EU-Russland-Gipfel hatte im Jänner 2014 stattgefunden. Die Treffen wurden nach der darauffolgenden Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und dem Beginn des Konflikts mit prorussischen Separatisten in der Ostukraine ausgesetzt. Das war Teil der umfangreichen Sanktionen der EU gegen Russland.

Die letztlich mehrheitlich ablehnende Haltung (vor allem durch das Nein der östlichen EU-Staaten) zu EU-Spitzentreffen mit Putin wurde in Moskau „mit Bedauern“ aufgenommen. Der Kreml teilte am Freitag mit: „Präsident Putin bleibt interessiert an der Herstellung einer Arbeitsbeziehung zwischen Moskau und Brüssel.“ Aus dem russischen Außenministerium hieß es zuvor, dass die EU Geisel einer aggressiven Minderheit und früherer Entscheidungen sei.

Kurz für EU-Strategie zu Russland

Kurz zeigte sich von der Gipfeldebatte zu Russland enttäuscht. Er hätte sich ein mutigeres Vorgehen gewünscht, es sei aber schwierig, Einstimmigkeit zu erreichen, sagte er. Es brauche eine Strategie der EU gegenüber Russland. Die EU könne auch nicht warten, wenn einander schon US-Präsident Joe Biden und Putin treffen. Europa sei geografisch und unmittelbarer von Russland betroffen, wie die Ukraine-Krise zeige.

Harte Kritik an Orban

Noch mehr Konflikt als das Russland-Thema löste allerdings das jüngst beschlossene ungarische Gesetz zur Einschränkung von Informationen über Homo- und Transsexualität aus. Dabei wurde auch Ungarns EU-Mitgliedschaft offen hinterfragt. Das Gesetz stand zwar offiziell vorerst nicht auf der Agenda, trotzdem entbrannte am Abend eine hitzige Debatte, wie mehrere Diplomaten berichteten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban stand im Kreuzfeuer der Kritik.

Einzelne Staats- und Regierungschefs hätten sogar infrage gestellt, ob Ungarn bei der Fortsetzung der aktuellen Politik noch einen Platz in der EU haben kann, bzw. die Kürzung von EU-Geldern über den neuen Rechtsstaatsmechanismus ins Spiel gebracht, so Diplomaten. Es habe eine „kontroverse, aber sehr ehrliche Diskussion gegeben“, sagte Merkel.

Ungarns Premierminister Viktor Orban
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Orban wurde für das neue LGBTQ-Gesetz heftig kritisiert

Orban wies den Vorwurf zurück, dass das Gesetz sexuelle Minderheiten diskriminiere. Unterstützung für Orban gab es laut dem luxemburgischen Premierminister Xavier Bettel nur aus Polen und Slowenien. Das ungarische Gesetz war in der Nacht auf Donnerstag im Amtsblatt veröffentlicht worden und tritt 14 Tage später in Kraft – und Orban will es nach eigenen Angaben nicht zurückziehen. Es verbietet Publikationen, die Kindern zugänglich sind und nicht heterosexuelle Sexualität darstellen. Auch wird Werbung verboten, in der Homosexuelle und Transsexuelle als Teil einer Normalität erscheinen.

„Diesmal geht es zu weit“

Der niederländische Regierungschef Mark Rutte stellte sogar die Mitgliedschaft Ungarns in der EU infrage. „Diesmal geht es zu weit“, sagte Rutte nach Angaben aus EU-Kreisen in der rund zweistündigen und zum Teil „emotional“ geführten Debatte zu Orban. Er rief den ungarischen Regierungschef auf, wie Großbritannien ein Austrittsverfahren nach Artikel 50 des EU-Vertrags einzuleiten, wenn er die europäischen Werte nicht achten wolle. Eigene Mittel zum Rauswurf eines missliebigen Mitgliedsstaats hat die EU nicht.

Besonders scharf ging auch der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel mit Orban ins Gericht. Bettel lebt selbst offen schwul und ist mit seinem Partner seit 2015 verheiratet. „Du hast eine rote Linie überschritten“, sagte er nach Angaben aus EU-Kreisen zu Orban. „Das ist nicht das Europa, in dem ich leben möchte.“ EU-Ratspräsident Charles Michel erinnerte demzufolge zudem daran, „dass Werte wie Freiheit, Toleranz und menschliche Würde im Zentrum der Europäischen Union stehen“.

Brief signalisiert Besorgnis

Kurz und 16 weitere Staats- und Regierungschefs hatten vor dem Gipfel in einem Brief an die Spitzen der EU ihre Besorgnis über die Bedrohung von Grundrechten und Diskriminierung sexueller Minderheiten deutlich gemacht. „Respekt und Toleranz sind das Herzstück des europäischen Projekts“, heißt es in dem Schreiben.

„Wir sind entschlossen, diese Anstrengungen fortzuführen und dafür zu sorgen, dass die künftigen Generationen Europas in einem von Gleichberechtigung und Respekt geprägten Umfeld aufwachsen.“ Der Brief erwähnt als Anlass den International Lesbian Gay Bisexual and Transgender Pride Day am 28. Juni.

Neben Österreich wurde der Brief unter anderem von Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Deutschland und Luxemburg unterzeichnet. Von den östlichen EU-Staaten machten nur Estland und Lettland mit. Neben Ungarn fehlten auch Länder wie Polen, die Slowakei, Tschechien, Slowenien, Kroatien, Bulgarien und Rumänien.

„Das ist ein heikles Thema“

Kurz zeigte sich besorgt über immer tiefere Gräben in der EU. „Das ist ein heikles Thema, das mir sehr viel Sorge bereitet“, sagte er am Freitag nach Ende der Beratungen. Unterschiedliche Meinungen seien per se kein Problem, vor allem wenn es um innenpolitische Aspekte gehe. „Bei außenpolitischen Fragen nicht geeint aufzutreten ist schon schlechter. Das schwächt die Europäische Union“, sagte Kurz. Viele Themen würden die EU allerdings schon lange beschäftigen.

Zur Debatte über das umstrittene ungarische LGBTQ-Gesetz sagte Kurz, Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel habe beeindruckend geschildert, wie es ihm selbst mit seiner Homosexualität gegangen sei. Er habe damit eine persönliche Komponente in die Debatte eingebracht. Nunmehr sei es die Aufgabe von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, das ungarische Gesetz zu prüfen.

„Die Debatte war emotional, es war sicher eine harte Debatte“, so Kurz. Ziel Österreichs sei es, dass das nicht zu einem Auseinanderbrechen in Europa führe, „das sehe ich aber nicht“, so Kurz weiter. Er wolle, dass Grund- und Freiheitsrechte überall gewahrt werden. Das sei ihm lieber als eine Debatte, ob ein Land die Europäische Union verlassen sollte. Rutte hatte ja Orban im Zusammenhang mit dem Gesetz einen Austritt Ungarns aus der EU nahegelegt.

Vage Beschlüsse zum Thema Migration

Beim Thema Flucht und Migration wurden nur vage Beschlüsse gefasst. Der Streit über die gemeinsame Asylpolitik ist festgefahren. In der Gipfelerklärung vom Donnerstagabend warnten die EU-Staats- und -Regierungschefs vor steigenden Migrationsbewegungen. Trotz Rückgängen in den vergangenen Jahren würden die Entwicklungen auf einigen Routen Anlass zu „ernsthafter Sorge“ geben.

Korrespondent Roland Adrowitzer berichtet aus Brüssel

Bis spät in die Nacht haben die EU-Staats- und -Regierungschefs auf dem Gipfel in Brüssel am Donnerstag debattiert – zum einen ging es um die Beziehung zu Russland, zum anderen war das umstrittene ungarische Gesetz zur Homosexualität Thema. Am Freitag steht ein weiterer Gipfeltag an – Roland Adrowitzer berichtet.

Türkei über Beschlüsse enttäuscht

Bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel hatten die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag ihre „Besorgnis“ über die Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zum Ausdruck gebracht. Sie einigten sich zwar auf weitere Hilfen in Höhe von drei Milliarden Euro für Syrien-Flüchtlinge in der Türkei, verzichteten aber auf konkrete Zusagen bei dem mit dem ursprünglichen Flüchtlingspaket eingegangenen Versprechen, Gespräche über eine Modernisierung der Zollunion mit der Türkei aufzunehmen.

Deshalb reagierte die Türkei enttäuscht auf die Beschlüsse des Gipfels. Die Erklärung sei „weit hinter dem zurückgeblieben, was erwartet oder notwendig war“, erklärte das Außenministerium am Freitag in Ankara. Es fügte hinzu, die Türkei habe ihrerseits „mehr als ihren Teil“ zum Abbau von Spannungen und der Wiederaufnahme des Dialogs und der Zusammenarbeit beigetragen.

Das türkische Außenministerium sprach nun von „Verzögerungstaktik und Mangel an gutem Willen“. Die Zusammenarbeit bei der Migration allein auf ihre „finanziellen Aspekte“ zu reduzieren, sei „ein großer Fehler“.

CoV: Nur langsam Reiselockerungen für Drittstaaten

Auch die Coronavirus-Krise war Thema auf dem Gipfel. Nach Angaben von Teilnehmern gab es eine Einigung, dass die Grenzen für Reisende aus Drittstaaten nur vorsichtig und koordiniert geöffnet werden. Das könnte etwa Reisende aus Großbritannien betreffen, wo die Delta-Variante bereits weit verbreitet ist. Das Auftreten mutierter Viren erfordere, „wachsam und koordiniert“ zu handeln, heißt es in den verabschiedeten Schlussfolgerungen des Gipfels.

Es blieb aber offen, ob die EU-Staaten künftig Reisebeschränkungen einheitlicher gestalten und besser koordinieren können. Freitagvormittag standen vor dem Ende des Treffens die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie und die Fortschritte bei der Bankenunion auf der Tagesordnung.