Junger Mann springt Salto rückwärts in die Seestadt
Luiza Puiu
Verklärter Stadtrand

Die Sterne über Aspern und Alterlaa

Ob sich Tante Ceccarelli je nach Alterlaa verloren hat, ist nicht überliefert. Seit auch Marco Wanda die Satellitenstadt im Süden Wiens popkulturell verklärt wie Amore in Bologna, wird die Liebe am Liesingbach zu einer Option für den Sommer. Der Stadtrand war den Wienern immer ein bisschen suspekt. Und hat sich im Lauf der Zeit an die Peripherie verschoben. Dort, wo sich früher Fuchs und Hase gute Nacht gesagt haben, hat sich heute der Wohnraum verdichtet. Insofern werden Aspern, Alterlaa und Hirschstetten schon wieder Zentren einer eigenen Welt samt eigener Poetik. Wie ja auch Yung Hurn mit dem Album „1220“ demonstrierte.

„Auf dem Land sieht man vieles klarer“, hält der Autor Gerhard Roth in seinen Archiven des Schweigens fest. Wie aber, so möchte man fragen, verhält es sich mit dem Stadtrand, der oft schwer definierbaren Übergangszone zwischen dem Urbanen und dem Land? Die Stadt franst nicht zuletzt durch den Speckgürtel, der sie umgibt, aus. Nicht nur im Ballungsraum Wien. Dennoch: Wer den Stadtrand besingen will, verlangt auch nach einer großen Stadt. Die Populärkultur stilisiert sich in den Zonen des Suburbanen zudem, so scheint es, deutlich lieber als die Hochkultur.

Der aus dem friulanischen Casarsa stammende Pier Paolo Pasolini steht mit seiner Begeisterung für die Gegenwelt zur Großstadt mit ihren eigenen Gesetzen, die römischen „Borgate“, fast modellhaft für eine Begeisterung der Literatur für die un-romantischen Randzone: An den Grenzen der Stadt schließt sich der Abgrund an, koppeln sich Alltagserfahrungen mit Bildern aus Dantes „Inferno“. Selbst Federico Fellini wird in „La Dolce Vita“ die Welt vor den Toren, in der vieles wie eine ewige Baustelle wirkt, als Inszenierungsraum für die Sinnsuche des Marcello Rubini nutzen.

Wenn sich die Randzone bevölkert

Braucht es aber zwangsläufig die große Stadt für die Idealisierung einer Gegenwelt? Peter Handke entdeckt die Abgründe schon im Leopoldskroner Moos, am südlichen Rand von Salzburg. „Schließ die Augen und aus dem Schwarz der Lettern bilden sich die Stadtlichter“, liest man zu Beginn seines abgründigen Salzburg-Romans „Der Chinese des Schmerzes“, in dem der Erzähler vor den Vorgängen in der Stadt stets zu Fuß in die Randzonen des Städtischen im Schatten des Untersbergs flieht. Dort aber bevölkert sich die Welt ganz langsam: „Man bewegt sich in einem Schock über die kleine Kanalbrücke, gefolgt von einigen Jugendlichen auf ihren tagsüber an der Station abgestellten Fahrrädern, und betritt gemeinsam die Siedlung, die, gerade ohne Menschen, auf einmal bevölkert erscheint.“

Wohnpark Alterlaa
ORF.at/Christian Öser
Früher eine Gegend freier Felder, mittlerweile zunehmend auch rundherum und stadtauswärts verdichtet

Alterlaa, der „Außenposten“ am Rand der Stadt

Das klingt schon deutlich nüchterner als die Entdeckung der Sterne von Alterlaa bei Marco Wanda, der nach eigenen Angaben Alterlaa immer schon als einen „Außenposten“ vor Wien gesehen hat, mit einer „urargen Architektur“, sodass man darüber mal etwas habe machen müssen – mehr dazu in fm4.ORF.at. Aber vielleicht muss die Hochkultur in ihren Stadtrandentdeckungen einfach mehr leiden. Überhaupt, so scheint es, ist die Literatur nach 1945 bevölkert von Menschen, die vom Land in die Stadt kommen und dort gut zu Fuß sind.

Der Ich-Erzähler in Thomas Bernhards „Holzfällen“ rennt wie ein Irrer quer durch den Stadtraum, um während seiner Abenteuer zwischen Erdberg und Währing ständig den sicheren Schutz seines Ohrensessels herbeizuwünschen. „Niemehr im Leben habe ich so viele italienische Arien gesungen wie damals auf dem Weg von der Simmeringer Hauptstraße auf den Rennweg und über den Schwarzenbergplatz nach Währing“, rekapituliert der Erzähler seine Wege quer durch die Stadt, die doch nie am Äußersten anstreifen: der Stadtgrenze.

Auch Ingeborg Bachmann rekapituliert ja den Schutz, den die eigene Behausung am Rand des Zentrums der Stadt verbürgt. Nie zu weit weg vom eigenen Schneckenhaus, das scheint auch die Losung der Zugezogenen. Überhaupt weiß der geübte Innenstädter, dass schon Erdberg einen Unendlichabstand zum Herzen der Stadt bemessen kann. Will der Wiener mal weit raus, dann geht er bestenfalls in den Prater, um dort festzustellen: „Im Prater stinkt wieder der Bärlauch. Das sind die Tage der Hoffnung. Wenn nämlich später, wie Lehar einst sang, die Bäume blühen, dann ist das große Versprechen ja eingelöst. Dann herrscht Sicherheit. Dann muss der Mensch aus Wien nicht mehr mutig sein, wenn er ein Frühlingsgefühl zeigen will.“

Die Verschiebung der Peripherie

Der Stadtrand, er hat sich über die Jahrzehnte gerade auf dem Territorium Wiens sehr verschoben. War die „Gstättn“ früher deutlich zentrumsnaher – man denke nur an die Poetik des „Entlastungsgerinnes“ bei Helmut Qualtinger –, so ist diese deutlich weiter aus der Stadt hinausgerückt. Die erdige Stadtrandpoetik eines Dr. Kurt Ostbahn mag zwar immer noch unter keinem Gentrifizierungsverdacht stehen, solange die Innergürtelbezirke zu Dörfern in der Stadt verwandelt werden müssen; doch das „Kagran“ eines Wolfgang Ambros hat sich zur eigenen Welt in der Stadt verwandelt.

Yung Hurn muss „1220“ nicht mehr verlassen, um in diesem Bezirk nicht alle Elementarerfahrungen zu machen, die das Leben mit sich bringt. Eher bemüht der Nino aus der Spargelfeldgasse noch den bildungsbürgerlichen Topos, mit seiner Stadtrandpoetik zurück ins Zentrum zu ziehen und hier von der Welt vor an der Grenze des Urbanen zu singen (wie bei Yung Hurn können die „Schlagobersköch’“ in allen Vierteln der Stadt aktiv sein).

„Die Sterne von Alterlaa“: Neues Lied von Wanda

Wanda hat mit „Die Sterne von Alterlaa“ einen neuen Song veröffentlicht. Das Wiener Liebeslied ist bittersüß und romantisch.

Die Enden des Grätzels sind die Enden meiner Welt?

Oft sind die Wienerinnen und Wiener bewusste Bewohner eines Grätzels. Schon das Breitensee eines H. C. Artmann war eine Welt für sich, die eine eigene Sprache und Sprachcodes in einer sehr überschaubaren Welt zelebrierte. Sich aus dem Grätzel zu wagen bedeutet Wagemut und Sehnsucht nach den Abgründen: Bei Artmann liegt schon das Liebhartstal im Schatten des Wilheminenbergs im benachbarten Ottakring jenseits der Grenzen seiner Welt: „Wos wu den ana scho redn / waun a no nii draust woa / aun an ogtowadog/en libhazzdoe draustn / aun an blaun ogtowadog." (Was will einer schon reden / wenn er noch nie draußen war / an einem Oktobertag / draußen im Liebhartstal / an einem blauen Oktobertag.“)

Blick vom Baden in der Seestadt
Luiza Puiu
Ein Hauch von Massimo Vitali: Baden in der Seestadt 2021

Die Verdichtung des Stadtrandes

„Der Stadtrand bestand in Wien lange Zeit, von den 1920er Jahren bis zumindest in die 1960er Jahre, aus Gärtnereien und Einfamilienhaus-Siedlungen, ab und zu lag dazwischen ein historischer Ortskern“, erinnert der Stadtforscher Robert Temel gegenüber ORF.at. Nach Westen und Norden gab es stets die strikte Grenze des geschützten Wienerwalds; aber nach Osten und Süden, so Temel, sei die Stadt zunehmend ausgefranst. Über die Jahrzehnte seien große Wohnanlagen wie Großfeldsiedlung, Rennbahnweg, Alt-Erlaa und Schöpfwerk hinzugekommen, so erinnert Temel, außerdem Autobahnen, Gewerbe- und Industriegebiete, Infrastrukturnetze, Einkaufszentren, Mülldeponien und Kraftwerke: „Schließlich ist der Begriff ‚Zwischenstadt‘ entstanden – ein Terminus, den der deutsche Stadtplaner Thomas Sieverts in den 1990er Jahren prägte und der das beschreibt, was zwischen Stadt und Land liegt: die verstädterte Landschaft, eine wilde Mischung, in der Gegensätze oft unvermittelt aufeinanderstoßen.“

Mittlerweile verstädtere die Zwischenstadt und werde, angesichts eines Bevölkerungswachstums seit 2000 von plus 25 Prozent, immer dichter bebaut, erinnert Temel. Jahrelang seien die Wiener an den Stadtrand gezogen, um im Grünen zu leben, jetzt würden sie wieder von der Stadt eingeholt. Das sei einer der Gründe, weswegen die Stadtentwicklung in der Bevölkerung so umstritten sei. „Dabei“, so Temel, „müsste man diese Entwicklung aus der Perspektive der Nachhaltigkeit begrüßen.“ Der massive Bodenverbrauch und die hohe Zersiedlung in Österreich könne man nur dadurch reduzieren, dass anderswo, das heißt in der Stadt, dichter gebaut werde: „Freie, unbebaute Landschaft und dichte Stadt bedingen einander, Erstere gibt es nicht ohne Letztere. Insofern ist es positiv, dass der Wiener Stadtrand verdichtet wird und sich das Ausfransen ins Umland reduziert. Aber es ist negativ, dass gleichzeitig die flächenfressende und autoverkehrsintensive Bebauung mit Einfamilienhäusern rund um Wien ungebrochen weitergeht.“

Keine Planung auf der grünen Wiese möglich

„Durch die wilde Mischung aus Siedlungen, Großwohnanlagen, Infrastruktur und Industrie, die über die letzten Jahrzehnte entstand, ist keine geordnete Entwicklung wie auf der ‚grünen Wiese‘ möglich, sondern das Stadtwachstum muss in die bestehenden Lücken eingefügt werden“, erläutert Temel. Das führe manchmal dazu, dass noch stärkere Gegensätze aufeinandertreffen, „beispielsweise neue, dichte Stadtteile wie die Seestadt Aspern auf Einfamilienhaussiedlungen“.

Als Edelgenossenschaftsbau versprach Alterlaa Wohnen im Hochhaus, Schwimmbecken auf dem Dach – und ein großes Einkaufszentrum sowie Schulen ums Eck. Nach den Blöcken A und B musste eine dritte Reihe Hochhäuser umgesetzt werden. Architekt Harry Glück verwirklichte seine Idee des gestapelten Einfamilienhauses – und tatsächlich ist Alterlaa, dem man unterstellen könnte, dass es von jenen zelebriert wird, die nicht dort wohnen, nicht erst seit der Wiederentdeckung durch die Band Wanda Kult. Doch Zulauf und Zufriedenheit des Wohnens in dieser speziellen Satellitenstadt am Beinahe-Rand von Wien wirken ungebrochen. Daneben bekommt die Natur ihr Recht retour – und so darf neben Marco Wanda auch der Biber von Amore an den Gestaden des Liesingbaches träumen.