Bild zeigt ein Fahrzeug der Terrororganisation „Islamic State Group in West Africa (ISWAP)“.
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Strategieänderungen

IS baut Einfluss in Subsahara-Afrika aus

In Syrien und im Irak hat die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) fast ihre gesamte Macht verloren. Doch dafür ist sie seit geraumer Zeit in Afrika auf dem Vormarsch. Vor allem in Subsahara-Afrika konnte sie zuletzt mit erfolgreichen Angriffen, neuen Allianzen und Strategieänderungen ihre Stellung stark ausbauen. Für die Bekämpfung des IS bedeutet das nichts Gutes.

Seit etwa 2015 agiert der IS auch in Afrika südlich der Sahara. Ähnlich wie al-Kaida zuvor fungiert auch IS als „Dachmarke“ für regionale Dschihadistengruppen, die sich zunächst zur Terrororganisation bekennen und oft erst nach und nach tatsächliche Kontakte haben. Auch bei den derzeit agierenden islamistischen Milzen sind Verbindungen zur IS-Führung sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Dieses „Franchise“-System bietet für beide Seiten Vorteile: Die lokalen Dschihadistengruppen, die sich ansonsten vorwiegend auf lokale Ziele konzentrieren, nutzen laut „Foreign Policy“ den „Ruf“ der Marke „Islamischer Staat“ sowie später, wenn es tatsächliche Zusammenarbeit gibt, die damit verbundenen Ressourcen wie Finanzierung, Ausbildung und eine weltweite Propagandaplattform in den sozialen Netzwerken.

Libyen als Brückenkopf

Der IS seinerseits könne „sich auf den Erfolg seiner Zweigorganisationen berufen, selbst wenn seine Kernorganisation im Irak und in Syrien und Franchise-Gruppen in Ländern wie Libyen und Afghanistan mit Rückschlägen zu kämpfen haben“ heißt es in „Foreign Policy“.

Als Brückenkopf in Afrika zum IS im Nahen Osten dient Libyen, dort haben sich auch aus Syrien und dem Irak geflüchtete Milzen niedergelassen. In dem Land, in dem es in weiten Teilen keine funktionierende Staatsmacht gibt, können sie fast beliebig schalten und walten.

IS „übernimmt“ Boko Haram

Die vielleicht markantesten Ereignisse spielten sich in den vergangenen Wochen in Nigeria ab: Anfang Juni wurde bekannt, dass der Anführer der Terrororganisation Bako Haram, Abubakar Shekau, getötet wurde oder sich, nachdem er in einen Hinterhalt geriet, selbst in die Luft sprengte. Angegriffen wurde Shekau ausgerechnet von der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat Provinz Westafrika (ISWAP), die bis 2016 noch Teil von Boko Haram war, sich dann aber mit der Gruppe verwarf und mit Unterstützung des IS eine rivalisierende Miliz aufzog.

ISWAP-Chef Abu Musab al-Barnawi will nun offenbar Boko Haram in seine Gruppe einverleiben: Vor einigen Tagen wurden Videos öffentlich, in der ehemalige Boko-Haram-Kämpfer sich nun zu Barnawi bekannten, der noch dazu der Sohn von Boko-Haram-Gründer Mohammed Yusuf ist. Unklar ist, ob der neue mutmaßliche neue Boko-Haram-Chef Bakura Modu die feindliche Übernahme verhindern kann, weitere Auseinandersetzungen werden erwartet.

Positionierung als Schutzmacht

Barnawi will jedenfalls eine gänzlich andere Strategie verfolgen als Shekau, der unter der Zivilbevölkerung Angst und Schrecken verbreitete. Er scheint darauf zu setzen, die lokale Bevölkerung zu unterstützen. Tonbandaufnahmen von Reden von Barnawi, der im Vergleich zu anderen ISWAP-Kommandeuren als gebildeter und relativ moderat gilt, legen laut „Guardian“ nahe, dass er etwa die Behandlung von Kindern in den lokalen Gemeinden verbessern will. Bisher hatte Boko Haram auch mit der Entführung von Schülerinnen und Schülern das Land terrorisiert – erst vergangene Woche wurden wieder mehr als 100 im Bundesstaat Kaduna entführt.

In den vergangenen Wochen öffnete ISWAP Weidegebiete für Hirten, entließ Gefangene aus den Gefängnissen und begann, in einigen von ihr kontrollierten Gebieten religiöse Steuern von den Wohlhabenden zu erheben, heißt es im „Guardian“. Offenbar versucht die Gruppe, Zonen der „Dschihad-Regierung“ zu schaffen und damit eine Konkurrenz zu den oftmals schwachen, korrupten und ineffizienten nationalen Behörden zu schaffen. Hat die Terrororganisation dann eine Verankerung in der Bevölkerung, ist sie noch schwieriger zu bekämpfen.

Wenig Aufwand, große Wirkung

Vincent Foucher, Experte für islamistischen Extremismus in Nigeria beim französischen Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung, sagte dem „Guardian“, Barnawi handle dabei auf direkte Anweisung der IS-Führung im Nahen Osten. „Für eine Organisation wie den IS ist Subsahara-Afrika der Ort, an dem man mit minimalen Investitionen von Ressourcen viel Wirkung erzielen kann. Das ist einer der wenigen Orte auf der Welt, wo der IS tatsächlich ein Gebiet von vielen tausend Quadratkilometern kontrolliert.“

Mit der Strategie zwischen Unterstützung und notfalls Gewalt hat ISWAP schon jetzt seine Reichweite vom Nordosten Nigerias weit über die Sahelzone ausgebaut – mit einem Territorium, das sich nun über Tausende von Kilometern bis zur libyschen Grenze im Norden und bis zu Teilen Benins und Ghanas im Süden erstreckt. Boko Haram ist wiederum nicht nur im Norden Nigerias, sondern auch in Tschad, Niger und Kamerun aktiv. Fusionieren die beiden Gruppen, hätten sie ein enorm großes beherrschtes Gebiet – und das mit nur ein paar tausend Kämpfern.

Aktionen auch in angrenzenden Ländern

Rida Lyammouri, Analyst am Policy Centre for the New South in Marokko, sagte gegenüber dem „Guardian“, die Dschihadisten würden versuchen, für „Recht und Ordnung“ zu sorgen und damit in den lokalen Gemeinschaften zu punkten. So wird berichtet, lokale Milizen würden etwa in Mali an der Grenze zu Niger wie auch in Burkina Faso Standgerichte gegen Kriminelle abhalten. In Niger bekämpfen Dschihadisten Milizen, die von lokalen Behörden gegründet wurden, um gegen sie vorzugehen. Überhaupt hat die Zahl der Angriffe mit vielen Toten in Niger, Burkina Faso und Mali stark zugenommen.

Pulverfass Mali

Und Mali ist auch jenes Land, dessen Zukunft völlig offen scheint. Seit Jahren kommt der afrikanische Staat nicht zur Ruhe. Eine Vielzahl an dschihadistischen Milizen, die teils dem IS, teils al-Kaida verbunden sind, destabilisieren die Lage. Im Norden des Landes probten zuletzt 2012 die Tuareg den Aufstand gegen die Zentralregierung. Im Vorjahr wurde Präsident Ibrahim Boubacar Keita per Putsch gestürzt, Putschistenführer Assimi Goita wurde Anfang Juni als neuer Übergangspräsident vereidigt.

Bild zeigt einen deutschen Soldaten in der Nähe von Mali.
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Auch UNO-Soldaten sind in Mali stationiert. Vor wenigen Wochen wurden 13, darunter zwölf Deutsche, bei einem Anschlag verletzt.

Ex-Kolonialmacht Frankreich setzte zuletzt seine gemeinsamen militärischen Einsätze mit Mali gegen Islamisten aus, Präsident Emmanuel Macron will das gesamte Sahel-Engagement reduzieren. Schon heuer soll das Kontingent von rund 5.100 Soldaten etwa halbiert werden. Sollten sich die teilweise zerstrittenen Milizen zusammentun, könnte das Land in eine noch tiefere Krise gestürzt werden.

Brutales Vorgehen in DR Kongo und Mosambik

Noch eine völlig andere Strategie als ISWAP verfolgen militante Islamisten in der Demokratischen Republik Kongo und in Mosambik. Dort gehen mehrere Gruppen äußert aggressiv vor, unter anderem die in Uganda gegründeten, aber im Kongo operierenden Allied Democratic Forces (ADF) und die als al-Schabab bekannte Dschihadistengruppe, die jedoch keine direkten Verbindungen zu der gleichnamigen somalischen Dschihadistenmiliz haben soll.

2019 verkündete der IS die Gründung des zentralafrikanische Ablegers ISCAP, der damit wohl als Sammelbezeichnung für alle Dschihadisten der Region dienen soll. Einzelne Gruppen betonen zwar auch ihr Bekenntnis zur Terrororganisation, Experten bezweifeln allerdings, dass es tatsächlich enge Verbindungen gibt. Im Kongo wurde im Mai eine Reihe von blutigen Massakern an Zivilisten ohne ein offensichtliches strategisches Ziel verübt.

Mosambik als neuer Unruheherd

In Mosambik haben islamistische Aufständische, die die schwarze Flagge des IS führen, de facto die Kontrolle über einen Großteil der unruhigen Provinz Cabo Delgado. Seit rund drei Jahren gibt es immer wieder Kämpfe, Tausende Menschen sind geflohen. Im März brachten sie das Küstenstädtchen Palma unter ihre Kontrolle. In unmittelbarer Nähe befindet sich ein internationales Erdgasgroßprojekt, das vom französischen Ölriesen Total und dem US-Konzern ExxonMobil betrieben wird. Nach dem Angriff wurden ausländische Arbeiter in Sicherheit gebracht, wie es mit dem Milliardenprojekt weitergeht, ist offen.

Eine Gruppe Frauen nach der Flucht aus Palma in Mozambique.
APA/AFP/Alfredo Zuniga
Frauen aus Palma auf der Flucht

EU und Anti-IS-Koalition richten Blick auf Afrika

Der Vormarsch des IS in Afrika hat längst auch die internationale Politik auf den Plan gerufen: Im März hatte die US-Regierung mehrere Gruppen im Kongo und in Mosambik als globale Terrororganisationen eingestuft, sie würden ein „bedeutendes Risiko“ darstellen. Im Juni berieten die EU-Außenminister über einen gemeinsamen Anti-Terror-Einsatz in Mosambik, der am Montag beschlossen wurde: Soldaten aus EU-Staaten, allen voran aus Portugal, sollen künftig mosambikanische Streitkräfte ausbilden. Diese sollen so in die Lage versetzt werden, die Zivilbevölkerung effizienter zu schützen.

Auf regionaler Ebene wurde bereits früher gehandelt: Die Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika (SADC) erteilte einer mehrere tausend Mann starken Bereitschaftstruppe das Mandat, die bei der Bekämpfung der Terrorattacken unterstützen soll.

Und Ende Juni stand bei einem Treffen der 83 Staaten und internationalen Organisationen der Anti-IS-Koalition in Rom die Entwicklung in Afrika ganz oben auf der Tagesordnung. Man sei „tief besorgt“ über die Aktivitäten der Terroristen in der Sahel-Zone und im ostafrikanischen Mosambik, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Der US-Außenminister Antony Blinken stellte sich hinter eine Initiative Italiens, eine internationale Einsatztruppe gegen die Milizen in Afrika ins Leben zu rufen.