Heimpflegerin kümmert sich um Klientin
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24-Stunden-Betreuerinnen

Ruf nach Ende der „Ausbeutung“

24-Stunden-Betreuerinnen und -Betreuer sind immens wichtig für das österreichische Pflegesystem. Eine Wertschätzung ist allerdings kaum sichtbar. Im Gegenteil müssten sie mit Einkünften unter dem Mindestlohn, übermäßig langen Arbeitszeiten, Diskriminierung und Belästigung am Arbeitsplatz rechnen, heißt es von Amnesty International. Der Ruf nach einer raschen Kurskorrektur wird lauter.

In Deutschland fiel vor einer Woche ein bahnbrechendes Urteil für den Pflegebereich: Den zumeist aus Osteuropa stammenden Frauen, die als 24-Stunden-Betreuerinnen in privaten Haushalten tätig sind, stehe der gesetzliche Mindestlohn zu – auch für Bereitschaftszeiten, verkündete das Bundesarbeitsgericht. Österreich ist da scheinbar schon weiter: Hier sind ein Mindestlohn und Arbeitszeitregelungen einschließlich Höchstarbeitszeitgrenzen gesetzlich vorgesehen.

Allein, profitieren können davon lediglich knapp zwei Prozent der derzeit über 60.000 24-Stunden-Betreuerinnen und -Betreuer. Sie sind auch tatsächlich angestellt, entweder direkt von der Person, um die sie sich kümmern, oder von einer nicht gewinnorientierten Organisation. Der große Rest ist selbstständig oder vielmehr scheinselbstständig, wie Amnesty International am Donnerstag bei der Präsentation eines neuen Berichts kritisierte.

„Verschleierte Arbeitsverhältnisse“

Und genau in dieser fälschlichen Einordnung – die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) spricht dabei von „verschleierten Arbeitsverhältnissen“ – liege das Hauptproblem, sagte Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von AI Österreich. Zwar verfügten die selbstständigen 24-Stunden-Betreuerinnen über einen Gewerbeschein, in der Ausgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen und im Ausverhandeln ihres Honorars seien sie aber von den Vermittlungsagenturen und den zu betreuenden Personen abhängig. Schlack: „Das rechtliche Rahmenwerk in Österreich lässt Ausbeutung von 24-Stunden-Betreuerinnen im großen Stil zu, und das, obwohl sie eine wichtige Säule des heimischen Pflegesystems darstellen.“

„Die Betreuerinnen befinden sich in einer Lose-lose-Situation“, sagte auch die Studienbeauftragte von AI, Teresa Hatzl. Sie würden nicht die Vorteile der Selbstständigkeit nützen können, gleichzeitig seien sie vom Arbeitnehmerschutz, wie etwa Mindestlohn, geregelten Arbeitszeiten und Zugang zu Krankengeld ausgesperrt. Das Menschenrecht auf angemessene Arbeitsbedingungen, fairen Lohn und soziale Sicherheit sei damit nicht garantiert.

Arbeiten wie ein Roboter

Ruhezeiten würden oftmals nur auf dem Papier existieren, sagte Hatzl, die für den Bericht auch 13 Betreuerinnen interviewte: „Nachts haben sie Rufbereitschaft. Das Recht auf Ruhezeit und die gesetzlichen Vorgaben zu maximalen Arbeitszeiten, Urlauben, Feiertagen gelten für sie nicht. In diesem Zusammenhang erzählten uns Betreuerinnen auch, dass sie sich gar nicht wie Menschen behandelt fühlen, sondern wie Maschinen und Roboter. Katharina erzählte uns, dass ein Klient um drei Uhr nachts einmal zu ihr sagte, dass sie doch eine 24-Stunden-Betreuerinnen sei und er sie nicht fürs Schlafen bezahle. Außerdem bedeutet es, dass Betreuerinnen bei Arbeitslosigkeit oder Krankheitsfall schlecht versichert sind und sich im schlimmsten Fall verschulden.“

Der Entscheidung von AI, sich mit der Situation von 24-Stunden-Betreuerinnen eingehend zu befassen, ist der CoV-Krise geschuldet. In Österreich sind mehr als 92 Prozent der Kräfte Frauen, über 98 Prozent kommen aus dem Ausland, in erster Linie aus Rumänien und der Slowakei. Üblicherweise arbeiten sie für Zeiträume von zwei oder vier Wochen in Österreich und kehren dann kurzzeitig wieder in ihre Heimatländer zurück.

Ausbeutung bei 24-Stunden-Pflege

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert nun Fairness für 24-Stunden-Pflegende. Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Österreich würden oftmals zu Ausbeutung führen. Es fehle an Arbeitsschutz und angemessener Bezahlung.

Pandemie verstärkte Misere

Während der Akutphase der Pandemie verschlechterte sich ihre Lage deutlich. Aufgrund der Reisebeschränkungen konnten viele zu den üblichen Turnussen nicht nach Hause fahren und waren gezwungen, mehrere Wochen durchzuarbeiten. Umgekehrt konnten die zu betreuenden Personen von Verwandten und Bekannten nur eingeschränkt besucht werden – die Betreuerinnen mussten in der Folge wochenlang und in 24-Stunden-Rufbereitschaft arbeiten.

Eszter aus Rumänien etwa sagte AI, dass sie während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 dreieinhalb Monate am Stück gearbeitet hat – bis sie zusammenbrach. Beim Zugang zu den CoV-Unterstützungsmaßnahmen hatten die Betreuerinnen mit etlichen bürokratischen Hürden zu kämpfen.

Einkommensschere schließt sich nicht

Amnesty weist in dem Bericht auch auf ein strukturelles Problem hin: „Der Gender Pay Gap ist hierzulande mit über 19 Prozent einer der höchsten in Europa. Migrantinnen erhalten sogar 26,8 Prozent weniger Lohn als österreichische Staatsbürgerinnen. Arbeitsmigrantinnen sind also doppelt gefährdet für prekäre Arbeitsbedingungen – aufgrund ihres Geschlechts und aufgrund ihrer nicht-österreichischen Staatsbürgerschaft. Das heißt nicht nur geringere Entlohnung, wenig arbeitsrechtlicher Schutz und weniger soziale Sicherheit, sondern auch häufige Fälle von Diskriminierung und zum Teil sexueller Belästigung.“

Die Rolle der 24-Stunden-Betreuerinnen werde also weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich oder politisch wertgeschätzt – geschweige denn angemessen bezahlt, hieß es von AI. Häufig liege ihre Bezahlung weit unter dem Mindestlohn: Slowakische Betreuerinnen in Österreich etwa erhielten im Durchschnitt 10.080 Euro pro Jahr (Werte aus dem Jahr 2016), während der Mindestlohn für angestellte Betreuerinnen in Österreich bei 17.484 Euro jährlich liege.

Auch Flavia Matei von der IG 24, einer Interessengemeinschaft für Pflegekräfte, sagte im Ö1-Mittagsjournal am Mittwoch: Das Paradoxe in dem jetzigen Betreuungssystem sei, dass davon ausgegangen werde, „dass die Betreuerinnen als Selbstständige starke Verhandlungspartnerinnen sind und ihre Arbeitsbedingungen und ihre Honorare ausverhandeln können. Die Realität ist aber nicht so, in der Realität sind sie das schwächste Glied in der Kette, und befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Vermittlungsagenturen. Deswegen bleiben den Betreuerinnen am Ende nur zwei bis drei Euro pro Stunde. Und sie haben, wie gesagt, keine soziale Absicherung.“

Ruf nach rechtlichem Rahmenwerk

Was also tun? Es brauche ein rechtliches Rahmenwerk, das sicherstellt, dass alle Betreuungskräfte – ob selbstständig oder unselbstständig – „sichere und faire Arbeitsbedingungen vorfinden“, hieß es am Donnerstag von AI. Auch müssten bundesweit Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten geschaffen werden, darüber hinaus brauche es Unterstützungsangebote für Betreuerinnen in deren eigener Sprache.

Es müsse zu einer flächendeckenden Zertifizierung von Agenturen kommen, bei der auch die Einhaltung der Rechte der Personenbetreuungskräfte berücksichtigt werden. Und bei der kommenden Pflegereform müssten auch die Stimmen der Betroffenen gehört werden.

„24 Stunden – Unverzichtbar“

AI startete am Donnerstag dazu die Kampagne „24 Stunden – Unverzichtbar“, mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Stimmen der Betreuungskräfte „sichtbar zu machen“, wie Schlack erklärte. Über die AI-Website ist es möglich, eine Petition zu unterzeichnen, mittels derer die Politik aufgefordert wird, einen menschenrechtskonformen Rahmen für die 24-Stunden-Betreuung in Österreich zu schaffen. Zu finden ist auf der AI-Seite auch eine Checkliste, wie es um die sozialen Vorgaben der Vermittlungsagenturen bestellt ist.

Flavia Matai ließ anklingen, dass es wohl weitere Entwicklungen geben werde: „Ich gehe definitiv auch von Klagen in Österreich aus. Die gesamte Branche sieht sich das deutsche Urteil gerade genau an und zieht daraus ihre Schlüsse.“