Frau mit MNS in Quarteira, Portugal
Reuters/Pedro Nunes
Neuinfektionen steigen

WHO mahnt Europa zu Disziplin

Die CoV-Neuinfektionen in Europa nehmen nach zehnwöchigem Rückgang erstmals wieder zu. Wegen „Reisen, Zusammenkünften und Lockerungen der sozialen Beschränkungen“ seien die Zahlen letzte Woche um zehn Prozent gestiegen, so der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, am Donnerstag in Kopenhagen. Europa drohe eine neue Pandemiewelle, „es sei denn, wir bleiben diszipliniert“.

Während Österreich, Deutschland, Italien und viele weitere Länder in Europa ihre CoV-Maßnahmen wegen guter Inzidenzen zurückgeschraubt haben, haben Länder wie Portugal und Großbritannien bereits mit einer Zunahme an Infektionen zu kämpfen. Die Entwicklung wird insbesondere auf die Ausbreitung der hochansteckenden, zuerst in Indien entdeckten Delta-Virusvariante zurückgeführt.

Delta verdränge die zunächst in Großbritannien festgestellte Alpah-Variante „sehr schnell“, sagte Kluge bei der Pressekonferenz am Donnerstag. Die EU-Krankheitsbekämpfungsbehörde ECDC hatte vergangene Woche prognostiziert, die Delta-Variante könnte bis Ende August 90 Prozent der CoV-Neuinfektionen in Europa ausmachen.

WHO: Impfkampagnen nirgendwo ausreichend weit

Auch für seinen Zuständigkeitsbereich, der 53 Länder und Gebiete in Europa und auch Zentralasien umfasst, rechnet Kluge damit, dass Delta vorherrschend wird. In keinem der Länder sei die CoV-Impfkampagne so weit gediehen, dass sie den notwendigen Schutz vor der Delta-Ausbreitung biete, sagte er.

WHO Europadirektor Hans Kluge
APA/AFP/Alexander Atsafyev
Kluge sorgt sich, dass die Impfungen nicht schnell genug gehen, um die Ausbreitung der Delta-Variante einzudämmen

In der WHO-Region Europa liegt der Anteil der Geimpften an der Bevölkerung seinen Angaben zufolge bei 24 Prozent. Die Hälfte der älteren Menschen und 40 Prozent der Mitarbeiter im Gesundheitssektor seien noch nicht immunisiert worden. „Das ist inakzeptabel und es ist weit weg von der empfohlenen Abdeckung von 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung“, kritisierte Kluge.

Fußball-EM als Superspreader-Event?

Die WHO forderte außerdem bessere Maßnahmen, um eine Ausbreitung des Coronavirus durch Zuschauerinnen und Zuschauer der Spiele der Fußball-EM zu verhindern. „Wir müssen viel weiter schauen als nur auf die Stadien“, sagte die Notfallbeauftragte der WHO Europa, Catherine Smallwood, in Kopenhagen.

Auch die Anreise der Fans etwa in Bussen und die Einhaltung individueller Schutzmaßnahmen müsse in den Blick genommen werden. Das gelte ebenso für Menschenansammlungen nach den Spielen, etwa das gemeinsame Feiern von Fans in vollen Lokalen. Es sei bekannt, dass „große Massenzusammenkünfte als Beschleuniger bei der Übertragung“ wirken könnten, sagte Smallwood. Das sei nicht nur bei der EM, sondern auch bei anderen Großveranstaltungen zu beachten. Auf die Frage, ob die EM ein Superspreader-Event sei, antwortete Kluge: „Ich hoffe nicht (…). Aber das ist nicht auszuschließen.“

Fans bei der FUßball-EM 2021
AP/Justin Tallis
Massenfeiern bei der Fußball-EM seien in Zeiten der Pandemie bedenklich, heißt es von den WHO-Vertretern

In den vergangenen Wochen wurden bereits Hunderte CoV-Infektionen unter EM-Stadionbesucherinnen und -besuchern registriert, unter anderem bei Schottinnen und Schotten nach ihrer Rückkehr aus London sowie bei Finninnen und Finnen nach einem Besuch in St. Petersburg. Trotz der gegenwärtig starken Ausbreitung der Delta-Variante in den beiden Städten finden das EM-Viertelfinale Schweiz gegen Spanien am Freitag in St. Petersburg und die Halbfinal-Spiele und das Endspiel in London statt.

Blick nach Israel

In Österreich sind die Fallzahlen unterdessen weiterhin rückläufig. Die 7-Tage-Inzidenz lag am Donnerstag bei 7,3 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Allerdings nimmt auch hierzulande der Anteil der Delta-Variante an den Neuinfektionen zu. Dennoch setzte Österreich auf Öffnungen und Lockerungen. Bundekanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte am Mittwoch beim Pressefoyer des Ministerrates gar, die Pandemie sei für alle Geimpften vorbei.

Dass dem nicht so ist, zeigt ein Blick in das Impfvorzeigeland Israel, in dem rund 60 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind (in Österreich sind es derzeit rund 35 Prozent). Trotzdem steigt in Israel die Quote der Neuinfizierten. 307 Personen seien am Vortag positiv getestet worden, teilte das dortige Gesundheitsministerium am Donnerstag mit. Zuletzt wurden Anfang April mehr als 300 CoV-Neuinfektionen an einem Tag festgestellt. Der größte Teil steht im Zusammenhang mit der Delta-Variante. Viele der Infizierten sind jüngere Menschen.

Laut Medienberichten erwarten Vertreterinnen und Vertreter des Gesundheitsministeriums in der kommenden Woche sogar einen Anstieg auf 500 bis 600 Fälle pro Tag. Israels Innenministerin Ajelet Schaked drohte bereits damit, den internationalen Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv erneut zu schließen, sollten die Neuinfektionen weiter steigen. Die Zahl der schwer an Covid-19 Erkrankten stieg jedoch nur leicht auf 29. Seit rund einer Woche ist kein Todesfall mehr im Zusammenhang mit dem Coronavirus in Israel registriert worden.

Mückstein verspricht „sicheren Herbst“

„Natürlich“ würden die Zahlen „irgendwann“ wieder zu steigen beginnen, sagte Kurz am Mittwoch. Das werde aber „hoffentlich“ nicht zur Überbelastung der Spitäler führen – der Kanzler verwies auf die hohe Durchimpfungsrate der älteren Bevölkerung. „Es wird ein sicherer Herbst werden“, gab sich auch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) überzeugt, appellierte aber gleichzeitig, sich an die „3-G-Regel“ zu halten.

Impfstoff wird jedenfalls genügend zur Verfügung stehen, auch da eine Auffrischung frühestens im Oktober notwendig sein wird, wie der Gesundheitsminister sagte. „Der Impfstoff ist kein knappes Gut mehr“, so auch der Kanzler. Laut Mückstein können alleine in den kommenden beiden Wochen eine Million Erststiche durchgeführt werden. Damit wären dann 75 Prozent der Bevölkerung zumindest erstgeimpft. Kritik kam dazu von der SPÖ, weil die Regierung ihr Versprechen einer Immunisierung für alle im ersten Halbjahr nicht einhalten kann.