Menschen mit Mundschutz in London
APA/AFP/Tolga Akmen
Großbritannien

Erste Lehren aus der Delta-Welle

Mit der Delta-Variante auf dem Vormarsch droht eine vierte Coronavirus-Welle, zumindest wenn man sich die Zahl der positiv getesteten Fälle ansieht: In Großbritannien ist diese Entwicklung deutlich, auch in Portugal zeichnet sie sich ab. Doch vergleichbar mit der zweiten und dritten Welle ist sie kaum – vor allem aufgrund der Impfungen.

Die ursprünglich in Indien aufgetretene Delta-Variante ist – das lässt sich vor allem mit Daten aus Großbritannien belegen – wesentlich ansteckender als Alpha, die zuvor britische Variante genannt wurde. Diese wiederum war bereits wesentlich ansteckender als die ursprüngliche Wildvariante. In Großbritannien hat Delta schon fast alle anderen Varianten verdrängt und macht 97 Prozent der Fälle aus, in anderen europäischen Ländern zeichnet sich diese Entwicklung auch ab – und das sehr schnell.

Allerdings, und das zeigen die Daten vor allem aus Großbritannien, gehen zwar die festgestellten Infektionen stark nach oben, die Zahl der Hospitalisierten steigt aber viel weniger stark als in den Wellen davor. Auch in Portugal, das in einigen Hotspots wie in der Hauptstadt Lissabon, schon stark von der Delta-Variante betroffen ist, zeigt sich diese Tendenz. In Großbritannien ist sie allerdings signifikanter, weil sich Delta dort schon länger verbreitet – und die Hospitalisierungen und Belegungen der Intensivstationen sich immer erst nach einiger Zeit manifestieren.

Steilere und flachere Kurven

Der britische „Guardian“ hat die Infektionskurve von jetzt mit jener der vergangenen Welle verglichen. Dabei zeigt sich, dass die Kurve mit der Delta-Variante – trotz Impfungen und vielen Genesenen – weit schneller steigt – mit zuletzt knapp 25.000 neuen positiven Fällen an einem Tag. Vor dem Wochenende waren es schon jeweils rund 28.000. Umgekehrt sind die Kurven der Hospitalisierten und Verstorbenen deutlich flacher, auch wenn hier ebenfalls ein Anstieg zu sehen ist.

Grafik zu den Coronavirus-Wellen in Großbritannien
Grafik: ORF.at; Quelle: theguardian.com/data.gov.uk
Der Vergleich der Kurven der ersten 90 Tage: In GB spricht man von zweiter Welle von Herbst bis Frühjahr 2021. In Österreich unterscheidet man in dem Zeitraum wegen einer Ruhephase dazwischen eine zweite und dritte Welle.

Derzeit sind in Großbritannien rund 50 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, 67 Prozent haben mindestens eine Impfdosis erhalten. Dazu kommen knapp fünf Millionen Menschen, bei denen eine Infektion nachgewiesen wurde, die sie überstanden haben. Analysen von Blutspenden legen laut Public Health England (PHE) nahe, dass sogar rund 15 Prozent der Erwachsenen Antikörper durch eine Infektion haben. Insgesamt sollten also mehr als 80 Prozent der Erwachsenen Antikörper haben – dafür ist der Anstieg der nachgewiesenen Infektionen erstaunlich.

Impfungen mit zwei Wirkungsebenen

Dass es weniger schwere Fälle bei Delta gibt, hat wohl mehrere Gründe. Dass die Variante selbst „harmloser“ ist, ist allerdings wohl nicht der Fall. Daten wie eine in „Lancet“ veröffentlichte Studie deuten eher auf das Gegenteil hin, sind aber schwer zu belegen, weil andere Effekte diesen überlagern – vor allem die Impfungen. Und diese wirken auf zwei Ebenen, die unterschieden werden müssen.

Defintion der Wirksamkeit

Die Wirksamkeit eines Impfstoffes wird durch das Verhältnis von geimpften zu nicht geimpften Infizierten definiert. Vereinfacht gesagt: Wenn von zehn Infizierten einer geimpft war, ergibt sich eine Wirksamkeit von 90 Prozent. Das heißt aber nicht, dass sich von zehn Geimpften durchschnittlich einer infiziert.

Zunächst unterbinden sie Infektionen. Wie hoch diese Wirksamkeit ist, variiert von Studie zu Studie und von Impfstoff zu Impfstoff. Fest steht aber, dass sich geimpfte signifikant seltener anstecken. PHE schätzt in seinem aktuellsten zweiwöchentlichen Bericht zum Impffortschritt die Wirksamkeit vor einer Infektion bei einer Dosis zwischen 60 und 70 Prozent ein. Für zwei Impfungen würden nur Daten von Biontech und Pfizer vorliegen, die einen Wirksamkeit von 70 bis 90 Prozent ausweisen. Schönheitsfehler: Die Studien basieren auf einem Zeitraum, in dem die Alpha-Variante dominant war.

Impfung macht schwere Verläufe viel seltener

Solche Berechnungen sind auch methodisch schwierig. Das gilt vor allem auch für die Frage, in welchem Ausmaß die Impfung unterbindet, dass angesteckte Geimpfte das Virus weiterverbreiten können. Erste Daten legen hier eine Wirksamkeit von rund 50 Prozent nahe.

Die zweite Wirkung der Impfung ist, dass sie schwere Erkrankungen unterbindet. Bei den mRNA-Impfstoffen von Moderna und Pfizer liegt sie bei rund 90 Prozent – zumindest bei den Varianten, zu denen es bisher Studien gibt. PHE ist in den Berichten teilweise noch optimistischer und geht anhand der englischen Daten von 95 Prozent und mehr aus. Ähnlich verhält es sich bei AstraZeneca und Johnson & Johnson, wenngleich mit einer leicht geringeren Wirksamkeit.

Erste Studien legen nahe, dass die Impfstoffe ähnlich, vielleicht leicht schwächer, gegen die Delta-Variante wirken. Der Impffortschritt sorgt also für weit weniger Hospitalisierungen. Vor einem Jahr, als die Impfungen noch in weiter Ferne schienen, ging man davon aus, dass die Impfungen womöglich deutlich weniger wirksam sein könnten.

Junge Infizierte, weniger Spitalsaufenthalte

Dass die Infektionszahlen in mehreren Ländern jetzt in die Höhe schnellen, liegt vor allem an den noch nicht Geimpften – und das sind die Jungen, die in der Reihenfolge erst nach und nach an die Reihe kommen. Die Jungen erkranken wiederum wesentlich seltener schwer. Auch wenn immer wieder betont wurde, dass auch junge Menschen ohne Vorerkrankungen auf Intensivstationen landen, sind es statistisch gesehen recht wenige. Und das ist ein weiterer Grund, wieso auch trotz höherer Infektionszahlen die Spitalsbelegung in Großbritannien deutlich unter jener der vergangenen Wellen bleibt.

Geimpft und infiziert: Eine Frage der Statistik

Dass sich auch vollständig Geimpfte anstecken, ist statistisch gesehen nicht überraschend. Hat ein Impfstoff eine Wirksamkeit gegen eine Ansteckung von – als Beispiel – 90 Prozent, dann heißt das, die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu werden, ist mit einer Impfung um 90 Prozent geringer. Berechnet wird die Wirksamkeit aus dem Vergleich der Anteile von positiv getesteten Geimpften mit den Anteilen der positiv getesteten nicht Geimpften. Daraus ergibt sich vereinfacht gesagt, dass bei einer Wirksamkeit von 90 Prozent durchschnittlich einer von zehn Infizierten geimpft war und dennoch infiziert wurde. Und von diesen können wiederum auch – je nach Wirksamkeit des Impfstoffes gegen schwere Erkrankung – einige eine Spitalsbehandlung benötigen und wiederum einige sogar versterben.

Das höchste Risiko tragen dabei im Wesentlichen dieselben Gruppen wie bisher: Menschen mit Vorerkrankungen und Ältere. Die Größenordnung ist allerdings eine ganz andere: Das Risiko wird durch die Impfungen stark gesenkt – die Zahl der Betroffenen steigt aber natürlich mit der Zahl der Infektionen.

Schwierige Entscheidungen für die Politik

Nun stellt sich die Frage, wie die Politik mit dieser Situation umgeht. Großbritannien hält nach ersten Verschiebungen – vorerst noch – an den Öffnungsplänen fest. Argumentiert wird eben, dass die Krankheitsverläufe dank Impfungen im Regelfall eher glimpflich verlaufen. In anderen Teilen Europas, so auch in Österreich, könnte sich die Frage ebenfalls recht rasch stellen. Ein größerer Faktor als bisher werden wohl die Kosten der Pandemiebekämpfung werden, sowohl, was die staatlichen Ausgaben für finanzielle Unterstützungen und medizinische Dienste wie Tests betrifft, als auch die Entwicklung der Wirtschaft.

Vermeintlich leichter für die Politik kann es zu einem Zeitpunkt sein, wenn alle Impfwilligen auch ihre Dosen erhalten haben: Als Argumentationslinie ist denkbar, dass alles getan wurde und dann die Individuen für sich selbst verantwortlich sind. Das geht wohl, solange die Infektionszahlen nicht eine dermaßen kritische Größe erreichen, dass auch wieder viele Geimpfte betroffen sind.

Absehbar ist jedenfalls eines: Die Debatte wird sich vor allem um jene drehen, die noch nicht geimpft sind und auch teilweise noch nicht geimpft werden können: Kinder und Jugendliche. Und das hat sich in den vergangenen Monaten schon als eines der kontroversiellsten Themen der Pandemie herausgestellt: Maßnahmen im Bildungsbereich (Stichwort: mögliche Schulschließungen und Distance-Learning) sowie Impfungen für Kinder und Jugendliche.