Romeo Castellucci 2021 in Salzburg
Salzburger Festspiele / Anne Zeuner
Romeo Castellucci

„Don Giovanni ist ein rabiates Kind“

Der Countdown läuft für eine der Inszenierungen dieses Sommers. Und es liegt Potenzial für Erregungen in der Luft, wenn Regisseur Romeo Castellucci und Dirigent Teodor Currentzis den „Don Giovanni“, die Oper aller Opern, bei den Salzburger Festspielen neu erschließen möchten. Als großen, unlösbaren Mythos sieht jedenfalls Castellucci im Interview den Giovanni. Seine Brutalität sei die eines um sich schlagenden Kindes, nicht die eines männlichen Alphatieres. Und alles, was man über die Struktur des Begehrens in dieser Oper lerne, erzähle mehr von einer Unerreichbarkeit denn einer Erfüllung. Und dennoch: Salzburger Frauen werden sich auf der Bühne in einer Hundertschaft diesem Kerl entgegenstellen.

Der „Don Giovanni“, der bei den Salzburger Festspielen am 26. Juli Premiere haben und hoffentlich auch im Fernsehen mit zu erleben sein wird, könnte bisherige Gewohnheiten im Umgang mit dem Stoff infrage stellen. Currentzis wird die musikalische Leitung innehaben, Castellucci feiert nach der gewaltigen Salzburger „Salome“ ein Comeback in der Mozartstadt – und möchte vor allem die Salzburgerinnen als Gegenüber zur Figur des Don Giovanni auf der Bühne in Stellung bringen. Da es um veränderte Sehgewohnheiten, aber nicht zuletzt um die Einstellung des Regisseurs zum Stoff geht, wollte ORF.at im Vorfeld wissen, mit welchen Überlegungen Castellucci in die Produktion geht. Nicht zuletzt auch, weil ja die Pandemie die Inszenierung dieses Schlüsselwerks unterbrochen hat. Und ebenso infrage steht, wie sehr die Erfahrungen der letzten Monate eine Neuausrichtung der Bühnenkonzeption mit sich gebracht haben könnten. „Diese Oper vollzieht sich auf einem heimtückischen Gelände“, sagt Castellucci und rät, vor allem deren Widersprüche auszuhalten. Für ihn wird auch deutlich, warum wir das Kind Don Giovanni gerade wegen seiner Fehlerhaftigkeit lieben.

ORF.at: Herr Castellucci, wie würden Sie Ihren Zugang zum Mythos des „Don Giovanni“ beschreiben?

Romeo Castellucci: Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass „Don Giovanni“ tatsächlich ein Mythos ist und für mich als solcher behandelt werden muss. Es ist nicht einfach eine Geschichte, ein Plot, sondern tatsächlich ein Mythos. Und einer, den man auch nicht auflösen oder gar lösen könnte. Der Mythos hat per Definition eine vieldeutige Gestalt. Und kennt nicht die „eine“ Interpretation. Man kann ihn studieren, interpretieren, aber nicht lösen. Mit „Don Giovanni“ können wir ein ganzes Feld queren, und das ist zunächst sicher das Feld des Verlangens. Damit ist aber auch gesagt, dass es um die Unerfüllbarkeit des Verlangens geht. Für mich bedeutet das, nicht nur zu Tirso de Molina und zu den spanischen Wurzeln hinunterzusteigen. Vielmehr findet man beim „Don Giovanni“ alle Züge einer griechischen Tragödie. Für mich geht es hier eigentlich um die Melancholie des Satyrs, die sich schließlich quer durch die Kultur des gesamten Abendlandes zieht. Wir dürfen die Enigmen dieses Stoffes nicht auflösen. Vielmehr müssen wir sie beschützen. Das Paar Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo Da Ponte hat eigentlich genau dieses Enigma des Stoffes aufrechterhalten.

Regisseur Romeo Castellucci im Interview mit Gerald Heidegger
SF/Anne Zeuner
„Wir müssen das Enigma des Stoffes ausghalten“, sagt Romeo Castellucci beim Gespräch auf dem Dach des Salzburger Festspielhauses. Im Grunde setzt er seinen Zugang aus der „Salome“ fort. Einmal mehr geht es um eine Schlüsselperson namens Johannes.

ORF.at: Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, zur „Salome“, ging es Ihnen sehr um die Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Sie wollten Dinge im Raum des Unsichtbaren lassen und kritisierten den Überschuss der Bilder unserer Zeit. Nun ist ja der Mythos des Don Giovanni auch einer, in dem viel ausgespart bleibt oder im Hintergrund der Erzählung lauert. Und das ganze Stück durchzieht ja auch eine starke unsichtbare Brutalität.

Romeo Castellucci

Der im italienischen Cesena geborene und lebende Regisseur Romeo Castellucci ist für seine Arbeiten so gefeiert wie umstritten. Manchen gelten seine Lesarten als blasphemisch. Kunst, Religion und Mythos sind für ihn Vehikel, um Grundfragen des Menschseins zu stellen. Die Pandemie habe er am Rand seiner Heimatstadt Cesena verbracht, allein und auch in einer gewissen Distanz zur Gesellschaft, erzählt er.

Castellucci: Es heißt ja eigentlich „Dramma giocoso“, aber eigentlich endet es in einer Tragödie. Der Sog des Todes durchzieht die gesamte Oper, auch in den Momenten, wo gelacht wird. Diese Oper vollzieht sich auf einem komplett heimtückischen Gelände. Die Gewalt dieses Stückes ist für mich nicht die Gewalt eines männlichen Alphatieres. Giovanni ist für mich eine Person mit starken inneren Verletzungen. Er hat sehr infantile Züge. Und er erinnert mich an ein rabiates Kind, das unablässig um sich schlagen muss. Deshalb würde ich sagen, dass es hier um eine Gewalt der Zerstörung geht. Aber eine aus einem sehr hilflosen, kindlichen Geist. Da, wo er hingeht, geht alles kaputt, werden alle Verhältnisse zerstört. Er ist ein frustriertes Kind, das nie seine Mutter findet. Das ist natürlich eine sehr klassische Form, den Don Giovanni zu interpretieren. Das ist keine soziologische Lesart. Sondern eine psychologische. Und hier geht es natürlich um Strukturen, die zu uns allen gehören. In uns allen steckt dieses rabiate Kind. Deshalb ist es ja ein Mythos, weil das alles zu uns gehört.

ORF.at: Wie sieht es dann um das Prinzip des Vaters aus, wenn wir an den Komtur denken? Wenn es keine Entwicklung vom Kind weg gibt?

Castellucci: Es gibt bei Mozart und Da Ponte einen Vater, der getötet wird. Und der als Phantasma retour kommt. Das ist für mich die Geschichte des Komturs. Und er kommt als Phantasma viel stärker zurück, als er davor da war. Das ist für mich ebenso Hamlet. Oder Ödipus. Es ist ein fast klassisches Schema eines psychoanalytischen Stückes. Es ist nicht nur ein Vater, es ist vielleicht „der“ Vater. Und da steckt natürlich auch ein großes Stück Blasphemie mit drinnen. Don Giovanni fehlt die zentrale Bildung eines Menschen. Er ist nicht empathiefähig, kann sich nicht in andere hinein versetzen. Er ist getrieben vor Angst. Donna Elvira hat Züge vom Phantasma einer Mutter. Denn ihre unaufhaltsame Liebe für Don Giovanni hat schon die Züge der Liebe einer Mutter. Er kann ihr aber nicht ein zweites Mal begegnen, sie ein zweites Mal lieben, wenn man so will, denn das würde ja heißen, dass er ein Gegenüber, den anderen, erkennen könne. Und das kann er nicht. Er kann sich nicht in andere hineinversetzen.

ORF.at: Aber kann man den „Don Giovanni“ dann als Theaterstück überhaupt wie ein Drama lesen, wenn ein Held gar nicht erwachsen wird, um sich den Fragen Schuld, letztes Gericht zu stellen? Gibt es für ihn überhaupt ein Jenseits?

Castellucci: Man kann den Mythos natürlich auf so unendlich vielen Ebenen lesen. Aber am Ende öffnet sich das Tor zum Jenseits, weil er das Gesetz des Vaters nicht annehmen kann. Er lehnt die Rettung ab, weil er sonst ja seinen Vater anerkennen müsste. Man kann ihn in dieser Situation natürlich auch als Vertreter der Aufklärung stilisieren, weil er alle Heilsversprechungen des Christentums zum Jenseits, zu Schuld und Sühne ablehnt. Er verteidigt mit Zähnen und Klauen seine Wahl, seine Art zu leben. Er wusste natürlich die ganze Zeit, dass es so enden würde.

Regisseur Romeo Castellucci
SF/Anne Zeuner
Castellucci in Salzburg am probefreien Tag. Seine Stücke entwickelt er mit philosophischer Akribie.

ORF.at: Geht das Drama des „Don Giovanni“ in dieser Lesart beim Publikum nicht dann erst los, wenn man nach dem Ende in die Nacht hinaustritt?

Castellucci: (lacht) Ja, in meiner Sicht, ja. Das Finale der „Prager Version“, auf die wir uns beziehen, hat ja das, was man ein Happy End nennt, aber es ist natürlich nichts „happy“ ab dem Moment, wo Giovanni gestorben ist: Wenn er nicht mehr da ist, was tun wir dann?

ORF.at: Das stellt natürlich auch die Frage nach Leporello, der sich in dieser Situation ja einen neuen Herrn suchen muss. Wie sehr ist Leporello, der zwar zu Beginn singt, nicht mehr dienen zu wollen, ein Spiegel, ja Bruder von Don Giovanni? Also ebenso ein Kind?

Hinweis

Insgesamt sechsmal wird der neue „Don Giovanni“ im Großen Festspielhaus zwischen 26. Juli und 20. August zu sehen sein.

Castellucci: Leporello ist das Doppel von Don Giovanni. Der, der sich dabei dauernd die Hände schmutzig macht. In dieser Hinsicht folge ich ja der Lesart des französischen Schriftstellers Pierre Jean Jouve, der für mich das großartigste Buch über den „Don Giovanni“ geschrieben hat (Jouve war Mitte der 1930er Jahren von einer Bruno-Walter-Interpretation bei den Salzburger Festspielen so angetan, dass er deswegen sein „Don Giovanni“-Buch geschrieben hat, Anm., GH). Er ist das Modell eines Dieners. Und er ist in diesem Sinn auch total ehrlich in seiner Prostitution gegenüber allen Umständen. Leporello ist stets zu allem bereit. Ein Bruder ist er insofern nicht, weil Giovanni schon immer sehr deutlich macht, dass er der Herr ist und Leporello der Diener. Leporello will so sein wie sein Herr. Und sie werden sich sehr ähnlich sehen in der kommenden Inszenierung. Ich will diese Idee des Doppels sehr ernst nehmen.

Regisseur Romeo Castellucci im Interview mit Gerald Heidegger
SF/Anne Zeuner
„Wird das Drama des Don Giovanni erst nach der Inszenierung losgehen?“ „Für mich ja“, meint Castellucci und lacht.

ORF.at: Wie steht es eigentlich um alle anderen Figuren in dem Stück? Sie sind ja ohne den Don Giovanni in der Mitte, der dieses ganze Werk am Drehen erhält, gar nicht denkbar?

Castellucci: Ja, genau so würde ich das auch sehen. Alle Männer haben etwas sehr Infantiles in diesem Stück. Die Frauen sind stärker. Sie sind in ihrer moralischen Struktur gefestigter, erwachsener. Don Ottavio ist mir der Wichtigste von den Männern, weil er das Realitätsprinzip ist. Er steht für uns. Für die Welt der Regeln. Don Giovanni ist das Gegenbild. Aber ohne Don Ottavio macht der Don Giovanni keinen Sinn. Und der hat ja viele großartiges Arien zu singen. Diese scheinbar sozial weniger wichtige Person hat musikalisch eine zentrale Rolle. Donna Anna ist in dem Stück die Frau, die aufgrund ihrer Exzellenz begehrt wird. Und Zerlina, sie steht für die pure Erotik, sie ist der erotische Körper, das Tier. Sie ist aber zugleich die zynischste Person in dem Stück.

ORF.at: Erinnert Don Giovanni in seiner Infantilität, mit der er alles in diesem Stück bestimmt, nicht auch an alle Diktatoren, die wir aus der Geschichte kennen?

Castellucci: Ja, natürlich. Allerdings: Je schlechter er sich benimmt, desto mehr lieben wir ihn. Und vielleicht ist es so, dass er für ein Verlangen in uns allen steht: die Gesetze des Alltags radikal über Bord zu werfen.

ORF.at: Eigentlich war der „Don Giovanni“ in Salzburg ja bereits für das letzte Jahr geplant. Durch die Pandemie hat sich dann alles verschoben. Inwiefern hat sich die Pandemie auf die Inszenierung ausgewirkt?

Castellucci: Im Grunde war ja alles bereits vor Ausbruch der Pandemie gedacht und fertig. Aber es gibt einen Aspekt aus den Erfahrungen der Pandemie, der sich in der Inszenierung niederschlagen wird. Es werden ja die ganze Zeit Frauenzahlen genannt. Die zahlen derer, die Don Giovanni verführt haben soll. Und wir greifen diese ständige Referenz auf Zahlen auf und machen sie plastisch. Und versammeln 150 Salzburgerinnen auf der Bühne. Um Don Giovanni einmal die ganze Wucht einer Gemeinschaft gegenüberzustellen, fühlbar zu machen. Und ich glaube, der Aspekt der Gemeinschaft in verschiedenen Kontexten, ist eine der entscheidenden Erfahrungen der Pandemie.

ORF.at: Werden wir dieses Erkennen der Bedeutung von Gemeinschaft als Erfahrung aus der Pandemie mitnehmen?

Castellucci: Ich hoffe es, weil ich ein Optimist bin. Zugleich weiß ich, dass Erinnerung im Kollektiv eine sehr schwache Kategorie geworden ist.