Menschen stellen sich für eine Impfung an
AP/Alexander Zemlianichenko
Dritte Welle

Russland kämpft mit Impfdilemma

Mit rund 25.000 neu positiv getesteten Menschen täglich befindet sich Russland mitten in der dritten Coronavirus-Welle. Erst rund 16 Prozent der Bevölkerung haben zumindest die erste Impfdosis bekommen – und in kaum einem anderen Land ist die Impfskepsis so hoch. In einigen Landesteilen erhöhen die Behörden jetzt den Druck auf die Menschen, sich impfen zu lassen. Doch damit ergibt sich das nächste Problem: Der Impfstoff wird knapp.

Seit Anfang Juni steigen in Russland die Fallzahlen wieder an. In der letzten Juni-Woche gab es rund 20.000 verzeichnete Neuinfektionen pro Tag, seit einigen Tagen sind es bereits rund 25.000. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Tagen neue Höchstwerte bei den Verstorbenen verzeichnet, mehr als 700 Menschen verstarben täglich.

Nach Angaben der Coronavirus-Arbeitsgruppe der Regierung sind mittlerweile rund 130.000 Menschen im Zusammenhang mit dem Virus verstorben. Allerdings könnte die Dunkelziffer enorm sein: Das staatliche Statistikamt Rosstat, das eine eigene Zählung vornimmt, kommt auf rund 270.000 Todesfälle allein zwischen April 2020 und April 2021. Rosstat bezieht sich auf Übersterblichkeit in den Statistiken.

Erst rund 16 Prozent mindestens einmal geimpft

Experten gehen davon aus, dass der Anstieg auch auf die Ausbreitung der wesentlich ansteckenderen Delta-Variante zurückzuführen ist: In Moskau waren laut Bürgermeister Sergej Sobjanin schon im Juni fast 90 Prozent der Infektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen. Für ganz Russland gibt es keine offizielle Angabe. Während andere europäische Länder der Mutation eine größere Anzahl an Geimpften entgegensetzen kann, ist die Lage in Russland dramatisch. Etwas mehr als zehn Prozent der Bevölkerung haben zwei Impfdosen bekommen, rund 15 bis 16 Prozent eine. Die russische Regierung musste unlängst ihr Ziel, bis Herbst 60 Prozent der Menschen geimpft zu haben, zurückziehen.

Spital für CoV-Patienten in Moskau
Reuters/Tatyana Makeyeva
Auch die Zahl der Hospitalisierungen steigt

Misstrauen gegenüber Institutionen – und Impfung

Ein Grund dafür ist die vorherrschende Impfskepsis der Russinnen und Russen. In einer aktuellen Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts gaben 54 Prozent der Befragten an, sich nicht impfen lassen zu wollen. Rund 40 Prozent der Verweigerer wollen sich unter keinen Umständen impfen lassen, rund ein Viertel will warten, bis die Sicherheit der Impfstoffe besser nachgewiesen ist.

Verschwörungstheorien kursieren, vor allem aber färbt das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen auch auf die Impfungen ab. Zugelassen sind nur die russischen Impfstoffe „Sputnik V“, EpiVacCorona und CoviVac – gegen alle drei gibt es in der Bevölkerung weit verbreitete Bedenken.

Doch angesichts der steigenden Fallzahlen machen die Behörden nun Druck: Präsident Wladimir Putin appellierte unlängst an alle Bürgerinnen und Bürger, sich impfen zu lassen. Eine Impfpflicht wollte er jedoch nicht erlassen.

Lieferengpässe bei Impfstoffen

Einige Regionen machen mehr Druck: Angestellte in Dienstleitungsjobs müssen sich impfen lassen, um weiter in die Arbeit kommen zu dürfen. In einigen Regionen müssen Geschäfte und Restaurants Mitte Juli schließen, wenn nicht 60 Prozent ihrer Angestellten geimpft sind. Und in Moskau dürfen nur noch Geimpfte und Genesene in Kaffeehäuser und Restaurants – nachdem in den Wochen davor alles ohne Einschränkungen geöffnet war. Eine Folge der Auflagen ist nun ein florierender Schwarzmarkt mit gefälschten Impfzertifikaten. Diese Woche wurde eine Mitarbeiterin einer Klinik in Kaliningrad festgenommen, die Zertifikate verkauft haben soll.

Menschen werden gegen Covid19 in Moskau geimpft
Reuters/Tatyana Makeyeva
Anstellen in einem Impfzentrum in Moskau

Doch tatsächlich zeitigte der Druck der vergangenen Wochen auch Wirkung und verursachte gleich das nächste Problem: Der Impfstoff wird knapp. In Moskau gibt es schon seit 22. Juni laut „Moscow Times“ keinen Impfstoff CoviVac mehr – mittlerweile ist auch EpiVacCorona vergriffen. Auch in anderen Landesteilen gibt es Lieferengpässe – auch mit „Sputnik V“.

Schwierige Produktion

Laut „Moscow Times“ gibt es einerseits Logistikprobleme bei der Verteilung, und andererseits ist auch die ausbleibende Produktion in Großwerken dafür verantwortlich. Die Unternehmen R-Pharm und Generium, die jeweils mehrere Millionen Dosen pro Monat produzieren sollen, haben laut der Zeitung noch nichts produziert. Bei „Sputnik V“ unterscheiden sich – anders als bei allen anderen Impfstoffen – erste und zweite Dosis, die Herstellung gilt daher auch als schwieriger: Die beiden Impfungen müssen in streng getrennten Produktionen hergestellt werden. Zudem wurde von der russischen Regierung verlautbart, dass nach sechs Monaten eine Auffrischung mit dem Impfstoff „Sputnik Light“ erfolgen soll. Auch dieser muss eigenständig fabriziert werden.

Impfstraße in Moskau
Reuters/Tatyana Makeyeva
Schlangen vor Impfzelten in Moskau

Länder warten auf „Sputnik“-Lieferungen

Dass es bei der Herstellung nicht ganz rund läuft, merken auch Länder, die „Sputnik V“ in Russland bestellt haben. Guatemala etwa hat bisher von acht Millionen bestellten – und bezahlten – Dosen nur 150.000 erhalten und fordert nun das Geld zurück. Auch Argentinien und Mexiko warten auf Lieferungen. In Argentinien fehlten Ende Juni noch 6,3 Millionen Zweitdosen für bereits mit Erststich Geimpfte. Auch in Afrika bestellten Länder wie Tunesien, Algerien und Guinea den Impfstoff und warten auf große Teile der Lieferungen. Mit dem steigenden Eigenbedarf Russlands könnte die Wartezeit noch länger werden.