Flugzeug und Sonne
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„Fit for 55“

EU-Klimapaket soll Wirtschaft umkrempeln

Es ist ein großes Unterfangen: Das bereits beschlossene Klimaziel der EU muss auch einmal in konkrete Gesetze fließen. Dafür stellt die EU-Kommission am Mittwoch ein schweres Paket vor. Die Vorschläge unter dem Motto „Fit for 55“ sollen die gesamte Gesellschaft betreffen, vom Verkehr bis zum Heizen. Entsprechend heiß umkämpft ist es. Sowohl die Wirtschaft als auch Umweltverbände sind skeptisch.

Im vorigen Dezember hatten sich die 27 Mitgliedsstaaten darauf geeinigt, die Treibhausgase der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu senken – und nicht wie zuvor auf nur 40 Prozent. Dafür muss die EU-Kommission nun ihre gesamte Klima-, Energie- und Steuergesetzgebung anpassen. Zahlreiche Richtlinien und Verordnungen zu Luftfahrt, Autoverkehr, Bodennutzung, Gebäudesanierung und vielem mehr sind betroffen. Das Paket „Fit for 55“ soll für einen Gutteil davon den Rahmen bieten und zudem neue Vorschläge unterbreiten, die für viele Debatten sorgen werden.

Das langfristige Ziel ist ein Umbau der Wirtschaft hin zu erneuerbaren Energien und Produktionsmethoden ohne Abgase in jedem Mitgliedsstaat. Alle Sektoren, alle Teile der Gesellschaft müssten an dem Wandel mitwirken, heißt es in Brüssel. Dafür sollen auch alle davon profitieren. Man wolle dafür weniger auf Gebote setzen als auf die Kräfte der Märkte selbst. Allein, die Ausgestaltung ist unklar. Entsprechend groß ist die Spannung vor der Präsentation des Pakets und die Zahl kursierender Leaks.

Weniger Rechte für CO2-Emissionen

Bekannt ist bereits, dass bis Ende 2025 entlang der wichtigsten europäischen Schnellstraßen alle 60 Kilometer eine leistungsstarke E-Ladestation stehen soll. Außerdem wird die Verordnung über Landnutzung und Forstwirtschaft überarbeitet werden: CO2-Senken sollen genutzt, mehr Bäume gepflanzt werden.

Darüber hinaus gibt es aber große strittige Punkte. Denn die Kommission will auch an den Schrauben bei der Vergabe von CO2-Verschmutzungsrechten (Emission Trading System, ETS) drehen. Der Emissionshandel ist das wichtigste Instrument der EU in Sachen Klimaschutz: Die Rechte zum CO2-Ausstoß müssen von den Unternehmen ersteigert werden. Wer sauber produziert, muss weniger Rechte erwerben oder kann überschüssige wieder verkaufen. Bisher galt der Handel mit den Emissionsrechten nicht für alle Branchen, zudem erhalten einige energieintensive Zweige wie die Stahlindustrie ihre Rechte noch kostenlos, damit die Ausfuhr von Stahl aus der EU mit jenem aus anderen Ländern mithalten kann. Diese kostenlose Zuteilung verringert sich jährlich.

Stahlarbeiter
Reuters/Wolfgang Rattay
Stahlerzeuger erhalten ihre CO2-Rechte noch bis 2030 kostenlos. Der Plan könnte sich nun ändern.

Mit „Fit for 55“ soll die Ausgabe der Rechte künftig deutlich verkleinert und die jährliche Verringerung beschleunigt werden. Zudem soll der Handel auf den Wohnungs- und Verkehrssektor ausgedehnt werden, es wird also Straßenverkehr, Schifffahrt und internationale Flüge betreffen. Dafür soll ein eigenes Handelssystem installiert und der Preis vorerst niedrig angesetzt werden. Andernfalls wären wohl abrupte Preisanstiege bei Heizöl und Gas zu erwarten.

NGOs wollen mehr und anders

Diese Preisanstiege erwarten Kritikerinnen und Kritiker aber sowieso: Vieles, was über „Fit for 55“ schon bekannt ist, sei enttäuschend, so Barbara Mariani vom Europäischen Umweltbüro (EEB), ein Netzwerk, das international über 170 NGOs umspannt, zu ORF.at. Das Handelssystem für Verkehr und den Gebäudesektor bereite dem EEB große Sorgen. „Wir unterstützen CO2-Bepreisungen für alle Branchen, aber hier wird wohl die Last zu sehr den Konsumenten aufgebürdet und nicht der Industrie“, so Mariani.

Ladestation für Elektroauto
ORF.at/Georg Hummer
Die Kommission will durch den Ausbau der E-Ladeinfrastruktur das „Henne-Ei-Problem“ lösen. Das EEB befürchtet, dass E-Autos noch nicht für alle erschwinglich sind.

So würden etwa Autokäuferinnen und -käufer belastet, einerseits durch höhere Spritpreise, andererseits dadurch, dass E-Mobilität noch nicht für alle erschwinglich sei. Ähnliches befürchtete Mariani für den Gebäudesektor, wenn es etwa um Heizsysteme geht. Das Umweltbüro fordert Anreize für klimafreundliche Produktion und das Ende für Subventionen fossiler Brennstoffe. Zudem gebe es etwa für die Landwirtschaft einen Freifahrtschein, auf deren Emissionen kaum eingegangen werde. Das Paket habe gute Ansätze, aber „diese Maßnahmen der EU werden jedenfalls so nicht ausreichen“, sagte Mariani.

Neue Abgabe für Importe in EU

Ein zweiter großer Brocken des Pakets ist eine CO2-Grenzabgabe, um der „Carbon Leakage“ Herr zu werden. Oft verlegen europäische Firmen ihre Produktion in andere Länder, in denen sie weniger für Klimamaßnahmen zahlen müssen. Der nun wahrscheinlich vorgeschlagene Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) zielt darauf ab, Importe aus Ländern, in denen es billiger ist, die Umwelt zu verschmutzen, zu verteuern. Damit sollen europäische Produzenten geschützt werden, die sich gegen die billigere und klimafeindlichere Konkurrenz behaupten müssen.

Wirtschaft fürchtet um Wettbewerbsfähigkeit

In der europäischen Industrie ist man skeptisch. In einem Brief an die EU-Kommission monierte BusinessEurope, der Arbeitgeber- und Lobbyismusverband mit Sitz in Brüssel, bei dem auch Österreichs Industriellenvereinigung Mitglied ist, „ungleiche Spielregeln“. Der Verband will sich nicht für oder gegen CBAM aussprechen. Wenn aber die Kommission tatsächlich die CO2-Grenzabgabe vorschlägt, wolle man zwei Bedingungen fordern, so Alexandre Affre, Vizegeneraldirektor von BusinessEurope, zu ORF.at. CBAM müsse mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) kompatibel sein. Und die kostenlose Zuteilung der CO2-Rechte solle nicht abrupt enden.

„Das wäre für uns ein großes Problem“, so Affre. „Es gibt hier noch viele Unsicherheiten, die uns Sorgen bereiten.“ Sollte die kostenlose Zuteilung für energieintensive Branchen tatsächlich wegfallen und würde noch dazu eine Grenzabgabe eingeführt, würden die europäischen Unternehmen stark in ihrer Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Denn die Grenzabgabe gelte für Drittstaaten auch nur für jenen Teil ihrer Produktion, der in die EU eingeführt wird.

Hier wünscht man sich zumindest eine Übergangsphase von mehreren Jahren mit entsprechender Evaluierung. Andernfalls drohe erst recht die Abwanderung von CO2-intensiver Produktion in weniger klimafreundliche Länder. Für die Industrie noch weit relevanter sei ohnehin das Ziel der EU, bis 2050 klimaneutral zu sein. Das hänge mit den teilweise bis zu 20 Jahre dauernden Investitionszyklen der Branchen zusammen. „Wir unterstützen das Ziel der Klimaneutralität“, so Affre.

Eigener Sozialfonds für private Haushalte

In vielen Bereichen werden durch die Vorschläge Preisanstiege befürchtet, eben auch bei den Verbraucherpreisen. Proteste wie jene der „Gelbwesten“ in Frankreich will man aber auf jeden Fall verhindern. Um soziale Folgen abzufedern, ist ein eigener Fonds geplant – und zwar ein Jahr, bevor etwa die ETS-Reform in Kraft kommt. So sollen Haushalte, die von Energiearmut betroffen sind, rechtzeitig unterstützt werden. Wie dieser dann von den einzelnen Mitgliedsstaaten ausgestaltet wird und wer davon unterstützt werden soll, ist freilich offen.

Demo in Frankreich, November 2018
APA/AFP/Xavier Leoty
Proteste wie jener der „Gelbwesten“ in Frankreich 2018 will man durch einen eigenen Sozialfonds vermeiden

Debatte startet erst

Konkrete Zahlen zu den einzelnen Vorhaben sind vor der Präsentation überhaupt rar. Die Pläne der Kommission sind auch freilich nicht in Stein gemeißelt, „Fit for 55“ muss von Mitgliedsstaaten und Europäischem Parlament noch gebilligt werden. Da die Reformen erhebliche wirtschaftliche Folgen haben, dürfte sich der Prozess hinziehen.

Simone Tagliapietra von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel hielt im Gespräch mit ORF.at eine Dauer von bis zu zwei Jahren für möglich, bis alle Streitfragen geklärt seien. Mit dem Paket, das am Mittwoch präsentiert wird, werden weder Vertreter von Industrie noch von Umweltorganisationen glücklich seien. „Beide Seiten haben ja von ihrer Warte aus recht. Die Herausforderung ist eben, einen gemeinsamen Nenner zu finden und alle ins Boot zu holen.“ Spannungen seien dabei programmiert, die Kosten für CO2 werden sowohl für die Menschen als auch für die Wirtschaft steigen, zudem werde die Klimapolitik mehr und mehr in die Wirtschaft eingreifen. „Aber diese Frage müssen angegangen werden, auch wenn es Neuland ist“, so Tagliapietra. Mit dem Paket sei man aber auf dem richtigen Weg. „Das Ziel ist damit erreichbar.“