Szene aus „Elite“
NIETE/NETFLIX
„Elite“, „Haus des Geldes“

Spanien als Serienwunderland

Dass Spanien mit Regisseuren wie Pedro Almodovar ein Filmland ist, weiß man schon lange. Doch seit einiger Zeit gilt Spanien auch als neues Wunderland der TV-Serien. Mit „Haus des Geldes“ gelang ab 2017 der internationale Durchbruch. Demnächst geht die Serie ins Finale, zum weiteren Knüller wurde die Schul-Klassen-Serie „Elite“. Erfolgsserien werden quasi am laufenden Band produziert, viele davon mit in einem Stil, den man schon spanische Serienschule nennen kann. Zufällig ist der Erfolg freilich nicht.

Noch vor einigen Jahren galt Dänemark mit Produktionen wie „Borgen“, „Die Brücke“ und das „Verbrechen“ als das Vorzeigeland für TV-Serien. Doch nach den Umstrukturierungen beim öffentlich-rechtlichen Sender DR erreichte man das alte Niveau nicht mehr ganz. Auch die BBC ließ nach Hits wie „Sherlock“ und „Peaky Blinders“ international mit großen Erfolgen zuletzt eher aus.

Die Lücke schloss Spanien – auch und vor allem, weil die dortigen Produktionen mit der Globalisierung von TV-Serien via Netflix, Amazon Prime und Co. auch in nicht spanisch sprechende Haushalte gespült wurden. Groß produziert wurde in Spanien schon immer, schließlich versorgte man auch den lateinamerikanischen Markt mit.

Hochglanzproduktionen im Dramaturgierausch

„Haus des Geldes“, vom spanischen Sender Antena 3 produziert und für Netflix neu geschnitten, wurde 2017 zum Überraschungserfolg und zur bis dahin meistgesehenen nicht englischsprachigen TV-Serie auf Netflix. Die Geschichte des Überfalls auf die spanische Nationalbank wurde inhaltlich, handwerklich und ästhetisch prototypisch für die spanischen Erfolgsserien: Nicht eine Hauptperson steht im Zentrum der Serie, sondern ein breiter Cast an unterschiedlichen Charakteren – und die Charaktere werden in den Serien einmal behutsam, einmal abrupt weiterentwickelt.

Maske in „Haus des Geldes“
Netflix
Die Dali-Maske wurde zum Symbol für „Haus des Geldes“

Gerade die Erfolgsproduktionen sind auch ästhetisch auf Hochglanz produziert. Kamera und Schnitt können es durchwegs mit Hollywood-Produktionen aufnehmen, vor allem aber dramaturgisch greift man in die Vollen: „Haus des Geldes“ arbeitet wie viele andere spanischen Serien mit mehreren Zeitebenen, Rückblicke als Stilmittel werden zur Perfektion getrieben. Viele Produktionen können in einer Episode mehr dramaturgische Wendungen vorweisen als andere Serien in einer ganzen Staffel. „Haus des Geldes“ wurde nach dem Überraschungserfolg gänzlich von Netflix übernommen, die letzten Folgen des zweiten Coups sollen heuer im Herbst und Winter folgen.

Klasse in der Klasse

In den langen – zuletzt zum Teil coronavirusbedingten – Pausen zwischen den Teilen lief eine andere Serie „Haus des Geldes" den Rang ab: „Elite“, auf den ersten Blick ein Teenie-Schuldrama, wurde zum internationalen Erfolg. Denn verhandelt werden in einer Elite-Privatschule nahe Madrid nicht nur die Problemchen reicher Töchter und Söhne: Mit Schülern und Schülerinnen, die aus armen Verhältnissen kommend sich plötzlich inmitten einer Schicki-Micki-Gesellschaft wiederfinden, kommt das Thema Klasse in die Klasse.

Pro Staffel rund um ein Verbrechen konstruiert, lässt „Elite“ kein gesellschaftliches Thema, von Armut bis Drogen, von Homosexualität bis Religion, von Gewalt bis Krankheit, aus. So konfliktreich das Leben der Jugendlichen ist, geht es auch immer um Freundschaft und Solidarität. Auch bildlich geht es in „Elite“ explizit zu, der vierten, eben angelaufenen Staffel kann man vielleicht vorwerfen, etwas zu sehr hypersexualisiert zu sein. Schöpfer Carlos Montero hatte zuvor mit der epischen Schulserie „Fisica o Quimica“ von 2008 bis 2011 geübt: Auch in der nur in Spanien erschienenen Serie wurde in einer Schule geliebt, gehasst, gelitten und gestorben.

Manu Rios und Aron Piper in „Elite“
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Kaum Tabus bei „Elite“

Neben der Entwicklung der Charaktere schafft es „Elite“, auch in den Dialogen nicht nur an der Oberfläche zu kratzen und einigermaßen tiefgründig und originell zu sein. Den Einstieg in spanische Serien erschwert möglicherweise die oft doch sehr blumige und gefühlsbetonte, an Telenovelas erinnernde Sprache. Dafür gibt es auch bei „Elite“, so wie für viele andere spanische Serien, eine einigermaßen geglückte Synchronisation. Bei Produktionen aus anderen Ländern fällt diese – egal ob deutsch oder englisch – extrem trashig und billig aus.

Große Investitionen in günstigen Standort

Allein 50 Produktionen hat Netflix seit 2016 in Spanien abgewickelt – und dafür auch groß investiert. In Tres Cantos nahe Madrid wurde die europäische Produktionszentrale 2019 eröffnet. Bereits heuer im April kündigte der Streaminganbieter an, den Standort weiter auszubauen. Auch wirtschaftlich zahlt sich das aus: Die Produktionskosten sind in Spanien um 20 bis 30 Prozent geringer als in Frankreich und Großbritannien. Vor allem gibt es viel kreatives Potenzial: Weder an Storyideen noch an Drehbuchschreibern noch an sonstigem Filmpersonal scheint es zu mangeln – und es gibt eine große Riege an Schauspielerinnen und Schauspielern mit – und im Vergleich zu vielen US-Produktionen – erfrischend charakteristischen Gesichtern.

Doch nicht nur Netflix prägt das neue spanische Medienphänomen. Der US-Sender HBO produziert mit einer Filiale ebenfalls in Spanien. Dort arbeitete man mit der Serie „Patria“ den ETA-Terror auf und gewann den Kultregisseur Alex de la Iglesia („Aktion Mutante“) für die Serie „30 monedas“. Auch der öffentlich-rechtliche Sender RTVE spielt im Serienreigen eine große Rolle und bietet seine Inhalte auf eigenen Streamingseiten an.

Doch nicht nur im Fernsehen spiegelt sich die Aufbruchsstimmung wider: Auch bei zahlreichen Onlineprojekten ist in Fachkreisen von einer ganz eigenen und starken Ästhetik der spanischen Produkte die Rede. Das RTVE-Onlineprojekt „1.000 Mujeres Asesinadas“, das von Männern ermordeten Frauen ein Gesicht gab, räumte im Vorjahr den Prix Europe ab.

Politik hat immer eine Rolle

Bei Serien wiederum ziehen sich thematisch weitere rote Fäden durch viele Produktionen: Politik – im weitesten Sinne – und soziale Gerechtigkeit spielen etwa fast immer eine Rolle, auch bei „High Seas“. Die drei Staffeln umfassende Serie spielt auf einem Schiff Ende der 40er Jahre. In dem Plot, der an Agatha-Christie-Klassiker erinnert, trifft wieder Arm auf Reich – und auch die Nazi-Vergangenheit darf nicht fehlen.

Szene aus „High Seas“
Manuel Fernandez-Valdes
„High Seas“: Whodunit-Serie auf hoher See

In der weniger aufwendig produzierten Dystopie „La Valla“ kämpfen die Hauptprotagonisten nach drittem Weltkrieg und Pandemie gegen ein faschistisches Regime, das Spanien zwischen Arm und Reich getrennt hat. In der Miniserie „Jemand muss sterben“ wiederum wird thematisiert, wie Familien in der katholisch-autoritären Gesellschaft des Franco-Regimes mit Homosexualität umgehen. Und im Thriller-Sechsteiler „Die Schergen des Midas“ dreht sich wiederum alles um Fragen der Ethik und Gerechtigkeit in Politik, Medien und Wirtschaft.

Starke Frauen

Starke Frauen sind ebenfalls ein Markenzeichen der Produktionen: „Die Telefonistinnen“ war die erste spanische Netflix-Serie, sie stellte vier junge Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft in den Mittelpunkt. Den Auf- oder Ausstieg von Frauen im organisierten Verbrechen verarbeiten die eher telenovelalastige Serie „Hache“ und die heuer gestartete Thrillerserie „Kein Friede den Toten“.

Alex Pina, Mastermind und „Showrunner“ von „Haus des Geldes“, inszeniert in „Sky Rojo“ den Rachefeldzug von drei Prostituierten. An Explizitheit sehr an Quentin Tarantino erinnernd, räumen die drei Frauen mit Zuhältern und deren Schlägern auf – allerdings muss sich die Serie den Vorwurf gefallen lassen, die Frauen permanent in ihrer „Arbeitskleidung“ darzustellen, was feministische Parolen schon konterkariert. Demnächst startet die zweite Staffel. Zwar eine US-Produktion, aber mit vielen spanischen Schauspielerinnen und Schauspielerin in Andalusien gedreht, setzt „Warrior Nun“ auf eine junge Frau mit Superkräften.

Kreativer Norden

Spaßiger als „Sky Rojo“, wenn auch ebenso hart und Tarantino-artig, hatte Pina zuvor die spanisch-britische Kooperation „White Lines“ produziert. Eine Britin geht dabei auf Spurensuche ihres auf Ibiza verstorbenen Bruders – und findet sich in einer Welt von gestrandeten und gealterten Ex-Ravern und einer degenerierten spanischen Upper-Class-Familie wieder. Und für „The Pier“ gewann Pina den „Haus des Geldes“-Star Alvaro Morte.

Pina stammt aus Navarra. Überhaupt scheint ein Teil des Erfolgsrezepts nordspanisch geprägt zu sein, möglicherweise mit dem Filmfestival von San Sebastian als Knotenpunkt für die Filmbegeisterung. „Elite“-Schöpfer Montero kommt aus Galicien, das auch als Schauplatz für mehrere Serien dient, etwa „Der Geschmack der Margeriten“, das auch auf Galicisch gedreht wurde.

Szene in „White Lines“
Chris Harris
Aussteiger und Geldadel in „White Lines“

Nicht alles glänzt

Montero selbst schuf den Thriller „Deine letzte Stunde“, in der eine junge Lehrerin dem Tod ihrer Vorgängerin nachgeht. Darin geht es wesentlich düsterer zu Gange, an die Explosivität von „Elite“ kommt die Serie ebenso wenig heran wie „Las Cumbres: Das Internat“. Das ist ein Remake der spanischen Kultserie „El Internado“: Renitente Jugendliche versuchen die Flucht aus einem Klosterinternat mit sadistischer Schulleitung und einem mysteriösen Kult.

Auch die Historienserien „Die Kathedrale des Meeres“ und „El Cid“ sind aufwendig und solide gemacht, zündeten aber nicht wirklich. Das Stripper- und Crime-Drama „Toy Boy“ hat die klassischen spanischen Zutaten wie die Frage der Gerechtigkeit, der Kluft zwischen den sozialen Schichten, bleibt aber eher farblos.

Doch die spanische Produktionsmaschinerie verspricht für die nächsten Monaten bereits ausgiebig neues Material. Lohnend ist aber auch ein Blick in den Back-Katalog der diversen spanischen Sender und Produktionsfirmen.