Menschen auf der London Bridge
Reuters/Henry Nicholls
Experten warnen Johnson

Öffnung wird „gefährliches Experiment“

In einem offenen Brief an Premierminister Boris Johnson haben mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die CoV-Öffnungspolitik der britischen Regierung als „gefährliches und skrupelloses Experiment“ kritisiert. Wenn sich das Virus dank der geplanten Lockerungen, die ein Ende von Maskenpflicht und Abstandsregeln vorsehen, weiter ausbreite, würden Millionen Menschen infiziert, Hunderttausende riskierten Langzeiterkrankungen und bleibende Behinderungen.

Die für den 19. Juli geplanten Lockerungen müssten verschoben werden, forderten die Experten in dem in der Nacht auf Donnerstag vom Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichten Brief. In Großbritannien grassiert die hochansteckende Delta-Variante. Die britische Regierung plant, im größten Landesteil England alle verbliebenen CoV-Regeln aufzuheben.

Dann sollen auch Nachtclubs wieder öffnen, für Veranstaltungen gibt es keine Teilnehmerbegrenzung mehr. Die endgültige Entscheidung soll am 12. Juli getroffen werden. Die Strategie bereite der Entstehung impfstoffresistenter Varianten einen fruchtbaren Boden, warnten die Expertinnen und Experten. „Das würde alle, auch die bereits Geimpften, innerhalb Großbritanniens und weltweit gefährden.“

„Bei dieser Strategie besteht die Gefahr, dass eine Generation mit chronischen Gesundheitsproblemen und Behinderungen zurückbleibt, deren persönliche und wirtschaftliche Auswirkungen noch über Jahrzehnte spürbar sein könnten“, hieß es in dem Schreiben weiter, das insgesamt 122 Fachleute unterzeichnet haben. Vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen, junge Leute, Kinder und Ungeimpfte liefen Gefahr, andauernde Folgeschäden zu erleiden. Das britische Gesundheitsministerium betonte indes: „Unser Ansatz (…) findet eine Balance bei der Notwendigkeit, sowohl Leben als auch Existenzen zu schützen.“

Tausende Infektionen durch EM

Unterdessen beschäftigt die CoV-Lage im Halbfinal- und Endspielort der Fußball-EM, London, weiter die Experten. Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC hat im Zusammenhang mit der EM bisher mehr als 2.500 CoV-Infektionen gezählt, wie es am Mittwoch hieß. In der dritten Turnierwoche sei ein erheblicher Anstieg im Vergleich zur Woche davor zu verzeichnen gewesen, bestätigte die EU-Agentur auf Anfrage der dpa.

Infektionsfälle in sieben Ländern ließen sich mit der EM in Verbindung bringen. Schottland sei mit 1.991 Fällen dabei am weitaus stärksten betroffen. Die schottische Mannschaft trug ihre EM-Gruppenspiele in Glasgow und im Londoner Wembley-Stadion aus.

Kritik von allen Seiten an Johnson

Ärzte, Gewerkschaften, Bürgermeister und Opposition kritisierten am Mittwoch vor allem die Entscheidung von Johnson, die Maskenpflicht im Nahverkehr und in Geschäften aufzuheben. Es sei besorgniserregend, dass Johnson die Lockerungen „mit Vollgas“ durchsetze, sagte der Chef der Ärztevereinigung BMA, Chaand Nagpaul. „Es besteht eine klare Diskrepanz zwischen den Maßnahmen, die die Regierung plant, und den Daten und Ansichten von Wissenschaftlern und Ärzten.“ Wirtschaftsvertreter reagierten hingegen erfreut.

Am Vortag hatte Johnson bestätigt, dass die verbliebenen CoV-Maßnahmen in England am 19. Juli aufgehoben werden sollen. Dazu zählen Abstandsregeln und Maskenpflicht. Nachtclubs und Discos dürfen wieder öffnen, für Veranstaltungen gibt es keine Zuschauerbegrenzungen mehr.

Gesundheitsminister verteidigt Vorgehen

Das Land befinde sich in unbekanntem Gelände, sagte die Gesundheitswissenschaftlerin Devi Sridhar auf Sky News. Es handle sich um ein „massives Experiment“. Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei nannte Johnsons Pläne „rücksichtslos“. Der Bürgermeister der Metropolregion Liverpool, Steve Rotherham, wies auf eine YouGov-Umfrage hin, laut der 71 Prozent der Briten für die Beibehaltung der Maskenpflicht sind. Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan kündigte an, das Maskentragen in U-Bahnen, Bussen und Zügen mit Verkehrsunternehmen und der Regierung zu besprechen. „Meine Maske beschützt dich, deine Maske beschützt mich“, twitterte Khan.

Gesundheitsminister Sajid Javid verteidigte hingegen die Pläne. Im Radiosender BBC4 räumte Javid zwar ein, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erhöhen werde. „Wenn wir lockern und in den Sommer starten, erwarten wir einen deutlichen Anstieg, die Zahl der Fälle könnte auf bis zu 100.000 (täglich) steigen“, sagte der Minister.

Impfstoff als „Schutzwall“

Javid betonte aber, der Einsatz von Impfstoffen habe die Verbindung von Infektionen und Krankenhauseinweisungen sowie Todesfällen geschwächt. „Die Impfstoffe wirken, sie sind unser Schutzwall“, sagte Javid auf Sky News: „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.“ Der Minister sagte, es sei an der Zeit, sich verstärkt um andere Gesundheitsprobleme zu kümmern. Millionen Menschen hätten sich während der Pandemie mit ihren Sorgen nicht an den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) gewandt. Das müsse ebenfalls eine Priorität sein. „Es kann nicht nur immer um Corona gehen“, sagte Javid.

Der Branchenverband UK Hospitality, der Gaststätten und Tourismusbetriebe vertritt, lobte die Ankündigung als Meilenstein. Die British Beer and Pub Association wies darauf hin, dass endlich mehr als 2.000 Pubs öffnen könnten, die wegen strenger Abstandsregeln derzeit immer noch geschlossen haben. Auch die Veranstaltungsbranche zeigte sich begeistert. Der Industrieverband CBI begrüßte die Pläne ebenfalls, mahnte aber, Unternehmen müssten die Sicherheit ihrer Angestellten an erste Stelle setzen.

Auch WHO warnt

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt angesichts von Öffnungsplänen in Ländern wie Großbritannien vor voreiligen Schritten. Die Annahme, dass schon alle durch CoV-Impfungen geschützt seien und daher wieder völlige Normalität hergestellt werden könne, sei gefährlich für Europa und andere Regionen, warnte WHO-Krisenmanager Mike Ryan am Mittwoch in Genf. „Jetzt ist extreme Vorsicht angesagt“, sagte er bei einer Pressekonferenz.

Ryan äußerte auf die Frage nach der geplanten völligen Aufhebung von Restriktionen in Großbritannien zwar keine direkte Empfehlung oder Kritik. Er sagte jedoch: „Wenn man öffnet, wird die Übertragung steigen.“ Noch seien nicht alle geimpft, und noch sei nicht klar, wie sehr Vakzine gegen Infektionen und Übertragungen schützen. Regierungen sollten jetzt nicht überhastet die Fortschritte im Kampf gegen die Pandemie aufs Spiel setzen, sagte Ryan.

„Im Rennen gegen Impfstoffe liegen derzeit die Virusvarianten vorne“, warnte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Er gab erneut reichen Ländern die Schuld daran, dass sich ansteckendere Varianten durch die massive Unterversorgung ärmerer Länder mit Impfstoffen leichter ausbreiten und auch mutieren können.