Die Vorsitzende der Kindeswohlkommission, Irmgard Griss
APA/Helmut Fohringer
Kinderrechte und Asyl

Schlechtes Zeugnis für Österreich

Die Kindeswohlkommission stellt Österreich in ihrem Abschlussbericht kein gutes Zeugnis aus. Bei asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren werde man internationalen und auch verfassungsrechtlichen Pflichten in puncto Kinderrechte „nur unzureichend gerecht“, sagte die Vorsitzende Irmgard Griss bei der Präsentation am Dienstag: „Beim Vollzug kommt wenig davon an.“

Beim Schutz unbegleiteter Minderjähriger gebe es einen „Fleckerlteppich“ je nach Bundesland, kritisierte Griss einleitend. Die Kindeswohlkommission forderte darüber hinaus ein Kinderrechte-Monitoring – also eine Institution, die die Wahrung der Kinderrechte sicherstellt. Griss nannte als Beispiel etwa das bereits existierende Monitoring zur Wahrung der Rechte von Menschen mit Behinderung.

Das Gremium war von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) nach der Abschiebung von Schülerinnen nach Georgien und Armenien eingesetzt worden. Die Kommission sollte sich mit dem Stellenwert von Kinderrechten und Kindeswohl bei Entscheidungen zum Asyl- und Bleiberecht befassen. Für ihren Bericht sprach sie unter anderem mit Auskunftspersonen, analysierte Gesetzestexte, wertete Fragebögen aus und sah sich Fälle aus der Vollzugspraxis an.

„Skandalös“: Anreize für BFA-Referenten

In dem 400-seitigen Bericht sorgte indes eine Passage, wonach es im Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen (BFA) seit 2017 ein „internes Controlling-System“ gibt, für Aufsehen. Es existiere die Vorgabe, dass Referentinnen und Referenten wöchentlich mindestens vier Punkte erreichen müssen. Dabei werden für positive Bescheide laut Bericht 0,6 Punkte vergeben, für negative dagegen ein ganzer. Außerdem gilt bei positiven Bescheiden das Vieraugenprinzip, während das bei negativen nur in vereinzelten Verfahren der Fall ist.

Der Sprecher der Asylkoordination Österreich, Lukas Gahleitner-Gertz, ortete darin eine „skandalöse Praxis“ des BFA. Darauf angesprochen sagte Griss, dass es den Anschein habe, dass es „besser“ sei, „wenn negativ entschieden wird“. Eine wichtigere Rolle bei einer Punktevergabe sollten qualitative Kriterien – etwa der Arbeitsaufwand – spielen.

Laut dem grünen Abgeordneten und Asylanwalt Georg Bürstmayr lässt sich das „zum Teil“ damit erklären, dass ein negativer Bescheid ungleich aufwendiger sei als ein positiver. Aber auch Bürstmayr warnte davor, dass das System Anreize für negative Bescheide bieten könnte.

Einhaltung von Kinderrechten als „Lotterie“

„Entscheidungen über den Schutz Minderjähriger und den Schutz von Familien fallen sehr unterschiedlich aus bei gleichem Sachverhalt“, so Griss – nämlich je nach zuständigem Richter oder Referenten. „Manche nennen das eine Lotterie.“ Habe man Glück, erwische man einen Zuständigen, der sich tatsächlich mit der Materie befasse, Empathie und Bemühen um die Rechte von Kindern mitbringe. Dann erhalte man auch eine positive Entscheidung. „Wenn man Pech hat, ist das nicht der Fall.“

Es sei zwar nicht nur in Österreich so, dass gleiche Sachverhalte unterschiedlich beurteilt werden, meinte Griss. Aber: „Für den Rechtsstaat ist das ein Übel.“ Die Konsequenz: Für das Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen sowie das Bundesverwaltungsgericht müsse es klare Richtlinien geben. Als Vorbild könne etwa Schweden dienen, wo es eigene Vorgaben gibt, wie eine strukturierte Kindeswohlprüfung funktioniert.

Pressekonferenz der Kindeswohlkommission
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Die fünfköpfige Kindeswohlkommission: Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger, Kinderpsychologin Hedwig Wölfl, Menschenrechtsexperte Helmut Sax, Vorsitzende Irmgard Griss, Verfassungsjurist Reinhard Klaushofer (v. l. n. r.)

Obsorge im Fokus: Ruf nach einheitlichen Regeln

Ein weiteres Problem bilde Griss zufolge die „Verländerung“. Wer das Glück habe, als unbegleiteter Minderjähriger in Tirol aufgegriffen zu werden, für den sei die Kinder- und Jugendfürsorge sofort zuständig, so Griss. In anderen Bundesländern sei das nicht der Fall. „Eine Verländerung kann nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.“

Weil es in der Vollzugspraxis große Unterschiede gebe, brauche es in puncto Obsorgeberechtigung einheitliche Standards, machte der Verfassungsjurist Reinhard Klaushofer deutlich. Klaushofer kritisierte im Bereich Obsorge durch Kinder- und Jugendhilfeträger zudem einen Mangel an Ressourcen.

Experte über untergetauchte Kinder

Thematisiert wird in dem Bericht auch die Schubhaft. Diese sei generell mit dem Kindeswohl nicht vereinbar und sollte bei Kindern unzulässig sein, betonte Menschenrechtsexperte Helmut Sax vom Ludwig-Boltzmann-Institut. Zwar würde das schon jetzt nur wenige Fälle betreffen: „Aber als Prinzip sollte das gewährleistet sein.“

In Sachen untergetauchte Kindern verwies Sax überdies auf eine „Lücke“ bei den statistischen Zahlen zu Antragstellungen und tatsächlichen Zuweisungen in Unterkünften. Es gehe um Hunderte Kinder, bei denen man nicht wisse, was mit ihnen passiert, so Sax. Bloß Abhängigkeitsanzeigen zu erstatten sei „unzureichend“, so der Experte. Laut Bericht werden Asylverfahren unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge derzeit oft eingestellt, weil diese Kinder und Jugendlichen verschwunden seien.

Altersfeststellung: Psychosoziale Faktoren ergänzen

In den Fokus rückte auch das Thema Altersfeststellung: Der Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger plädierte diesbezüglich für Änderungen. Derzeit würde Österreich dafür an rein biologischen Kriterien wie Knochen- und Zahnalter festhalten. Doch gerade im kritischen Alter von 18 Jahren gebe es dabei eine Schwankungsbreite von 1,5 Jahren.

Andere Länder würden dafür auch psychosoziale Kriterien heranziehen, Irland sogar einzig auf diese setzen. Da sei die Schwankungsbereite auch nicht größer. Die Kommission schlägt allerdings keine vollständige Veränderung vor, sondern die Heranziehung psychosozialer Faktoren als Ergänzung zu den biologischen Kriterien. Die Kinderpsychologin Hedwig Wölfl sagte dazu, dass es für die Annahme, Kinder seien in einem gewissen Alter besonders anpassungsfähig, keine seriösen wissenschaftlichen Belege gebe.

Griss sieht Spannungsfeld

Die Arbeit der Kommission sah Griss im gleichen Spannungsfeld wie die Politik: Einerseits müsse man sicherstellen, dass die Rechte gut integrierter Kinder gewahrt werden. Andererseits müsse verhindert werden, dass die öffentliche Ordnung gefährdet wird, indem Menschen in Österreich bleiben, die sich nicht an Gesetze halten.

Für die Vollziehung bedeute das: Wenn tatsächlich eine Abschiebung durchgeführt wird, müsse diese so vonstattengehen, dass es nicht zu zusätzlichen Traumatisierungen komme. Da könne man nicht über Nacht mit Hunden aufkreuzen – wie das etwa bei den umstrittenen Abschiebungen im Februar der Fall war.

BFA und BVwG: Kommunikation läuft „nicht glatt“

Und wenn jemand in einem Ausmaß straffällig geworden sei, dass Schutz nicht mehr gewährt werden könne, dann müsse es auch rasche Konsequenzen geben, sagte Griss hinsichtlich der mutmaßlichen Ermordung eines 13-jährigen Mädchens durch mehrere junge Männer aus Afghanistan im Juni.

Die besondere Dringlichkeit solcher Fälle ließe sich etwa durch einen entsprechenden Vermerk am Akt bewerkstelligen, rät Griss. Klaushofer betonte die Bedeutung funktionierender Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Stellen wie dem Bundesverwaltungsgericht und dem BFA. Gerade zwischen diesen beiden würde diese „nicht ganz glattlaufen“.

Zu wenig Fokus auf Kinderrechte

Die Kindeswohlkommission kritisiert, dass die Kinderrechte in Asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren in Österreich zu wenig eingehalten werden. Umstrittene Abschiebungen sowie straffällige Geflüchtete zeigen Mängel im System.

Zadic will prüfen

Der Abschlussbericht trat auch eine Welle an Reaktionen los. „Unser gemeinsames Ziel muss sein, die Kinder in diesem Land zu schützen“, sagte Justizministerin Alma Zadic (Grüne) in einer Aussendung. Man wolle nun prüfen, „welche Verbesserungen bei den zuständigen Behörden erforderlich sind. Und ich bin sicher, das werden die anderen zuständigen Minister*innen und Behörden auch tun.“

Innenministeriumsbeirat mit eigenem Bericht

Einen eigenen Bericht zu Asylverfahren „unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte des Kindeswohls“ legte indes der Beirat des Innenministeriums vor. Laut Beirat, bestehend aus den Juristen Walter Obwexer (Uni Innsbruck) und Andreas Wimmer (Uni Linz) und der Juristin Katharina Pabel (Wirtschaftsuniversität) unter Mitwirkung des emeritierten Zivilrechtlers Helmut Koziol, habe das Kindeswohl in Asylverfahren zwar einen „herausragenden Stellenwert“, aber auch „keine absolute Wirkung“. Einen gesonderten völkerrechtlichen, internationalen Schutz auslösenden Tatbestand „Kindeswohl“ gebe es nicht.

Lange Verfahrensdauern und entsprechende Integrationsschritte könnten eventuell auf die Nichteinhaltung rechtskräftiger Entscheidungen bzw. die Vereitelung von Abschiebeversuchen zurückzuführen sein, heißt es. Angekündigt wurde, das Kindeswohl künftig als eigenständigen Prüftatbestand in Entscheidungen des BFA zu etablieren. Bereits umgesetzt sei die Forderung, negative Bescheide mit Bezug zu Minderjährigen zwingend dem Vieraugenprinzip zu unterwerfen, heißt es vom Beirat – anders als im Bericht der Kommission.

SPÖ will Bericht im Parlament behandeln

Die Kinder- und Jugendsprecherinnen der SPÖ im National- bzw. Bundesrat verlangen in einer Aussendung, dass der Bericht der Kindeswohlkommission auch im Parlament behandelt wird. Der Bericht der Kindeswohlkommission kombiniere „türkise Inkonsequenz mit grüner Toleranzromantik beim Thema Asyl“, kritisierte der freiheitliche Parlamentsklub.

NGOs sehen sich bestätigt

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) begrüßte die Vorschläge der Kommission. Unbegleitete Kinder und Jugendliche auf der Flucht brauchten „dringend Obsorge ab Tag eins“, so Birgit Einzenberger, Leiterin der Rechtsabteilung von UNHCR Österreich. Die Empfehlungen der Kindeswohlkommission würden zeigen, dass „ein kinderzentrierter Ansatz kein Luxus, sondern Anspruch an alle Akteure und Akteurinnen ist, die über den rechtlichen Status von Kindern und Familien entscheiden“, so Corinna Geißler vom Österreichischen Komitee für UNICEF.

In ihren Forderungen bestätigt sehen sich auch NGOs wie die Kinderfreunde, die Caritas und die Diakonie – mehr dazu in religion.ORF.at. „Offensichtlich reicht ein Bundesverfassungsgesetz nicht aus, um Kindern in Österreich ihre Rechte zu garantieren", kritisierte SOS Kinderdorf in einer Aussendung.

Die Abschiebungen vom Februar, die den Anlass für die Kommission darstellten, sorgten nicht nur für Zwist in der Koalition aus ÖVP und Grünen, sondern ließen Anfang des Jahres generell die Wogen hochgehen: Heftige Kritik an Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) gab es von Grünen wie Opposition. Misstrauensanträge von SPÖ und FPÖ blieben im Februar dennoch in der Minderheit.