Szene des Films „Wer wir waren“
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„Wer wir waren“

„Problemfilm“ als Glücksfall

Was werden zukünftige Generationen über uns denken, wenn wir bereits Geschichte sind? Mit der am Freitag anlaufenden Doku „Wer wir waren“ gelingt Marc Bauder ein Glücksfall von einem „Problemfilm“. Der Filmessay erzählt über sinnliche Bilder und mit leidenschaftlichen Protagonisten von der Zerbrechlichkeit unseres Planeten – und von einem notwendigen Kulturwandel, der ein besseres Leben verspricht.

Da ist die 85-jährige Meeresbiologin Sylvia Earle, die nach 65-jähriger Berufslaufbahn noch immer vom Facettenreichtum jener Farbe schwärmt, die sie in der Tiefe des Ozeans gesehen hat: „Es ist so unfassbar blau. Unbeschreiblich, wie viele Blautöne das sind.“ Und da ist der deutsche Astronaut Alexander Gerst, der von der Internationalen Raumstation (ISS) aus rosarote Wolkenwirbel bewundert und zum ersten Mal Größenverhältnisse zurechtgerückt sieht.

Was die sechs Expertinnen und Experten in „Wer wir waren“ eint, ist ein professionelles Staunen über die Schönheiten, die diese Welt in sich trägt – gepaart mit einer Trauer darüber, wie leicht wir das Wesentliche mit Füßen treten. Inspiriert vom letzten Buch des 2015 verstorbenen deutschen Publizisten Roger Willemsen vermisst Bauder in seinem Film den gegenwärtigen Zustand der Welt. Wobei die aus der Zukunft gerichtete Frage viel mehr auf dem „Was wir übersehen haben“ als auf dem „Was wir waren“ liegt.

Eine Szene des Films „Wer wir waren“ zeigt einen schwebenden Astronauten in einer Raumstation
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Demütiger Blick auf das große Ganze: Alexander Gerst auf der ISS

Keine klassische „Katastrophenästhetik“

Die Reise führt von den Tiefen des Ozeans bis ins Weltall, von der Küste des Senegal über ein buddhistisches Kloster in Thailand bis nach Japan nach der Katastrophe von Fukushima. Neben dem Raumfahrer und der Ozeanologin treten eine Robotikforscherin, zwei Ökonomen und ein Mönch auf. Ein weiterer Versuch also, die ökologische Katastrophe, Ressourcenausbeutung, Artensterben und die menschliche Kurzsichtigkeit weltumfassend zu greifen?

Der Themenpool deckt sich jedenfalls mit dem aktuell stark bespielten Feld der ökologiebewussten Naturdokus, die derzeit im Fernsehen und in Streamingdiensten angeboten werden. Dass dieser Film so anders und damit ein echter Glücksfall ist, hat zweierlei Gründe: Er findet andere und dennoch äußerst sinnliche Bilder, und er lebt von seinen gut gewählten Protagonistinnen und Protagonisten.

Auf visueller Ebene kann „Wer wir waren“ überzeugen, weil er sich weder in einem ästhetischen Katastrophismus gefällt – auf spektakuläre Bilder von brennenden Regenwäldern wird verzichtet – noch auf einen Ökoromantizismus in High-Definition-Farbenpracht setzt, Stichwort: beeindruckend bunte Fischschwärme.

Nur drei Menschen am tiefsten Punkt der Erde

Bauder wählt seine Bilder klug und mit Bedacht: Aus der riesigen Distanz der Raumstation zeigt er, wie Rodungen das dunkle Grün des Amazonas-Regenwalds immer mehr zum Fleckerlteppich werden lassen. Wohl kaum besser als aus dieser Perspektive lässt sich nachvollziehen, dass der Satz „Es gibt keinen Planeten B“ keine Phrase ist. „Wir haben nur diesen kleinen, blauen Planeten, der so eine dünne, zerbrechliche Atmosphäre hat“, sagt der sympathische Astronaut voller Demut.

Umgekehrt werden grieselige Bilder vom 400 Jahre alten Grönlandhai und von einer mysteriösen schwarzen Fontäne in den Meerestiefen zum stimmigen Ausdruck der geringen Aufmerksamkeit gegenüber dem blauen Teil der Erde, dem „schlagenden Herzen des Planeten“, wie die Ozeanografin Earle es nennt.

Eine Szene des Films „Wer wir waren“ zeigt einen Taucher, der einen Fischschwarm fotografiert
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„Wer wir waren“ setzt auf sinnliche Bilder, nicht aber auf die klassischen Naturdokusujets

„Wir müssen dieses System schützen, solange sein Herz noch schlägt, solange es uns noch am Leben erhält“, so Earle, die zu einer besseren Erforschung des Meeres aufruft. "Bislang sind nur drei Personen bis in elf Kilometer Tiefe vorgedrungen, zum tiefsten Punkt des Ozeans. Dabei waren schon so viele von uns elf Kilometer weit oben im Himmel.“

Homo oeconomicus war „fataler Irrtum“

Die vom „Time Magazine“ als „Heldin für den Planeten“ bezeichnete Ozeanologin und der deutsche Astronaut sind nur zwei der mitreißend in ihre Fachgebiete führenden Protagonistinnen und Protagonisten, die in „Wer wir waren“ zerstörerische Denk- und Verhaltensmuster analysieren. Neben der Ökologie ist auch die Ökonomie Thema, personifiziert etwa durch den Spitzenökonomen Dennis Snower, Berater der G-20-Staaten und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel.

Snower habe 30 Jahre lang an den „Homo oeconomicus“ geglaubt, wie er im Film erzählt, an Milton Friedmans Ideen von Nutzenmaximierung und Rationalität. Heute beeindruckt er damit, dass er seinen radikalen Sinneswandel offen darlegt und von einem „fatalen Irrtum“ spricht, der in den Untergang führen wird. „Wir waren total verblendet!“, so Snower, der heute dafür einsteht, dass die Wirtschaft nicht dem Profit einzelner, sondern dem Gemeinwohl dienen sollte.

Okzidentalozän, kein Anthropozän

Felwine Sarr, ebenfalls Ökonom, führt wiederum an die senegalesische Küste, dorthin, wo die Insel Dionewar bald im Meer versinken wird. „Es ist ein Okzidentalozän, kein Anthropozän. Denn es geht um den Okzident, den Westen. Sie wollen die Verantwortung teilen, haben aber die Probleme verursacht", so der postkoloniale Denker, der als einer der wichtigesten und bekanntesten seines Fachs gilt.

Von Afrika lernen, auf seine Archive des Wissens zugreifen, das sei die große Chance der Zeit: Neben findigen Lösungen bei Ressourcenknappheit meint Sarr damit nicht zuletzt eine Abkehr von einem Natur-Kultur-Verständnis, das dem Menschen alles unterordnet. Wie auch seine Kolleginnen und Kollegen plädiert er für mehr Aufmerksamkeit und Sensibilität für Tiere und Pflanzen, für „nicht menschliche Akteure“, nicht zuletzt, weil wir von ihnen abhängig sind.

Eine Szene des Films „Wer wir waren“ mit Ozeanologin Sylvia Earle
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Mit Leidenschaft und Enthusiasmus tritt die Ozeanologin Sylvia Earle für mehr Bewusstsein für die Weltmeere ein

Umfassender Kulturwandel gefragt

„Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten“, hört man einen Auszug aus Roger Willemsens Buch aus dem Off. „Das Ungeheuerlichste dieser Welt ist der Mensch“, sagt die Posthumanistin und Robotikforscherin Janina Loh, während die Kamera mit ihr durch die Ruinen von Fukushima zieht, und meint dabei beides: die erbärmliche Zerstörungswut des Menschen und seine Fähigkeit zur Kreation.

Für einen umfassenden Kulturwandel plädieren jedenfalls alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesem poetischen, klugen Film. Wie konkret, das bleibt etwas vage, die Denkrichtung – ein liebvollerer, einfühlsamerer, aufmerksamerer Umgang mit dem Planeten und allen Bewohnerinnen und Bewohner – ist allerdings klar. Und, wie hier zitierte einschlägige Studien zeigen, rettet das nicht nur die Zukunft unseres kleinen, blauen Planeten, sondern macht uns Menschen auch rundum glücklicher.