Eingangsbereich des EuGH
APA/AFP/John Thys
Justizreform

Folgenschweres EuGH-Urteil gegen Polen

Polen verstößt mit einem zentralen Teil seiner Justizreformen gegen EU-Recht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg urteilte am Donnerstag, dass Polen mit der neuen Disziplinarordnung für Richterinnen und Richter „gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat“. Unter anderem biete die neu geschaffene Disziplinarkammer „nicht alle Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“. In Polen stieß das Urteil auf scharfe Kritik.

Die EU streitet seit Jahren mit Warschau über die Justizreformen der rechtsnationalen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Unter anderem geht es dabei um die 2018 neu geschaffene Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die für Disziplinarverfahren gegen Richter zuständig ist und diese beispielsweise auch suspendieren kann.

Nach Auffassung der EU-Kommission ist die Unabhängigkeit dieser Kammer fraglich, da ihre Mitglieder vom politisch kontrollierten Landesjustizrat ernannt werden. Brüssel hatte deshalb Klage in Luxemburg eingereicht. Der EuGH gab der Kommission nun recht. Die Kammer ist „nicht unempfänglich“ für Einflussnahmen durch das polnische Parlament und die Exekutive, sagte das Gericht.

Ungarn und Polen als EU-Sorgenkinder

Ungarn und Polen entwickeln sich zunehmend zu den Sorgenkindern der EU. Die Kommission startete am Donnerstag das Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen des Homosexuellen-Gesetzes. Unterdessen urteilte der EuGH, dass Polens Disziplinierung von Richtern gegen EU-Recht verstößt.

„Politisches Urteil“

Die Regierung in Warschau zeigte sich unnachgiebig. „Es handelt sich um ein politisches Urteil, das auf politische Bestellung der EU-Kommission gefällt wurde“, sagte Justizminister Zbigniew Ziobro am Donnerstag in Warschau. Dahinter stünden ein „koloniales Denken“ sowie die Trennung der EU-Mitgliedsstaaten in bessere und schlechtere.

Vizejustizminister Sebastian Kaleta schrieb auf Twitter: „Der EuGH stellt Rechtsvorschriften infrage, die bei Polens Eintritt in die EU galten.“ Das System der Richterernennung sei das gleiche wie in Spanien, in Deutschland würden sogar Politiker die Richter wählen.

Polens Höchstgericht sieht EuGH-Urteile nicht bindend

Erst am Mittwoch hatte das Verfassungsgericht in Warschau geurteilt, dass die Anwendung einstweiliger Verfügungen des EuGH, die sich auf des Gerichtssystem des Landes beziehen, nicht mit Polens Verfassung vereinbar seien. Konkret geht es um die umstrittene Disziplinarkammer.

Der EuGH hatte bereits in einer einstweiligen Verfügung im April 2020 entschieden, dass die seit 2018 existierende Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs ihre Arbeit zunächst aussetzen müsse, weil sie möglicherweise nicht politisch unabhängig sei.

Anordnungen aus Luxemburg ignoriert

Trotz dieser Anordnung blieb die Disziplinarkammer aktiv. Am Mittwoch, kurz vor der Verkündung des Urteils des polnischen Verfassungsgerichts, ließ der EuGH noch eine weitere einstweilige Verfügung folgen: Darin wird Polen aufgefordert, die Bestimmungen auszusetzen, mit denen die Disziplinarkammer ermächtigt wird, über Anträge auf Aufhebung der richterlichen Immunität sowie über Fragen zur Beschäftigung und Pensionierung von Richtern zu entscheiden.

Das polnische Verfassungsgericht urteilte jedoch, die Vorschrift der EU-Verträge, auf deren Basis der EuGH seine einstweiligen Verfügungen erlasse, sei nicht konform mit der Verfassung. Die EU könne ihre Mitgliedsstaaten nicht bei der Schaffung von Regeln zum Justizsystem und der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ersetzen. Die Anhörung geht am Donnerstagnachmittag vor dem Verfassungsgerichtshof in Warschau weiter. Es soll über die Frage entschieden werden, ob die nationale Verfassung Vorrang vor EU-Recht hat. Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte das Verfassungsgericht Ende März um eine Entscheidung ersucht.

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki
Reuters/Olivier Matthys
Regierungschef Mateusz Morawiecki (PiS) will die EU-Rechtssprüche nicht akzeptieren

Kritiker der Regierung warnten vor einem Schritt Richtung „Polexit“ – also dem Austritt Polens aus der EU.

„Dramatische Entwicklung“

Der ÖVP-Europaabgeordnete Lukas Mandl sprach am Donnerstag von einer dramatischen Entwicklung. „Das EU-Recht gilt für alle Unionsbürgerinnen und -bürger“, so Mandl. Er wolle dazu beitragen, dass auch von polnischen Gerichten EU-Recht anerkannt wird. „Dafür steht die gesamte Palette an parlamentarischen, rechtlichen und auch finanziellen Konsequenzen bei unverschämt absurden Entscheidungen wie gestern Nachmittag zur Verfügung.“

Polens PiS-Regierung baute in den vergangenen Jahren das Justizwesen um. Die EU-Kommission eröffnete wegen strittiger Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung in Warschau und reichte Klagen beim EuGH ein.