„Es gibt Todesopfer“, sagte eine Sprecherin der Bezirksregierung Köln am Freitag. In der Ortschaft war es zu massiven und schnell fortschreitenden Unterspülungen von Häusern gekommen. Luftbilder zeigen Erdrutsche von gewaltigem Ausmaß. Häuser wurden mitgerissen und verschwanden. Autos lagen in neu entstandenen riesigen Erdlöchern neben Betonteilen der ehemaligen Kanalisation. Rund 50 Menschen konnten gerettet werden.
Aus den Häusern kämen immer wieder Notrufe. Menschen könnten derzeit aber nur mit Booten vom Wasser aus gerettet werden, hatte die Behörde zuvor mitgeteilt. Dazu erschwere ein Gasaustritt die Rettungsarbeiten. Mehrere Pflegeheime würden geräumt.
Wie viele Menschen vermisst werden, konnte die Sprecherin nicht sagen. Man habe keine Übersicht, ob sich alle Menschen haben retten können. „Wir wissen nicht, wer in den Häusern verblieben ist, weil Bürger und Bürgerinnen nach den Evakuierungen wieder zurückgegangen sind“, so der Landrat des Rhein-Erft-Kreises, Frank Rock. „Es ist eine katastrophale Lage, wie wir sie hier noch nie hatten“, sagte Rock.
Katastrophale Schäden
Die Lage in den Katastrophengebieten insgesamt blieb auch am Freitagvormittag prekär und unübersichtlich. Vermeldet wurden mindestens 93 Tote: Mindestens 60 Menschen in Rheinland-Pfalz, 43 in Nordrhein-Westfalen. Nach Polizeiangaben würden in Rheinland-Pfalz knapp unter 100 Menschen vermisst, sagte Innenminister Roger Lewentz Freitagfrüh im Deutschlandfunk. Orte sind von der Außenwelt abgeschnitten, die wirtschaftlichen Schäden enorm.
Die Regierungen der beiden betroffenen Bundesländer kamen zu Sondersitzungen zusammen. Es gilt in mehreren Kreisen Katastrophenalarm. Strom- und Telekommunikationsverbindungen wurden beschädigt und sind unterbrochen – auch darauf führen die Behörden die noch immer zahlreichen Vermisstenfälle zurück.
Im besonders stark betroffenen Kreis Bad Neuenahr-Ahrweiler im nördlichen Rheinland-Pfalz wurden laut Landesinnenminister Lewentz zuletzt neun weitere Leichen geborgen. Bei ihnen handelte es sich offenbar um Bewohner einer Behinderteneinrichtung. Die Menschen hätten sich nicht retten können, als der Pegel der Ahr in der Vornacht dramatisch anstieg. Bei den Unwettern im Norden von Rheinland-Pfalz fielen bis zu 148 Liter Regen pro Quadratmeter.
Orte nicht erreichbar
Das Ahrtal galt als von der Außenwelt abgeschnitten. Die Gegend sei über keine Zufahrtsstraße mehr zu erreichen, teilte die Polizei mit. Es gab zudem noch eine große Zahl vermisster Menschen. In Bad Neuenahr-Ahrweiler hatte die Kreisverwaltung diese am Donnerstagabend mit rund 1.300 angegeben.
Die hohe Zahl hing aber offenbar damit zusammen, dass viele Menschen telefonisch nicht erreichbar waren. Stark getroffen wurde auch der Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Dort kamen nach Angaben der Polizei vom Donnerstagabend mindestens 20 Menschen ums Leben.
Bahnverkehr steht weitgehend still
Der Zugsverkehr in den beiden deutschen Bundesländern ist wegen der Überflutungen weiterhin sehr stark beeinträchtigt. Zahlreiche Strecken seien komplett gesperrt oder nur eingeschränkt befahrbar, teilte die Deutsche Bahn am Freitag in Düsseldorf mit.
„Die Wassermassen haben Gleise, Weichen Signaltechnik, Bahnhöfe und Stellwerke in vielen Landesteilen von NRW und Rheinland-Pfalz stark beschädigt“, hieß es. Allein in Nordrhein-Westfalen seien Gleise auf einer Länge von rund 600 Kilometern betroffen. Im ganzen Katastrophengebiet waren am Freitag rund 165.000 Menschen von der Stromversorgung abgeschnitten.
Bund und Länder versprechen rasche Hilfe
Nach der Hochwasserkatastrophe wollen Bund und Länder rasch helfen, um die immensen Zerstörungen zu beseitigen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versprach den Betroffenen Hilfen, das nordrhein-westfälische Landeskabinett berät an diesem Freitag in einer Sondersitzung darüber. Rheinland-Pfalz hat bereits als kurzfristige Unterstützung 50 Millionen Euro bereitgestellt, um etwa Schäden an Straßen, Brücken und anderen Bauwerken zu beheben.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) kündigte schnelle Hilfe an. Das müsse sofort und unbürokratisch geschehen, sagte sie am Freitag. „Bund und Länder müssen schnell eine Lösung finden, wie den Betroffenen dort in den Regionen geholfen werden kann.“
Die Bundeswehr ist nach Angaben des Verteidigungsministeriums mit mehr als 800 Soldaten im Einsatz. Sie soll der Hilfe nach der Unwetterkatastrophe Vorrang vor anderen Aufgaben geben. „Jetzt kommt es darauf an, geeignetes Material aus der ganzen Republik bereitzustellen“, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Alle anderen Aufträge, die nicht unmittelbar mit den Auslandseinsätzen verbunden sind, sollten hintangestellt werden.
Viel schlimmer als „Jahrhunderthochwasser“ 2002
Die Unwetterkatastrophe ist die schlimmste der Nachkriegszeit in Deutschland. Obwohl die Rettungs- und Bergungsmaßnahmen noch laufen, liegt die Zahl der Toten bereits um ein Vielfaches höher als beim „Jahrhunderthochwasser“ des Jahres 2002, bei dem in Deutschland 21 Menschen starben.
Das ganze Ausmaß der Schäden war weiterhin nicht überschaubar. In Nordrhein-Westfalen lief am Donnerstagabend um kurz vor Mitternacht die Rurtalsperre über, wie der Wasserverband Eifel-Rur (WVER) mitteilte. Deshalb war mit weiteren Überschwemmungen am Unterlauf der Rur zu rechnen.
Schaltung ins Katastrophengebiet
ORF-Korrespondentin Verena Gleitsmann meldete sich in der ZIB2 aus dem von den katastrophalen Unwettern betroffenen Swisttal in Nordrhein-Westfalen.
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) begann mit der Anfertigung von Satellitenbildern der Überschwemmungsgebiete. Die Aufnahmen sollen den Behörden bei der Katastrophenbekämpfung helfen. „Auf Anfrage der Länder Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen hat das BBK den Copernicus-Dienst für Katastrophen- und Krisenmanagement ausgelöst“, sagte Vizepräsident Thomas Herzog dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Copernicus ist das europäische Erdbeobachtungsprogramm.
Kritische Lage auch in Belgien und Niederlanden
Von der Katastrophe heimgesucht wurden auch Teile Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande. In Belgien kamen nach Angaben der Behörden mindestens 15 Menschen ums Leben. Der wallonische Regierungschef Elio Di Rupo sagte dem Sender am Freitag, er befürchte, dass die Zahl der Todesopfer weiter steigen werde. „Gestern Abend waren noch Hunderte Menschen in ihren Häusern eingeschlossen“, sagte Di Rupo.
Das Krisenzentrum forderte die Bürger im Süden und Osten des Landes auf, auf sämtliche Reisen zu verzichten. Dutzende Straßenabschnitte blieben für den Verkehr gesperrt, ebenso wie die meisten Bahnstrecken in der Wallonie. Am Freitag verkehrten zudem keine Thalys-Hochgeschwindigkeitszüge mehr zwischen Belgien und Deutschland. Mehr als 21.000 Menschen in der Region waren ohne Strom.
In der belgischen Großstadt Lüttich waren die Anrainer der Maas am Donnerstag wegen außergewöhnlich starken Hochwassers aufgerufen worden, schnell ihre Häuser zu verlassen. In der Nacht stieg der Wasserpegel jedoch nicht weiter. Im am stärksten betroffenen Stadtteil sinke er inzwischen „sehr langsam“, teilte die Lütticher Polizei Freitagfrüh mit.
Auch in der niederländischen Provinz Limburg riefen die Behörden Tausende Menschen auf, ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen. Sie waren durch den steigenden Pegel des Flusses Maas bedroht.
UNO sieht Zusammenhang mit Klimakrise
Die Vereinten Nationen sehen die Hochwasserkatastrophe in Deutschland als Folge des fortschreitenden Klimawandels. Es sei ein größerer Trend in Bezug auf den Klimawandel, dass er zu größeren Wetterextremen führe, sagte eine UNO-Sprecherin am Donnerstag in New York. Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise seien nötig, um Vorfälle wie jenen in Deutschland künftig zu begrenzen. Die UNO bedauerte die zahlreichen Toten und sprach ihren Angehörigen ihr Beileid aus. Frankreich sicherte Deutschland und Belgien Solidarität und Unterstützung zu, wie Ministerpräsident Jean Castex auf Twitter erklärte.
Wetterextreme und Klimakrise
Die deutschen Klimaforscher Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber schreiben in ihrem Werk „Der Klimawandel“, dass Wetterextreme wie Stürme, Überschwemmungen und Dürren jene Auswirkungen des Klimawandels seien, die viele Menschen „am direktesten zu spüren bekommen“. Eine Zunahme sei allerdings nicht so leicht nachweisbar, „da die Klimaerwärmung bislang noch moderat und Extremereignisse per Definition selten sind – über kleine Fallzahlen lassen sich kaum gesicherte statistische Aussagen machen“.
Buchhinweis
Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber: Der Klimawandel. Verlag: C. H. Beck Wissen, 144 Seiten, 10,30 Euro.
Ein paar Zeilen weiter darunter heißt es allerdings: „Zwar lassen sich einzelne Extremereignisse nicht direkt auf eine bestimmte Ursache zurückführen. Doch man kann zeigen, dass sich die Wahrscheinlichkeit (oder Häufigkeit) bestimmter Ereignisse durch die globale Erwärmung erhöht.“ Vergleichbar sei das mit der Tatsache, dass Raucher und Raucherinnen häufiger Lungenkrebs bekämen, es sich im Einzelfall aber nicht beweisen ließe, ob der Patient nicht auch, ohne zu rauchen, Krebs bekommen hätte.