Zerstörte Fahrzeuge  in Bad Neuenahr-Ahrweiler, Deutschland
APA/AFP/Christof Stache
Hochwasserkatastrophe

Mehr als 100 Tote in Deutschland

Die Hochwasserkatastrophe in Teilen Nordwesteuropas hat allein in Deutschland bereits über 100 Menschenleben gefordert. Die besonders schwer getroffenen Gebiete Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen meldeten 63 bzw. 43 Tote. Auch in Belgien verloren über 20 Menschen ihr Leben. Die Lage bleibt prekär.

Zahlreiche Menschen werden weiterhin vermisst, laut Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) wird eine noch höhere Opferzahl befürchtet. Der militärische Katastrophenalarm wurde in Deutschland ausgelöst, mehr als 850 Soldaten und Soldatinnen standen im Einsatz. Die Situation bleibt unübersichtlich, in einigen Orten deutete sich bei sinkenden Pegelständen etwas Entspannung an. Die Unwettergefahr sollte am Wochenende auch allmählich abnehmen, so der Deutsche Wetterdienst.

Zuvor waren wegen anhaltenden Starkregens an Rhein, Mosel und kleineren Flüssen im Westen Deutschlands die Pegelstände gestiegen. Etliche Häuser sind bereits eingestürzt. Dämme drohen zu brechen. In mehreren von Hochwasser betroffenen Orten sitzen nach wie vor Menschen in ihren Häusern fest. Das Ausmaß der Verwüstung sei derzeit noch nicht zu ermitteln, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Freitag.

„Das Leid nimmt auch gar kein Ende“, sagte die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD), bei einem Besuch der Berufsfeuerwehr in Trier. Die Zahl der Toten steige weiter. Überall gehe jetzt das Wasser zurück, daher würden nun Menschen gefunden, die bei der Katastrophe ertrunken seien. „Und da könnte man eigentlich nur noch weinen. Das ist ein Horror.“

Erdrutsche rissen Häuser weg

Dramatische Szenen spielten sich in Erftstadt-Blessem ab, wo Erdrutsche Häuser und Autos wegrissen. „Es gibt Todesopfer“, sagte eine Sprecherin der Bezirksregierung Köln am Freitag. In der Ortschaft war es zu massiven und schnell fortschreitenden Unterspülungen von Häusern gekommen. Luftbilder zeigten Erdrutsche von gewaltigem Ausmaß.

Verteilung von Sandsäcken in Erftstadt, Deutschland
Reuters/Thilo Schmuelgen
Notmaßnahmen in Erftstadt

Aus den Häusern kämen immer wieder Notrufe. Ein Gasaustritt erschwerte die Rettungsarbeiten. Mehrere Pflegeheime würden geräumt. Wie viele Menschen vermisst werden, war unklar. Man habe keine Übersicht, ob sich alle Menschen haben retten können. „Wir wissen nicht, wer in den Häusern verblieben ist, weil Bürger und Bürgerinnen nach den Evakuierungen wieder zurückgegangen sind“, so der Landrat des Rhein-Erft-Kreises, Frank Rock. „Es ist eine katastrophale Lage, wie wir sie hier noch nie hatten“, sagte Rock.

Heikel blieb die Lage auch in Swisttal im Süden von Nordrhein-Westfalen. Dort bestand die Gefahr, dass eine Staumauer der Steinbachtalsperre aufgrund der Wassermassen brechen könnte. Rund 2.000 Menschen wurden in Sicherheit gebracht.

Katastrophale Schäden

Die Lage in den Katastrophengebieten insgesamt blieb auch am Freitagvormittag prekär und unübersichtlich. Die Regierungen der beiden betroffenen Bundesländer kamen zu Sondersitzungen zusammen. Strom- und Telekommunikationsverbindungen wurden beschädigt und sind unterbrochen – auch darauf führen die Behörden die noch immer zahlreichen Vermisstenfälle zurück.

Zerstörung nach Überschwemmung in Deutschland
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Die Aufräumarbeiten machen erst das Ausmaß der Katastrophe sichtbar

Im besonders stark betroffenen Kreis Bad Neuenahr-Ahrweiler im nördlichen Rheinland-Pfalz wurden laut Landesinnenminister Lewentz zuletzt zwölf weitere Leichen geborgen. Bei ihnen handelte es sich offenbar um Bewohner einer Behinderteneinrichtung. Eine Person wurde gerettet, weitere wurden vermisst. „Das Wasser drang innerhalb einer Minute bis an die Decke des Erdgeschoßes“, sagte der Geschäftsführer des Landesverbands der Lebenshilfe.

Ein Mann watet durch überschwemmtes Gebiet in Bad Neuenahr-Ahrweiler
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Auch in Bad Neuenahr-Ahrweiler ist die Lage verheerend

Orte nicht erreichbar

Das Ahrtal galt als von der Außenwelt abgeschnitten. Die Gegend sei über keine Zufahrtsstraße mehr zu erreichen, teilte die Polizei mit. Es gab zudem noch eine große Zahl vermisster Menschen. Stark getroffen wurde auch der Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Dort kamen nach Angaben der Polizei vom Donnerstagabend mindestens 20 Menschen ums Leben.

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Eine Überschwemmte Kleinstadt in Deutschland
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Im Westen Deutschlands stehen ganze Ortschaften unter Wasser. Hier die Gemeinde Insul am Fluss Ahr.
Ein Teil eines Hauses wurde vom Wasser weg gerissen
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Ein Teil eines Hauses in Hagen wurde vom Wasser weggerissen
Feuerwehrleue versuchen jemanden aus einem Haus zu retten
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Feuerwehrleute versuchen in Trier, Personen aus einem Haus zu retten
Eingestürztes Haus in Schuld in Nordrhein-Westfalen
Reuters/Wolfgang Rattay
Eingestürztes Haus in Schuld in Rheinland-Pfalz
Weggespülte Straße in Schuld
Reuters/Wolfgang Rattay
Die Straße im Ort Schuld wurde weggespült
Luftaufnahme vom teilweise zerstörten Ort Schuld in Nordrhein-Westfalen
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Luftaufnahme vom teilweise zerstörten Ort Schuld
Überfluteter Rhein in Köln
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Der Rhein bei Köln
Die Kyll ist in Erdorf in Rheinland-Pfalz über die Ufer getreten und hat Teile des Dorfes geflutet.
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Durch die Unwetter traten Flüsse über die Ufer
Ein Auto ist in Hagen in Nordrhein-Westfalen vom Schutt bedeckt
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Ein Auto wurde von Schutt bedeckt, den ein über die Ufer getretener Fluss mitführte
Deutsche Soldaten bei den Aufräumarbeiten
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Feuerwehr und Polizei erhielten Unterstützung von Mitgliedern der deutschen Bundeswehr
Bergepanzer
APA/Roberto Pfeil
Soldatinnen und Soldaten sind mit Bergepanzern und anderem Gerät im Einsatz
Der Ort Altena ist überflutet
picturedesk.com/dpa/Marc Gruber
Der Ort Altena in Nordrhein-Westfalen ist überflutet

Der Zugsverkehr in den beiden deutschen Bundesländern ist wegen der Überflutungen weiterhin sehr stark beeinträchtigt. Zahlreiche Strecken seien komplett gesperrt oder nur eingeschränkt befahrbar, teilte die Deutsche Bahn am Freitag mit. „Die Wassermassen haben Gleise, Weichen Signaltechnik, Bahnhöfe und Stellwerke in vielen Landesteilen von NRW und Rheinland-Pfalz stark beschädigt“, hieß es. Eine erste Bilanz der Regenmengen veröffentliche indes der Wetterdienst. Der Spitzenwert innerhalb von 72 Stunden wurde in Nachrodt-Wiblingwerde verzeichnet. Dort fielen 182,4 Liter Niederschlag pro Quadratmeter.

Bund und Länder versprechen rasche Hilfe

Bund und Länder wollen nun rasch helfen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) versprachen den Betroffenen Hilfen, die Entscheidung über die Hilfsmaßnahmen soll kommende Woche fallen. Rheinland-Pfalz hat bereits als kurzfristige Unterstützung 50 Millionen Euro bereitgestellt, um etwa Schäden an Straßen, Brücken und anderen Bauwerken zu beheben. Sie richtete eine Stabstelle Wiederaufbau ein.

Zerstörte Häuser bei Bad Neuenahr
APA/AFP/Bernd Lauter
Viele Menschen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz

Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) will indes die Anstrengungen zum Klimaschutz noch einmal verstärken. „Da werden wir noch mehr tun müssen in der Zukunft. Da wird investiert werden müssen. Das zeigen auch die Bilder hier wirklich in dramatischer Weise. Wir müssen aktiv etwas gegen diese Klimaveränderungen tun. Es gibt ja noch Menschen, die es nicht glauben, dass es Veränderungen gibt. Hier kann man es sehen“, sagte die Politikerin. Die Flutkatastrophe sei eine „nationale Tragödie“.

Die Bundeswehr ist nach Angaben des Verteidigungsministeriums mit mehr als 800 Soldaten im Einsatz. Sie soll der Hilfe nach der Unwetterkatastrophe Vorrang vor anderen Aufgaben geben. „Jetzt kommt es darauf an, geeignetes Material aus der ganzen Republik bereitzustellen“, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Alle anderen Aufträge, die nicht unmittelbar mit den Auslandseinsätzen verbunden sind, sollten hintangestellt werden.

Viel schlimmer als „Jahrhunderthochwasser“ 2002

Die Unwetterkatastrophe ist die schlimmste der Nachkriegszeit in Deutschland. Die Zahl der Toten liegt bereits um ein Vielfaches höher als beim „Jahrhunderthochwasser“ des Jahres 2002, bei dem in Deutschland 21 Menschen starben. Das ganze Ausmaß der Schäden war weiterhin nicht überschaubar. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) begann mit der Anfertigung von Satellitenbildern der Überschwemmungsgebiete.

D: Über 100 Tote nach Flutkatastrophe

In den deutschen Bundesländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfestfalen wurden nach den verheerenden Überschwemmungen bereits über 100 Tote geborgen.

Kritische Lage auch in Belgien und Niederlanden

Kritisch ist die Lage auch in Luxemburg, Belgien und den Niederlanden. Entlang der Maas im Süden der Niederlande mussten zahlreiche Menschen am Freitag ihre Häuser verlassen, weil die Fluten ein Loch in einen Damm gerissen hatten. In Venlo an der Grenze zum deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde ein Krankenhaus mit 200 Patientinnen und Patienten vorsorglich evakuiert.

Benedikt Feichtner (ORF) live aus der Provinz Lüttich

Benedikt Feichtner ist live in Theux in der belgischen Provinz Lüttich und berichtet von der starken Verwüstung durch die katastrophalen Überschwemmungen.

Tausende Einwohnerinnen und Einwohner von Maastricht und angrenzenden Orten, die sich am Vorabend bereits in Sicherheit gebracht hatten, konnten am Freitag wieder in ihre Wohnungen zurückkehren. Zwar kam es oft nicht zu den befürchteten verheerenden Überflutungen, die Wassermassen richteten aber Schäden an. In der Nacht hatte die Maas unweit der belgischen Grenze ihren höchsten Wasserstand seit Beginn der Aufzeichnungen 1911 erreicht. Am Vormittag sank der Pegelstand dort wieder.

Zerstörte Autos und Straßen in Verviers, Belgien
APA/AFP/Francois Walschaerts
Auch in Belgien richteten Überflutungen schwere Schäden an

In Belgien forderten die Fluten mindestens 20 Menschenleben. In der Wallonie waren mehrere tausend Bewohnerinnen und Bewohner ohne Strom. Dutzende Straßenabschnitte blieben für den Verkehr gesperrt, ebenso wie die meisten Bahnstrecken in der Wallonie. In der belgischen Großstadt Lüttich (Liege) waren die Anrainerinnen und Anrainer der Maas am Donnerstag wegen außergewöhnlich starken Hochwassers aufgerufen worden, schnell ihre Häuser zu verlassen. In der Nacht stieg der Wasserpegel jedoch nicht weiter. Die Einsatzkräfte bekommen internationale Hilfe, unter anderem von Feuerwehren aus Niederösterreich – mehr dazu in noe.ORF.at.

Schlamm auf einer Straße in Liege
APA/AFP/Bruno Fahy
Verwüstung in Ensival nahe Lüttich

UNO sieht Zusammenhang mit Klimakrise

Die Vereinten Nationen sehen die Hochwasserkatastrophe in Deutschland als Folge des fortschreitenden Klimawandels. Es sei ein größerer Trend in Bezug auf den Klimawandel, dass er zu größeren Wetterextremen führe, sagte eine UNO-Sprecherin am Donnerstag in New York. Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise seien nötig, um Vorfälle wie jenen in Deutschland künftig zu begrenzen. Die UNO bedauerte die zahlreichen Toten und sprach ihren Angehörigen ihr Beileid aus.

Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Hochwasserkatastrophe und der Klimakrise. Es zeige sich, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Frankreich sicherte Deutschland und Belgien Solidarität und Unterstützung zu, wie Ministerpräsident Jean Castex auf Twitter erklärte.

Wetterextreme und Klimakrise

Die deutschen Klimaforscher Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber schreiben in ihrem Werk „Der Klimawandel“, dass Wetterextreme wie Stürme, Überschwemmungen und Dürren jene Auswirkungen des Klimawandels seien, die viele Menschen „am direktesten zu spüren bekommen“. Eine Zunahme sei allerdings nicht so leicht nachweisbar, „da die Klimaerwärmung bislang noch moderat und Extremereignisse per Definition selten sind – über kleine Fallzahlen lassen sich kaum gesicherte statistische Aussagen machen“.

Buchhinweis

Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber: Der Klimawandel. Verlag: C. H. Beck Wissen, 144 Seiten, 10,30 Euro.

Ein paar Zeilen weiter darunter heißt es allerdings: „Zwar lassen sich einzelne Extremereignisse nicht direkt auf eine bestimmte Ursache zurückführen. Doch man kann zeigen, dass sich die Wahrscheinlichkeit (oder Häufigkeit) bestimmter Ereignisse durch die globale Erwärmung erhöht.“ Vergleichbar sei das mit der Tatsache, dass Raucher und Raucherinnen häufiger Lungenkrebs bekämen, es sich im Einzelfall aber nicht beweisen ließe, ob der Patient nicht auch, ohne zu rauchen, Krebs bekommen hätte.