Grafik der 7-Tages-Inzidenz
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Gradmesser der Pandemie

Inzidenz mit neuen Vorzeichen

452 Neuinfektionen mit dem Coronavirus haben die Ministerien am Donnerstag gemeldet. Die von der AGES berechnete 7-Tage-Inzidenz liegt bei 26,8. Vieles deutet auf den Beginn einer vierten Welle hin, wie es sie in England, Portugal und den Niederlanden bereits gibt. Doch während die Infektionszahlen stark steigen, bleibt dort der Anstieg der schwerer Erkrankten – vor allem dank Impfung – überschaubar. Mittlerweile stellt sich auch in Österreich die Frage, wie aussagekräftig die Inzidenz als Gradmesser der Pandemie ist.

Die Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass schwere Verläufe vor allem Dank zweier Faktoren nun deutlich weniger oft vorkommen als in den vorhergehenden Wellen: Impfungen verhindern, wenn sie nicht sogar schon die Ansteckung unterbinden, in den meisten Fällen eine schwere Erkrankung. Und es infizieren sich derzeit in Europa vor allem junge Menschen, die noch nicht geimpft waren, aber aufgrund ihres Alters auch seltener schwer erkranken.

In Deutschland wird die Frage bereits länger diskutiert, ob die Inzidenz noch ein gutes Instrument ist, allerdings mit besonderen Vorzeichen: Dort waren Maßnahmen an bestimmte Inzidenz-Schwellenwerte gekoppelt. Zwar schreibt auch das Robert-Koch-Institut (RKI), dass es eine Gesamtbetrachtung mehrerer Indikatoren brauche und neben der Inzidenz etwa auch die Zahl der Hospitalisierten und der Belegung auf den Intensivstationen berücksichtigt werden müsse.

Inzidenz an fixe Maßnahmen gekoppelt

Doch in der Politik und im öffentlichen Diskurs sah man dann noch vor allem auf die Inzidenzen. Unter 50 Infizierte pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche gelten etwa als Wert, wo Lockerungen möglich sind. Diese Verknüpfung scheint nun zumindest diskussionswürdig. Der deutsche Virologe Christian Drosten sprach bereits im Juni davon, dass womöglich eine „Laborwelle“ bevorstehe, also viele Infektionen zwar nachgewiesen würden, das Krankheitsgeschehen aber überschaubar bleiben könnte. In der deutschen Politik wollte man zuletzt dennoch an der Inzidenz als Instrument festhalten.

Reich: Immer auch andere Indikatoren beobachtet

Ähnlich wird in Österreich argumentiert. Katharina Reich, Chief Medical Officer, also die höchste Beamtin im Gesundheitsministerium, sagte im Ö1-Mittagsjournal, mit der 7-Tage-Inzidenz sei man als eine Art Tachometer „bis dato gut gefahren“. Sie verweist aber auch darauf, dass man nie nur auf die Inzidenz, sondern „immer auf das sogenannte Systemrisiko“ geachtet hatte. Das sei vor allem die Auslastung in den Spitälern – sowohl im Normalbettenbelag als auch auf den Intensivstationen.

Tatsächlich berücksichtigt auch die CoV-Kommission bei ihrer Lageeinschätzung und der Coronavirus-Ampel auch immer mehrere Faktoren. Neben den Spitalskapazitäten wird etwa auch berücksichtigt, in wie vielen Fällen durch Contact-Tracing die Ansteckungsquelle ermittelt werden kann.

Gartlehner plädierte für Inzidenzen-Vergleich

Für eine Änderung hatte zuletzt Gerald Gartlehner, Epidemiologe und Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Universität Krems plädiert. „Wir befinden uns jedenfalls in einer völlig neuen Situation, mit zwei Populationen, die nebeneinander existieren – eine immune und eine nicht immune“, sagte Gartlehner in der „Presse“. Er schlug vor, in Zukunft zwei 7-Tage-Inzidenzen anzugeben: eine für Geimpfte und eine für Nichtgeimpfte, „auch, um zu zeigen, wie unterschiedlich sich die Infektionszahlen in den beiden Gruppen verhalten und wie hoch der Schutz ist, den die Impfung bietet“.

Zu kompliziert?

Dem konnte Reich im Mittagsjournal nichts abgewinnen. Es wäre zu kompliziert, meinte sie: „Die oberste Maxime muss sein, dass wir einfach bleiben.“ Das ist wohl tatsächlich einer der Gründe, die dafür spricht, dass sich die 7-Tage-Inzidenz als Maßzahl hält: Sie ist mittlerweile, gemeinsam mit dem Wert der täglichen Neuinfektionen, fest im Alltagswissen der Bevölkerung verankert.

Ein Vergleich der Inzidenzen von Geimpften und Ungeimpften wäre aber auch wohl methodisch schwierig, nachdem davon auszugehen ist, dass sich bereits voll Immunisierte deutlich seltener testen lassen.

Wie genau wird das Infektionsgeschehen abgebildet?

Solche und ähnliche Fragen haben aber bereits seit dem Beginn der Pandemie ihre Berechtigung, nämlich inwieweit die Tests und damit die Pandemiekurve als ganz genaues Abbild des Infektionsgeschehens zu sehen sind. So galt vor allem im Frühjahr 2020, also in der ersten Welle: Je mehr getestet wird, umso mehr Fälle werden auch gefunden. Verfügbar waren damals auch nur die noch teureren PCR-Tests, Antigen-Tests gab es noch nicht. Insofern ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer damals weit höher war und die Kurve der tatsächlich entdeckten Fälle deutlich zu klein ausgefallen ist.

Mit Massenscreenings durch Antikörpertests – die erst mit 13. Jänner 2021 in die offizielle Statistik einfließen – konnte freilich ein besserer Überblick über das Infektionsgeschehen gewonnen werden. Dennoch gibt es Verzerrungen: Manche Bevölkerungsgruppen wurden und werden – abhängig von Testmöglichkeit und Bereitschaft dazu – regelmäßig getestet, während andere unter diesem Radar bleiben. Treten dort symptomlose Infektionen auf, bleiben sie vielleicht weiter unentdeckt. Schülerinnen und Schüler wiederum wurden bis Semesterende flächendeckend und regelmäßig getestet – was wiederum in Vergleich zu andern Altersgruppen zu höheren Inzidenzen führte.

Schwierige Datenlage

Und schließlich gab es – wenn auch in wahrscheinlich kleinerem Rahmen – Fehler durch Tests und Datenübermittlungen. Gerade die fehleranfälligen „Nasenbohrer“-Antigen-Tests verursachten vor allem im Mai und Juni bei immer weniger tatsächlichen Infektionen vermehrt falsch positive Ergebnisse.

Auch gab es in den vergangene Monaten immer wieder Nachmeldungen und Datenkorrekturen, die vor allem dem Umstand geschuldet waren, dass die Datenübertragung zwischen unterschiedlichen Erfassungssystemen in den Bundesländern und dem zentralen Epidemiologischen Meldesystem (EMS) noch immer holprig ist. Bis heute gibt es zwei Zählarten: eine des Krisenstabs der Ministerien und eine bereinigte im EMS, was nicht gerade zu Entwirrung beigetragen hat. Das sah zuletzt auch der Rechnungshof so, der in einem Bericht die Datenlage in Österreich kritisierte.

Rechnungshof kritisiert lückenhafte CoV-Daten

Die CoV-Maßnahmen der Bundesregierung basieren einem geleakten Rechnungshofbericht zufolge auf lückenhaften Daten über Testmeldungen oder Intensivstationsbelegungen. Gefordert werde daher eine Reform des epidemiologischen Meldesystems.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Zahl der Neuinfektionen und Inzidenz vor allem Trends sowie Geschwindigkeit und Ausmaß der Ausbreitung einigermaßen gut darstellen, aber jedenfalls nicht das tatsächliche Infektionsgeschehen eins zu eins abbilden.

Paradigmenwechsel zurück zum PCR-Test

Wohl zu einem gewissen Maß die Daten der Infektionen beeinflussen könnte auch der derzeitige Paradigmenwechsel zurück zu PCR-Tests. Ende vergangenen Jahres hatte man begonnen, verstärkt auf Antigen-Tests zu setzen, die billiger und vor allem schneller als PCR-Tests sind. Doch nun werden PCR-Tests als „Eintrittskarte“ in die Nachtgastronomie verlangt – weil sie Infizierte auch erkennen, wenn sie noch nicht infektiös sind.

Dementsprechend wird das Testangebot jetzt ausgeweitet: Das Wiener System „Alles gurgelt“ wird bundesweit ausgerollt und auch die Apotheken sollen kostenlose PCR-Tests anbieten – mehr dazu in oesterreich.ORF.at. Damit werden aber auch Fälle erfasst, die vielleicht gar nichts zum Infektionsgeschehen beitragen, etwa weil manche zwar infiziert sind, aber – dank einer Impfung – gar nicht infektiös werden.

Neuinterpretation der Inzidenz?

Bleibt die Inzidenz also ein kollektiv verankerter Wert der Pandemie, wovon auszugehen ist, so bedarf es jedenfalls einer Neuinterpretation des Werts. Gartlehner sieht in der „Presse“ die derzeit größte Herausforderung darin, herauszufinden, welche Inzidenz unter den neuen Bedingungen einer teilweise geimpften Gesellschaft zu welcher Intensivbelegung führt.

Bisher ging man in einer sehr groben Rechnung bei 100 Neuinfektionen von zehn Hospitalisierten und einer Person auf der Intensivstation aus. Je höher der Immunisierungsgrad in der Bevölkerung, also je mehr geimpft sind oder vor Kurzem eine Infektion durchgemacht haben, desto weniger Menschen erkranken schwer.

Dennoch: Bei sehr hohen Infektionszahlen schlägt sich auch die geringe Wahrscheinlichkeit, trotz Impfungen zu erkranken, in höheren absoluten Zahlen nieder. Ein „Testland“ dafür gibt es: Gartlehner plädiert dafür, „die Entwicklung der Pandemie in Großbritannien aufmerksam zu beobachten, um daraus zu lernen und Entscheidungen für Österreich abzuleiten“.