„Mare“ – dieses Wegschild nach der Abfahrt von der A4 im Veneto weckt hohe Erwartungen. Bald, so meint man, werde man am Meer ankommen, um dann doch noch durch ein ewig wirkendes Zickzack von Straßen und Kreisverkehren geschickt zu werden. Dass es keine einfachen Wege in diesem flachen Land gibt, liegt nicht zuletzt an der Vielzahl von Kanälen und Wasserwegen, die das Gebiet hinter Venedig durchziehen.
Zahlen, Daten
In Nicht-Pandemie-Jahren zählt alleine der Ort Grado 1,4 Mio. Nächtigungen, von denen 60 Prozent auf Österreicher fallen. Jesolo zählt pro Jahr mehr als fünf Millionen Besucher.
Die „Terraferma“, das „Festland“ hinter der Lagune von Venedig, konnte überhaupt erst in den 1920er Jahren von der Malaria befreit werden. Der Tagliamento, die Livenza und nicht zuletzt der Piave sind wichtige Zubringer für Süßwasser im Gebiet zwischen Grado und Venedig. Und sie haben das Leben der Menschen über Jahrhunderte bestimmt.
Der Piave, jener am Südstock der Karnischen Alpen entspringende Fluss, der im Deutschen den Namen Ploden trägt und in seiner Geschichte sowohl die männliche als auch weibliche Namensvariante kannte, mündete einst via Brenta in die Lagune von Venedig und war mit Brenta und Sile so etwas wie der Geburtshelfer des Schwemmlandes von Venedig und bildete im Mündungsgebiet zugleich den Canal Grande.

Der Piave als Grenzzieher
Doch mittlerweile fließt der Piave nicht mehr in die Lagune, sondern hat nach einigen Regulierungen sein Ziel in der Adria nördlich des kleinen Ortes Cortellazzo, am Rand der Pineta von Jesolo und bildet dort eine kleine wilde Naturwelt, die nur über eine Pontonbrücke zu erreichen ist.
Die Piaveschlachten
Der Unterlauf des Piave bildete ab November 1917 die neue Frontlinie nach der zwölften Isonzoschlacht. Ein Versuch der k. u. k. Streitkräfte, ab 15. Juni 1918 die italienische Front mit einer neuen Offensive zu durchbrechen, scheiterte unter schweren Verlusten. Der Großangriff der Alliierten im Piavegebiet am 24.10.1918 führte zum Zusammenbruch der Südwestfront und schließlich zum Waffenstillstand in der Villa Giusti.
Der Piave, der, wie große Brückenübergänge erinnern, der „Fiume Sacro alla Patria“ sei, wird gerne zum unüberwindbaren Grenzzieher stilisiert. So heißt es in der kurzzeitigen Hymne Italiens, dem nationalpatriotischem „Piave-Lied“ („La leggenda del Piave“), das für österreichische Ohren alles andere als einladend ist:
„S’udiva intanto dalle amate sponde
Sommesso e lieve il tripudiar dell’onde
Era un presagio dolce e lusinghiero
Il Piave mormorò: ‚Non passa lo straniero‘“
„Man hörte derweil von den geliebten Ufern
Den Jubel der Wellen, gedämpft und leicht.
Es war eine Vorahnung, süß und verheißungsvoll:
Der Piave murmelte: Der Fremde kommt hier nicht durch!“
Der Heilige und sein Fluss
Lange noch bevor Österreich und Italien die Piaveschlachten fochten, hatte der Fluss Piave selbst Geschichte geschrieben. Hauptbetroffen davon: die Stadt San Dona di Piave, heute ungefähr so groß wie die niederösterreichische Hauptstadt St. Pölten. Im zwölften Jahrhundert als Villa Sancti Donati unweit des einst antiken Ortes Heraclea gegründet, wurde San Donato im Jahr 1250 Opfer einer großen Piava-Überschwemmung, die die Ortskirche und den Restort in zwei Teile riss. Fortan sprach man von den Gemeinden „San Donato de qua de la Piave“ (San Donato vor der Piave) und „San Donato oltre la Piave“ (San Donato hinter der Piave), wo die eigentliche Kirche lag.
Historische Grenzziehungen
Einen kulturgeschichtlichen Blick auf Grenzziehungen wirft aktuell eine Schau im Lienzer Schlossmuseum Bruck. Zu erkennen dabei auch das Ausdehnungsgebiet des Patriachats von Aquilea.
Zwischen den Orten lagen nun aber auch Diözesangrenzen: Gehörte der westlichere Ort fortan zum Bischof von Torcello, blieb San Dona im Bereich des Patriachats von Aquilea, das sich damals ja bis hinauf ins Drautal zog (und Lienz als einzigen Ort nördlich der Drau mit einschloss).
Ein Freundschaftspakt erlaubte beiden fortan getrennten Gemeinden die „Nutzung“ des gleichen Heiligen für zwei unterschiedliche Kirchen. Die Auflage: Das neue San Donato sollte dem Ortsteil mit der Kirche pro Jahr zwei lebende Kapaune schenken, um weiter den Schutz des heiligen Donatus erbitten zu dürfen (eine Tradition, die noch in der Gegenwart zwischen Musile di Piave und San Dona gepflogen wird).

Venedig und der Zugriff auf den Piave
Als die Republik Venedig in den kommenden Jahrhunderten ihren Einfluss auf das Hinterland ausweitete, sollte auch der Piave wieder gezähmt, vor allem in die Lagune von Venedig rückgeleitet werden. Einer, der die Umleitung des Piava samt der Gestaltung von Villenanlagen mit übernahm, war der aus Vicenza stammende Architekt Vincenzo Scamozzi, der die Nachfolge des legendären Andrea Palladio antreten wollte und auch für die Neudimensionierung des Salzburger Domviertels verantwortlich zeichnete.
Scamozzi sollte die Arbeiten an der Flussumleitung samt der Gestaltung der Villa für Domenico Trevisan nicht mehr erleben. Doch alle Anstrengungen des Menschen wurden ohnedies vom Piave 1683 zunichte gemacht, als der Fluss erneut sein Bett verlegte und sich von nun ab noch mehr nach Osten verlegte. Die „Piave Vecchia“ (damals noch weiblich bezeichnet) galt fortan als ein zu meidendes stehendes Gewässer, in dem sich zahlreiche Seuchen ausbreiteten.

Der Piave sollte im 19. Jahrhundert die entscheidenden Regulierungen erhalten – und auch Brückenbauten, die eine bessere Überquerung des Flusses ermöglichten. Auch der alte Piave, jener heute am Altort Jesolo vorbeiziehende Fluss sollte wieder schiffbar werden und bei Cortellazzo mit dem neu regulierten Piave zusammenfließen.
San Dona ist heute wie Musile eine Stadt, die unter dem Schutz einer hohen Dammkrone liegt. Denn obwohl der Piave ja im Cadore mittlerweile reguliert ist, haben sich Flusstragödien tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Die Tragödie von Longarone ereignete sich ja am Piave-Zufluss Vajont, als sich am 9. Oktober 1963 infolge eines Erdrutsches eine Flutwelle über die Vajont-Staumauer ergoss und 2.000 Menschenleben forderte.
Das Haus im Fluss: Aldo Rossis „Casa Abbandonata“
Wie sehr ein Fluss in das Leben des Menschen einzugreifen vermag, ist in San Dona an einem der bizarrsten wie zugleich poetischsten Orte am Rand der Stadt abzulesen. „Parco della Scultura in Architettura“ nennt sich ein Landschaftsgarten, der in den späten 1990er Jahren vom sandonateser Designer Adalberto Mestre ins Leben gerufen wurde. Eine Pappelallee am Industrierand der Stadt wurde zum Aufstellungsort ganz unterschiedlicher Skulpturen. Mitten drinnen findet sich das letzte Projekt des italienischen Stararchitekten und -designers Rossi: „La Casa Abbandonata“ heißt das postum realisierte Projekt, das auf eine Erinnerung von Rossi zurückgeht.
Als Mestre und sein Kompagnon Francesco Dal Co die künstlerische Konzeption des Parkes begannen, erzählte ihnen Rossi ein Jahr vor seinem Tod von seinem letzten Projekt, das er realisieren wollte. Er erinnerte sich an die Zeit, da er sein Architekturstudium abgeschlossen hatte und für die Provinz Rovigo den Auftrag übernommen hatte, die Schäden eines Po-Hochwassers zu dokumentieren. Im Zuge der Begutachtung stieß Rossi auf ein zurückgelassenes Haus, bei dem die Zwischendecke weggespült wurde, aber noch Elemente wie Tapeten und ein halb angerissenes Waschbecken im Oberstockwerk die Folgen der Flut überdauert hatten. Dieser Erinnerung sollte die „Casa Abbandonata“ ein Monument setzen. Sie ist wie eine Hinterlassenschaft jenes Architekten, der der Bauform mehr abgewinnen wollte als die Nutzungsform.
Unweit des Piave, gestrandet in einem alten Pappelwald steht die „Casa Abbandonata“ als eines der poetischsten Monumente für die Kleinheit des Menschen gegenüber den Mächten der Natur. Langsam, so sieht man es, nagt auch der Zahn der Zeit an diesem Skulpturenpark. Seine Existenz erzählt aber auch davon, dass es hinter den großen Trampelpfaden des Tourismus an zunächst unscheinbaren Orten Überraschendes zu entdecken gibt.