Demonstrant mit bengalischem Feuer in der Hand umringt von Demonstranten und Sicherheitskräften
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Regierungschef entlassen

Krise in Tunesien eskaliert

Die politische Krise in Tunesien spitzt sich weiter zu. Präsident Kais Saied entließ am Sonntag Ministerpräsident Hichem Mechichi und ordnete an, das Parlament müsse seine Arbeit für 30 Tage aussetzen. In zahlreichen Städten drückten Zehntausende Menschen ihre Unterstützung für den Schritt aus. Die islamistische Regierungspartei Ennahda akzeptiert die Absetzung nicht. Es droht eine Konfrontation auf der Straße.

Der Präsident des nordafrikanischen Landes erklärte am Abend zudem, dass die Immunität der Abgeordneten aufgehoben werde. Und er drohte für den Fall gewaltsamen Widerstands mit einem Einsatz der Armee. „Viele Menschen wurden mit Heuchelei, Verrat und Raub um die Rechte des Volkes betrogen“, sagte Saied. Er warne davor, zu Waffen zu greifen. „Wer eine Kugel abfeuert, dem werden die Streitkräfte mit Kugeln antworten.“

Er kündigte an, die Regierungsgeschäfte an der Seite eines neuen Ministerpräsidenten zu übernehmen. Der Parlamentspräsident Rached Ghannouchi sprach in einer ersten Reaktion von einem Staatsstreich. Der Entscheidung des Präsidenten waren gewaltsame Proteste in mehreren Städten des Landes vorausgegangen.

Präsident Kais Saied bei einer Fernsehansprache
APA/AFP/Fethi Belaid
Saied kündigte die Maßnahmen am Abend im Fernsehen an

Proteste gegen Islamistenpartei

In der Hauptstadt Tunis und anderen Städten gingen Zehntausende Anhänger Saieds auf die Straße und drückten mit Hupkonzerten und Feuerwerk ihre Unterstützung aus. Auch größere Demonstrationen, zu denen Aktivisten in den sozialen Netzwerken aufgerufen hatten, fanden am Sonntag statt. Der Großteil der Proteste richtete sich gegen die gemäßigte islamistische Ennahda-Partei, die größte im Parlament. „Wir sind von ihnen befreit worden“, sagte Lamia Meftahi, die auf den Straßen der Hauptstadt inmitten einer Menschenmenge die Nachricht feierte, mit Blick auf die Regierung.

„Das ist der glücklichste Moment seit der Revolution!“ Der Präsident schloss sich am frühen Montag den feiernden Menschen auf der zentralen Allee Habib Bourguiba an, wie Bilder des staatlichen Fernsehens zeigten. Die Hauptverkehrsader in Tunis war Ausgangspunkt der Revolution 2011.

Jubel über Aufmarsch der Armee

Zwei Augenzeugen sagten der Nachrichtenagentur Reuters, dass wenige Stunden nach der Suspendierung des Parlaments das Regierungsgebäude von Militärfahrzeugen umstellt worden sei. Eine in der Nähe versammelte Menschenmenge habe die Ankunft des Militärs bejubelt und die Nationalhymne angestimmt.

Lokale Medien berichteten, die Armee habe auch das Gebäude des staatlichen Fernsehens umstellt, Hubschrauber kreisten über der Stadt. Die Polizei habe Tränengas eingesetzt, um Menschen zu vertreiben, die am späten Sonntag versuchten, den Sitze der Ennahda-Partei in Tunis zu stürmen.

Politische Krise in Tunesien spitzt sich zu

Der tunesische Staatschef Kais Saied hat am Sonntag den Ministerpräsidenten entlassen und das Parlament suspendiert. Grund dafür sind die anhaltenden Proteste gegen die Regierung und deren CoV-Krisenmanagement. Die Regierungspartei Ennahda will nun Widerstand leisten.

Parlament will weiter tagen

Während Saied erklärte, seine Anordnungen stünden im Einklang mit der Verfassung, bezeichnete der Parlamentspräsident und Ennahda-Parteivorsitzende Ghannouchi Saieds Vorgehen als Staatsstreich. In einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur Reuters sprach Ghannouchi von „einem Putsch gegen die Revolution und die Verfassung“. „Wir sind der Meinung, dass die Regierungsinstitutionen noch stehen, und die Anhänger der Ennahda und des tunesischen Volkes werden die Revolution verteidigen“, fügte er hinzu. Das Parlament werde trotz des Schrittes von Saied tagen.

„Anfang einer noch schlimmeren Situation“

In einer Videobotschaft rief er die Bevölkerung dazu auf, gegen den Umbruch auf die Straße zu gehen. Auch der Vorsitzende der Partei Karama und der ehemalige Präsident Moncef Marzouki bezeichneten Saieds Schritt als Putsch. „Ich bitte das tunesische Volk zu bedenken, dass es glaubt, dass dies der Anfang einer Lösung sei. Es ist aber der Anfang des Schlitterns in eine noch schlimmere Situation“, sagte Marzouki.

Bereits im April hatten Demonstranten die Auflösung des Parlaments gefordert, das in ihren Augen seine Aufgabe nicht erfüllt. Laut einer Analyse des US-amerikanischen Thinktanks Wilscon Center vom April hat die Bevölkerung vor allem jedes Vertrauen in die Parteien als Repräsentanten der Interessen verschiedener Bevölkerungsteile verloren. Deren Vertreter hätten sich vor allem um die eigenen Karrieren, nicht aber um die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme gekümmert. Der Wunsch nach Auflösung des Parlaments sei ein „klares Signal für das Scheitern des demokratischen Prozesses“.

Einziges Land mit Demokratisierung nach Revolution

Der parteilose Saied hatte bei seinem Amtsantritt 2019 geschworen, das komplexe und von Korruption geprägte System zu reformieren. Tunesien ist das einzige Land, das als Demokratie aus dem „arabischen Frühling“ hervorgegangen ist. Vor zehn Jahren war der Autokrat Zine al-Abidine Ben Ali nach rund 25-jähriger Herrschaft gestürzt worden. In der Bevölkerung herrscht jedoch Unzufriedenheit, weil die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklafft. Das Land kämpft mit einer Wirtschaftskrise, einer drohenden Haushaltskrise und einer schleppenden Bewältigung der Coronavirus-Pandemie.