Sonntagnacht hatte Präsident Kais Saied den Regierungschef gefeuert und die Arbeit des Parlaments für zunächst 30 Tage eingefroren. Zudem werde die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben, kündigte Saied nach einem Treffen mit Militärvertretern an. Am Montag entließ der Präsident auch Verteidigungsminister Brahim Bartagi und die amtierende Justizministerin Hasna Ben Slimane.
Der ehemalige Jusprofessor versicherte, sich im Rahmen der Verfassung zu bewegen. Kritikerinnen und Kritiker sprechen hingegen von einem Putsch. In dem nordafrikanischen Land kommt es wegen stark steigender Coronavirus-Zahlen und der anhaltenden Wirtschaftskrise seit Tagen zu Protesten.

Parlamentspräsident wurde Zugang verwehrt
Das Militär hielt in der Nacht auch Parlamentspräsident Rached Ghannouchi davon ab, das Gebäude zu betreten. Der Chef der Ennahda-Partei rief Anhänger auf, mit ihm vors Parlament zu ziehen. Später hielt er einen Sitzstreik vor dem Gebäude ab – in einem Auto, zusammen mit mehreren Abgeordneten. Rund um das Parlamentsgebäude kam es zu Tumulten zwischen Anhängerinnen und Anhängern von Ghannouchi und Saieds Unterstützerinnen und Unterstützern.
El-Gawhary (ORF) zur Krise in Tunesien
ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary spricht über die politischen Ereignisse in Tunesien und welche Folgen diese für das Land haben.
Bereits in der Nacht auf Montag hatten die Unterstützerinnen und Unterstützer von Präsident Saied nachts auf den Straßen gefeiert. Sie zündeten teils Leuchtfeuer und Feuerwerk und schwenkten Fahnen. Einige sangen die Nationalhymne. Auch der Präsident zeigte sich in der Nacht im Zentrum von Tunis und begrüßte die Menge.

Es handle sich um keinen Staatsstreich, versicherte der seit 2019 amtierende Präsident. „Wie kann ein Putsch auf dem Gesetz beruhen?“ Saied beteuert, sich innerhalb des rechtlichen Rahmens zu bewegen. Mit Blick auf mögliche Unruhen sagte er: „Ich will keinen einzigen Tropfen Blut vergießen lassen.“ Gewalt werde aber umgehend mit Gewalt der Sicherheitskräfte beantwortet.
Ghannouchi: „Putsch gegen die Revolution“
Während Saied erklärte, seine Anordnungen stünden im Einklang mit der Verfassung, bezeichnete der Parlamentspräsident und Ennahda-Parteivorsitzende Ghannouchi Saieds Vorgehen als Staatsstreich. In einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur Reuters sprach Ghannouchi von „einem Putsch gegen die Revolution und die Verfassung“.

„Wir sind der Meinung, dass die Regierungsinstitutionen noch stehen, und die Anhänger der Ennahda und des tunesischen Volkes werden die Revolution verteidigen“, fügte er hinzu. Das Parlament werde trotz des Schrittes von Saied tagen.
„Anfang einer noch schlimmeren Situation“
In einer Videobotschaft rief er die Bevölkerung dazu auf, gegen den Umbruch auf die Straße zu gehen. Auch der Vorsitzende der Partei Karama und der ehemalige Präsident Moncef Marzouki bezeichneten Saieds Schritt als Putsch. „Ich bitte das tunesische Volk zu bedenken, dass es glaubt, dass dies der Anfang einer Lösung sei. Es ist aber der Anfang des Schlitterns in eine noch schlimmere Situation“, sagte Marzouki.
Krise in Tunesien eskaliert
Tunesiens Präsident Kais Saied entließ am Sonntag Ministerpräsident Hichem Mechichi und suspendierte das Parlament. Grund dafür sind Massenproteste gegen das CoV-Krisenmanagement der Regierung. Die islamistische Regierungspartei Ennahda akzeptiert die Absetzung nicht und spricht von einem Putsch.
Bereits im April hatten Demonstrierende die Auflösung des Parlaments gefordert, das in ihren Augen seine Aufgabe nicht erfüllt. Laut einer Analyse des US-amerikanischen Thinktanks Wilscon Center vom April hat die Bevölkerung vor allem jedes Vertrauen in die Parteien als Repräsentanten der Interessen verschiedener Bevölkerungsteile verloren. Deren Vertreterinnen und Vertreter hätten sich vor allem um die eigenen Karrieren, nicht aber um die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme gekümmert. Der Wunsch nach Auflösung des Parlaments sei ein „klares Signal für das Scheitern des demokratischen Prozesses“.
Polizei stürmt Büro von al-Jazeera
Die tunesische Polizei stürmte unterdessen am Montag das Büro des TV-Senders al-Jazeera in Tunis. Mindestens zehn bewaffnete Beamte hätten die anwesenden Beschäftigten zum Verlassen des Gebäudes aufgefordert, Telefone und andere elektronische Geräte seien beschlagnahmt worden, berichtete der Sender. Die Polizisten hätten erklärt, auf Anweisung der Justiz zu handeln, Durchsuchungsbefehle hätten sie nicht gehabt. Al-Jazeera wird von der Regierung Katars finanziert. Nach Ansicht von Kritikern bietet er Muslimbrüdern und anderen Islamisten zu viel Raum. Laut dem Sender wird ausgewogen berichtet und ein breites Spektrum an Meinungen abgebildet.
Deutsche Regierung: „Ruhe bewahren“
Die Vorkommnisse rufen international Sorge hervor. Die deutsche Regierung erklärte, es sei wichtig, schnell zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren. Die vom Präsidenten verkündete Aussetzung der Arbeit des Parlaments sei eine „recht weite Auslegung der Verfassung“, sagte eine Sprecherin des deutschen Außenministeriums. „Insofern rufen wir dazu auf, mit allen Verfassungsorganen zu sprechen, Ruhe zu bewahren und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments schnellstmöglich wiederherzustellen.“
Einziges Land mit Demokratisierung nach Revolution
Der parteilose Saied hatte bei seinem Amtsantritt 2019 geschworen, das komplexe und von Korruption geprägte System zu reformieren. Tunesien ist das einzige Land, das als Demokratie aus dem „arabischen Frühling“ hervorgegangen ist. Vor zehn Jahren war der Autokrat Zine al-Abidine Ben Ali nach rund 25-jähriger Herrschaft gestürzt worden.
In der Bevölkerung herrscht jedoch Unzufriedenheit, weil die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklafft. Das Land kämpft mit einer Wirtschaftskrise, einer drohenden Haushaltskrise und einer schleppenden Bewältigung der Coronavirus-Pandemie.