Demonstranten vor dem Parlament in Tunis
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Krise in Tunesien

Weitere Minister entlassen

Die Situation in Tunesien spitzt sich weiter zu. Am Montagnachmittag kündigte Präsident Kais Saied an, dass auch Verteidigungsminister Brahim Bartagi und die amtierende Justizministerin Hasna Ben Slimane ihren Posten räumen müssen. Seit der Entmachtung von Regierungschef Hichem Mechichi ist die Lage enorm angespannt, vor dem abgeriegelten Parlament kam es zu Protesten und Straßenschlachten. Am Abend wurde eine Ausgangssperre ausgerufen.

Sonntagnacht hatte Saied den Regierungschef gefeuert und die Arbeit des Parlaments für zunächst 30 Tage eingefroren. Zudem werde die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben, kündigte Saied nach einem Treffen mit Militärvertretern an.

Der ehemalige Jusprofessor versicherte, sich im Rahmen der Verfassung zu bewegen. Kritikerinnen und Kritiker sprechen hingegen von einem Putsch. In dem nordafrikanischen Land kommt es wegen stark steigender Coronavirus-Zahlen und der anhaltenden Wirtschaftskrise seit Tagen zu Protesten.

Bild zeigt Außeinandersetzungen vor dem Parlament in Tunis.
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Vor dem Parlament kam es zu Auseinandersetzungen

Saied rief Montagabend zudem eine Ausgangssperre aus. Diese gelte ab sofort bis zum 27. August von 19.00 bis 6.00 Uhr, hieß es in einer Erklärung des Präsidialamts auf Facebook. Ausnahmen gebe es nur für dringende medizinische Notfälle und Nachtarbeiter. Zudem dürften sich nicht mehr als drei Menschen in der Öffentlichkeit treffen.

Parlamentspräsident wurde Zugang verwehrt

Das Militär hielt in der Nacht auch Parlamentspräsident Rached Ghannouchi davon ab, das Gebäude zu betreten. Der Chef der Ennahda-Partei rief Anhänger auf, mit ihm vors Parlament zu ziehen. Später hielt er einen Sitzstreik vor dem Gebäude ab – in einem Auto, zusammen mit mehreren Abgeordneten. Rund um das Parlamentsgebäude kam es zu Tumulten zwischen Anhängerinnen und Anhängern von Ghannouchi und Saieds Unterstützerinnen und Unterstützern.

El-Gawhary (ORF) zur Krise in Tunesien

ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary spricht über die politischen Ereignisse in Tunesien und welche Folgen diese für das Land haben.

Bereits in der Nacht auf Montag hatten die Unterstützerinnen und Unterstützer von Präsident Saied nachts auf den Straßen gefeiert. Sie zündeten teils Leuchtfeuer und Feuerwerk und schwenkten Fahnen. Einige sangen die Nationalhymne. Auch der Präsident zeigte sich in der Nacht im Zentrum von Tunis und begrüßte die Menge.

Demonstranten stehen Sicherheitskräften gegenüber
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Proteste vor dem Parlamentsgebäude in Tunis

Saied: „Wie kann ein Putsch auf dem Gesetz beruhen?“

Es handle sich um keinen Staatsstreich, versicherte der seit 2019 amtierende Präsident. „Wie kann ein Putsch auf dem Gesetz beruhen?“ Saied beteuert, sich innerhalb des rechtlichen Rahmens zu bewegen. „Die Verfassung erlaubt keine Auflösung des Parlaments, aber sie erlaubt eine Aussetzung seiner Arbeit“, sagte Saied.

Die 2014 eingeführte Verfassung sieht einen solchen Schritt bei „unmittelbar drohender Gefahr“ für 30 Tage vor. Anschließend soll das Verfassungsgericht über eine eventuelle Verlängerung entscheiden. Wegen politischer Streitigkeiten hat diese Institution bisher aber nicht ihre Arbeit aufgenommen. Saied selbst werde die Regierungsgeschäfte mit Hilfe eines neuen Regierungschefs übernehmen.

Mit Blick auf mögliche Unruhen sagte er: „Ich will keinen einzigen Tropfen Blut vergießen lassen.“ Gewalt werde aber umgehend mit Gewalt der Sicherheitskräfte beantwortet.

Ghannouchi: „Putsch gegen die Revolution“

Während Saied erklärte, seine Anordnungen stünden im Einklang mit der Verfassung, bezeichnete der Parlamentspräsident und Ennahda-Parteivorsitzende Ghannouchi Saieds Vorgehen als Staatsstreich. In einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur Reuters sprach Ghannouchi von „einem Putsch gegen die Revolution und die Verfassung“.

Zusammenstöße zwischen Demonstranten vor dem Parlament in Tunesien
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Die Gegnerinnen und Gegner des Präsidenten sprechen von einem „Putsch“

„Wir sind der Meinung, dass die Regierungsinstitutionen noch stehen, und die Anhänger der Ennahda und des tunesischen Volkes werden die Revolution verteidigen“, fügte er hinzu. Das Parlament werde trotz des Schrittes von Saied tagen.

„Anfang einer noch schlimmeren Situation“

In einer Videobotschaft rief er die Bevölkerung dazu auf, gegen den Umbruch auf die Straße zu gehen. Auch der Vorsitzende der Partei Karama und der ehemalige Präsident Moncef Marzouki bezeichneten Saieds Schritt als Putsch. „Ich bitte das tunesische Volk zu bedenken, dass es glaubt, dass dies der Anfang einer Lösung sei. Es ist aber der Anfang des Schlitterns in eine noch schlimmere Situation“, sagte Marzouki.

Krise in Tunesien eskaliert

Tunesiens Präsident Kais Saied entließ am Sonntag Ministerpräsident Hichem Mechichi und suspendierte das Parlament. Grund dafür sind Massenproteste gegen das CoV-Krisenmanagement der Regierung. Die islamistische Regierungspartei Ennahda akzeptiert die Absetzung nicht und spricht von einem Putsch.

Bereits im April hatten Demonstrierende die Auflösung des Parlaments gefordert, das in ihren Augen seine Aufgabe nicht erfüllt. Laut einer Analyse des US-amerikanischen Thinktanks Wilscon Center vom April hat die Bevölkerung vor allem jedes Vertrauen in die Parteien als Repräsentanten der Interessen verschiedener Bevölkerungsteile verloren. Deren Vertreterinnen und Vertreter hätten sich vor allem um die eigenen Karrieren, nicht aber um die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme gekümmert. Der Wunsch nach Auflösung des Parlaments sei ein „klares Signal für das Scheitern des demokratischen Prozesses“.

Polizei stürmt Büro von al-Jazeera

Die tunesische Polizei stürmte unterdessen am Montag das Büro des TV-Senders al-Jazeera in Tunis. Mindestens zehn bewaffnete Beamte hätten die anwesenden Beschäftigten zum Verlassen des Gebäudes aufgefordert, Telefone und andere elektronische Geräte seien beschlagnahmt worden, das Büro wurde geschlossen, berichtete der Sender.

Die Polizisten hätten erklärt, auf Anweisung der Justiz zu handeln, Durchsuchungsbefehle hätten sie nicht gehabt. Al-Jazeera wird von der Regierung Katars finanziert. Katar gilt als Unterstützer der Ennahdha-Partei. Nach Ansicht von Kritikern bietet er Muslimbrüdern und anderen Islamisten zu viel Raum. Laut dem Sender wird ausgewogen berichtet und ein breites Spektrum an Meinungen abgebildet.

EU mahnt zur Einhaltung der Verfassung

Die Vorkommnisse rufen international Sorge hervor. Die EU mahnte am Montag dazu, die tunesische Verfassung zu beachten und Gewalt zu vermeiden. „Wir folgen den Entwicklungen in Tunesien genau“, so eine Sprecherin der EU-Kommission. „Wir rufen alle tunesischen Akteure dazu auf, die Verfassung, ihre Institutionen und die Rechtsstaatlichkeit zu respektieren. Wir rufen sie auch dazu auf, ruhig zu bleiben und jegliche Gewaltanwendung zu vermeiden, um die Stabilität des Landes zu bewahren“, sagte sie.

Die deutsche Regierung erklärte, es sei wichtig, schnell zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren. Die vom Präsidenten verkündete Aussetzung der Arbeit des Parlaments sei eine „recht weite Auslegung der Verfassung“, sagte eine Sprecherin des deutschen Außenministeriums. „Insofern rufen wir dazu auf, mit allen Verfassungsorganen zu sprechen, Ruhe zu bewahren und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments schnellstmöglich wiederherzustellen.“

Aus dem türkischen Außenministerium hieß es, dass man „tief besorgt“ über die Entwicklungen in Tunesien sei. Der Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdogan schrieb auf Twitter, dass man „die Unterbrechung des demokratischen Prozesses“ und die Missachtung des demokratischen Willens der Bevölkerung „ablehne“.

Einziges Land mit Demokratisierung nach Revolution

Der parteilose Saied hatte bei seinem Amtsantritt 2019 geschworen, das komplexe und von Korruption geprägte System zu reformieren. Tunesien ist das einzige Land, das als Demokratie aus dem „arabischen Frühling“ hervorgegangen ist. Vor zehn Jahren war der Autokrat Zine al-Abidine Ben Ali nach rund 25-jähriger Herrschaft gestürzt worden.

In der Bevölkerung herrscht jedoch Unzufriedenheit, weil die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklafft. Das Land kämpft mit einer Wirtschaftskrise, einer drohenden Haushaltskrise und einer schleppenden Bewältigung der Coronavirus-Pandemie.