Mit Blumen im geflochtenen Haar, farbenprächtiger Kleidung, feinem Oberlippenbart und dichter Monobraue, so kennt man die Künstlerin, deren Konterfei millionenfach auf T-Shirts, Tassen, Schlüsselanhängern und mittlerweile auch auf Mund-Nasen-Schutzmasken gedruckt ist. Kommerz, der vor allem eines zeigt: Kahlo ist längst Kult.
Tatsächlich sei das Interesse an der 1907 geborenen mexikanischen Malerin in den vergangenen 50 Jahren unglaublich gestiegen, heißt es im Vorwort des kürzlich erschienenen Bildbands. Immer mehr Bücher und Artikel erschienen, über ihre Lebensgeschichte, ihr Haus, ja sogar über ihre Kleider. So gut wie jede Facette ihres Lebens wurde fein säuberlich skelettiert und der Öffentlichkeit dargeboten. Das Eigentliche, nämlich ihr künstlerisches Schaffen, sei jedoch allzu oft übersehen worden, so die Kritik.
Alle 152 Werke „erstmals“ vereint
Eine Monografie zu Kahlos von der mexikanischen Regierung zu „nationalem Kulturgut“ erklärten Bildern sei daher längst überfällig gewesen, sagte Herausgeber Luis-Martin Lozano gegenüber der BBC, die von Kahlo als „berühmteste Künstlerin aller Zeiten“ spricht. Das über fünf Kilogramm schwere Buch stellt die bisher „umfangreichste Studie“ zu Kahlos Gemälden dar.
Luis-Martin Lozano, Andrea Kettenmann, Marina Vazquez Ramos: Frida Kahlo. Sämtliche Gemälde. Taschen Verlag, 624 Seiten, 150 Euro.
Auf 624 Seiten versammelt es erstmals alle 152 Gemälde Kahlos (die meisten davon Öl) – viele davon stammen aus Privatsammlungen, die der Öffentlichkeit bisher verwehrt blieben. Zudem werden Arbeiten gezeigt, die als verschollen galten oder seit über 80 Jahren nicht mehr ausgestellt wurden. Und nicht zuletzt finden auch jene Werke Raum, die bisher einfach übersehen worden sind.
„Kahlo ist zu einer Ware geworden“
„Als Kunsthistoriker gilt mein Hauptinteresse Kahlos künstlerischen Arbeit“, erklärt Lozano. Wenn das in den vergangenen Jahrzehnten auch das Hauptinteresse von anderen gewesen wäre, würde es ein solches Buch nicht brauchen. „Aber die Wahrheit ist: Das war es nicht.“
Die meisten Leute auf Ausstellungen würden sich vorrangig für Kahlos Persönlichkeit interessieren – „wer sie ist, wie sie sich kleidet, mit wem sie ins Bett geht, ihre Liebhaber, ihre Geschichte.“ Aus diesem Grund seien auch immer und immer wieder dieselben Geschichten und dieselben Gemälde rezipiert worden. Schließlich würde sich alles mit Kahlo gut verkaufen. „Es ist bedauerlich zu sagen, aber sie ist zu einer Ware geworden“, stellt der Kunsthistoriker fest.
Experte sieht „kunstgeschichtliches Durcheinander“
Das führe zu einem sehr kleinen Interpretationsspielraum, was die Bedeutung ihrer Werke betreffe. „Alles, was sie immer und immer wieder über die Bilder sagen, ist ‚Oh, es ist, weil sie Rivera (ihren Ehemann, Anm.) liebte‘, ‚weil sie kein Kind bekommen konnte‘, ‚weil sie im Krankenhaus liegt‘. In manchen Fällen stimmt es – aber da steckt so viel mehr dahinter“, konstatiert Lozano.
Auch sei aufgrund des gängigen Narrativs ein beträchtlicher Teil ihres ohnehin überschaubaren Oeuvres bisher kaum beachtet worden. Über einige Werke sei „erstaunlicherweise“ noch nie geschrieben worden. „Nie, kein einziger Satz!“ Andere Gemälde wären hingegen falsch betitelt oder datiert worden. „Es ist ein Durcheinander, was die Kunstgeschichte angeht“, so Lozano.
Wer war Kahlo als Künstlerin?
Das Ziel von Lozano und seinen Kolleginnen Andrea Kettenmann, Marina Vazquez Ramos dürfte somit gewesen sein, Ordnung in das Chaos zu bringen – und Antworten auf Fragen zu finden wie: „Wer war Kahlo als Künstlerin? Was hielt sie von ihrer eigenen Arbeit? Was wollte sie als Künstlerin erreichen? Und was bedeuten diese Bilder an sich?“
So wird der Band durch Zeitungsartikel, Skizzen, Fotografien, Notizen, Tagebuchseiten und persönliche Briefe ergänzt, die allerlei Hintergrundinformationen zutage tragen. Inhaltlich gliedert sich das Buch in vier Abschnitte, die gleichzeitig Kahlos künstlerische Schaffensphasen widerspiegeln: Begonnen bei den „Jahren des Lernens“ (1925–1929) bis zu „Der Wille weiterzuzeichnen bis zum Ende“ (1947–1954). Im Anhang findet sich zudem eine umfangreich illustrierte Biografie der Künstlerin.
Das Herzstück ist zweifellos allerdings der Katalog, der sich im hinteren Teil des Werks finden lässt. Über hundert Seiten erstrecken sich die detaillierten Beschreibungen jedes einzelnen ihre Werke, die einen neuen Blick auf ihr künstlerisches Schaffen erlauben und somit, wie von Lozano intendiert, zu einem „tieferen Verständnis“ der Künstlerin beitragen.
Stillleben voller Leben
Eine tiefergehende Beschäftigung mit Kahlo schließe auch ein, sich nicht nur ihren berühmten Selbstporträts, sondern auch früheren Arbeiten zuzuwenden. Also jene Bilder, „die vielleicht nicht mit Kahlo assoziiert werden“, so Lozano.
Zu diesen zählen etwa Stillleben – für die Kahlo, wie man bei der Lektüre erfährt, eine eigene Bezeichnung prägte. Anstelle von „naturalezas muertas“, auf Deutsch so viel wie „tote Natur“, soll sie es bevorzugt haben, lediglich von „naturalezas“ zu sprechen – „weil sie für sie nicht tot waren, sondern voller Leben“.
„Ich habe meine Realität gemalt“
Unwiderruflich kommt einem bei dieser Negierung festgefahrener Kategorien und Klassifikationen wohl jener Ausspruch Kahlos in den Sinn, den sie einst ihren Künstlerkollegen entgegenschmetterte: „Sie dachten, ich wäre eine Surrealistin, aber ich war keine. Ich habe niemals Träume gemalt. Ich habe meine Realität gemalt.“
Wie sehr Kahlo zwischen den einzelnen Kunstströmungen, europäisch wie lateinamerikanisch, Tradition wie Moderne, changierte, vermag der Bildband ebenso eindrucksvoll aufzuzeigen wie den thematischen Facettenreichtum ihrer Werke. Und der entspringt nicht zuletzt dann doch wieder der Vielfalt ihres persönlichen Lebens.