Geschäftsmann schaut auf seine Armbanduhr
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Keine Sekunde zu früh

Protest durch Pünktlichkeit in Taiwan

Taiwans Bürokultur setzt auf Pünktlichkeit: Verpönt ist nicht nur das Zuspätkommen, auch wer zu früh kommt, erntet von Kolleginnen und Kollegen oft Unverständnis. Das Phänomen heißt „ya miao“, etwa „herausquetschen“, also auch die letzte Sekunde noch nutzen, und ist auch subtile Kritik an den Arbeitsverhältnissen in Taiwan.

Der Druck bei der Pünktlichkeit geht dabei nicht von oben aus, wie die BBC berichtet, sondern gilt unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Tabu. Das geht so weit, dass in vielen Büros regelrechter Stau entsteht, weil alle pünktlich auf die Sekunde ihren Arbeitstag begehen wollen. Kollegen würden vor der Türe sitzen und warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, zitierte der Sender eine 27-jährige Sekretärin.

Die Praxis zieht sich durch sämtliche Branchen und ist vor allem in Familienbetrieben und jenen Unternehmen weit verbreitet, in denen viele Stunden und unter strenger Aufsicht gearbeitet wird. Gerade an so rigoros durchorganisierten Stellen habe sich „ya miao“ zum passiv-aggressiven Mittel entwickelt, um die Kontrolle über das Berufsleben zurückzugewinnen.

Warum „früher als nötig“ in die Arbeit?

Die Entstehung des Phänomens ist unklar – auch wenn es gelebte Praxis ist. „Es gibt einen gewissen Druck, sich ‚ya miao‘ anzupassen, und dieser Druck ist unsichtbar“, zitierte die BBC einen ehemaligen Reiseleiter. „Die Menschen haben das Gefühl, dass ‚ya miao‘ etwas ist, das sie befolgen müssen, und es ist zu einer kulturellen Praxis geworden.“

Asiatische Frau mit Maske schaut auf ihr Mobiltelefon
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Keine Sekunde zu früh im Büro: In Taiwan will man dem Arbeitgeber keine Zeit schenken

Plausible Hinweise auf die Entstehungsgeschichte gibt es dennoch – diese dürften sich in der Geschichte der Arbeitskultur des Landes finden: „Die einfachen Büroangestellten bekamen früher keine Überstundenzuschläge, und wenn die Arbeit nicht erledigt wurde, wurde von ihnen erwartet, dass sie ihre Aufgaben trotzdem erledigten“, so ein Beamter gegenüber der BBC. Wenn man ohnehin nach der eigentlichen Arbeitszeit arbeiten müsse, „warum soll man dann früher in die Arbeit kommen als nötig?“

Taiwan im Spitzenfeld bei Arbeitsstunden

Auch die enorme Wandlung der Wirtschaft Taiwans dürfte das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern verschärft haben: In den 1970ern und 80ern hat sich Taiwan komplett gewandelt und ein enormes wirtschaftliches Wachstum hingelegt. Heute ist es ein bedeutender Player auf dem Markt für Hightech-Komponenten, weit weg von den landwirtschaftlichen Wurzeln.

Doch die Arbeitsgegebenheiten haben sich nicht überall an die veränderten Aufgabengebiete angeglichen. Das zeigt schon ein Blick auf eine Statistik der durchschnittlichen Arbeitszeit: 2018 leistete ein Beschäftigter in Taiwan laut Angaben des zuständigen Ministeriums jährlich knapp über 2.000 Stunden Arbeit – und wäre im Vergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) damit im Spitzenfeld. Zum Vergleich: In Österreich liegt dieser Wert nach dem aktuellen OECD-Bericht bei rund 1.400.

Oft fehlendes Vertrauen

Auch in den Arbeitsräumlichkeiten herrschen mancherorts vergleichsweise altmodische Zustände, wie die BBC berichtete. Das reicht von Führungskräften, die freien Blick auf Mitarbeitermonitore haben müssen, über Tratschverbot bis hin zur Telefonnutzung nur nach Absprache. Und: Auch Urlaub zu nehmen ist zwar prinzipiell möglich, bei manchen Arbeitgebern aber einfach ungern gesehen.

Frauen mit Mund-Nasen-Schutz
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Die Pandemie könnte das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmen noch komplizierter machen

Das fehlende Vertrauen in die Mitarbeiter könnte sich durch die Pandemie noch verschlimmert haben. In vielen Betrieben war das vergangene Jahr der erste Berührungspunkt mit dem Homeoffice. Chia-Huei Wu, Professor an der Universität Leeds, zweifelt daran, dass der plötzliche Wechsel nach Hause eine Änderung der Arbeitskultur herbeiführen konnte – eher im Gegenteil: „Die Vorgesetzten wollten wissen, ob sich die Mitarbeiter zu Hause noch mit ihrer Arbeit beschäftigen, und die Mitarbeiter möchten auch signalisieren, dass sie noch Aufgaben erfüllen“, zitierte die BBC den Professor.

Experte: Fokus auf soziale Fähigkeiten wichtig

Eine Lösung sieht der Arbeitsexperte darin, weniger auf die technischen als auf die sozialen Fähigkeiten von Führungskräften zu achten. Damit könnten im Personal dann jene gefunden werden, die gut mit ihrer Arbeit zurecht kommen – und durch die Anerkennung mehr Vertrauen im Arbeitsverhältnis herstellen.

Generell müsse sich von Arbeitgeberseite einiges ändern, um den Arbeitnehmerinnen und -nehmern weniger Gründe für „ya miao“ zu geben. Bis dahin wird es aber noch dauern – und die Beschäftigten im Land werden wohl weiter auf jene paar Minuten pochen, die ganz ihnen gehören, bevor die Pflicht ruft.