Prisca (Vicky Krieps) and Maddox (Thomasin McKenzie) in Old
Universal Pictures 2021
„Old“

Philosophie der Eintagsfliege

Spätestens seit „The Sixth Sense“ (1999) ist M. Night Shyamalan für Filme bekannt, die Erzählmöglichkeiten auf der Leinwand bis in sehr abgelegene und überraschende Ecken verfolgen. Mit „Old“, einem Thriller mit philosophischer Grundierung über Vergänglichkeit und die Angst vor dem Altern, zieht er ab Donnerstag alle Register seiner Erzählkunst.

Wie jeder ordnungsgemäß erzählte Horrortrip beginnt „Old“ mit einer Idylle – auch wenn diese für das Ehepaar Guy (Gael Garcia Bernal) und Prisca Capa (Vicky Krieps) bereits gröbere Risse hat. Die beiden wollen sich scheiden lassen, erzählen ihren Kindern Maddox (Alexa Swinton) und Trent (Nolan River) aber nichts davon und beschließen, noch einen letzten Urlaub als Familie zu verbringen.

Als Destination wählen sie ein Luxusressort aus, in dem sie mit allerlei Aufmerksamkeiten bedacht werden, unter anderem einer Einladung zu einem Tagesausflug an einen exklusiven Strand, die auch der Familie des Chirurgen Charles (Rufus Sewell) samt deutlich jüngerer Ehefrau Chrystal (Abbey Lee), betagter Mutter und der sechsjährigen Tochter Kara angeboten wird.

Horror der Vergänglichkeit

Kaum am Ziel angekommen, wird die illustre Strandpartie zur Bedrohung. Die Gruppe erweitert sich um den Rapper Mid-Seized Sedan (Aaron Pierre) und das Paar Jarin (Ken Leung) und Patricia (Nikki Amuka-Bird), und schon bald macht man einen grausigen Fund. Auch Agnes, Charles’ Mutter, stirbt kurz nach der Ankunft. Den verbleibenden sieben Erwachsenen bleibt kaum Zeit, ihre Situation genauer zu ergründen. Bald steht fest: Ihre Lage scheint aussichtslos, die Mobiltelefone haben keinen Empfang, wer versucht, den Strand zu verlassen, spürt einen immensen Druck im Kopf und wird ohnmächtig.

Was an dem Traumstrand vor sich geht, das dämmert der Gruppe, die sich zugleich in allerlei Kompetenz- und Deutungsgerangel verstrickt, erst als die beiden sechsjährigen Trent und Kara und die elfjährige Maddox plötzlich um einige Köpfe gewachsen sind. An diesem seltsamen Ort vergehen rund zwei Jahre pro Stunde. Nur sehr widerwillig zieht diese kleine Schicksalsgemeinschaft die bittere Konsequenz daraus: Ihre Lebensträume, Beziehungen, Erlebnisse und Entwicklungen müssen sie im Modus von Eintagsfliegen innerhalb der nächsten paar Stunden durchleben.

Pubertät im Zeitraffer

Während dieses philosophische Experiment für die mitten im Leben Stehenden nur schwer zu verkraften ist, sorgt der Entwicklungsschub bei den plötzlich reifenden Kindern für die lichten Momente dieses düsteren Films. Kaum sind die Eltern eine Stunde mit der Erörterung von Fluchtplänen beschäftigt, haben Trent und Kara als Teeniepaar zueinandergefunden. Die resultierenden obligaten Generationenkonflikte werden innerhalb weniger Minuten durchgearbeitet.

Shyamalan, der sich für diesen Film von Pierre Oscar Levys und Frederik Peeters’ Graphic Novel „Chateau de sable“ (Dt.: „Sandburg“) inspirieren ließ, schafft es in „Old“ tatsächlich, der jahrhundertealten Vanitasmotivik, also der unangenehmen Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit, aktuelle Facetten abzugewinnen. Während die Dialoge, die versuchen, mit dem schnell dahin rasenden Drama mitzuhalten, öfters etwas hölzern geraten – der offensichtliche Gedanke „An diesem Strand gibt es ein Problem mit der Zeit“ fällt etwa reichlich plump vorgetragen nach rund einer Stunde Laufzeit –, ist die bildliche Umsetzung äußerst geglückt.

Chrystal (Abbey Lee), Patricia (Nikki Amuka-Bird), Jarin (Ken Leung), Maddox (Thomasin McKenzie), Charles (Rufus Sewell), Mid-Sized Sedan (Aaron Pierre), Prisca (Vicky Krieps) und Guy (Gael García Bernal) in Old
Universal Pictures 2021
Eine illustre Gruppe auf dem Traumstrand, die aber nur kurz so jung aussehen wird

Kameramann Mike Gioulakis zeigt die Protagonisten und Protagonistinnen dabei oft aus subjektiven Perspektiven, in extremer Nahaufnahme und mit an den Rändern verwischten Bildern. Zusammen mit der treibenden Tonspur trägt diese Gestaltung durch die halbe Stunde, in der Shyamalan nahezu sein gesamtes Personal verschleißt. Die Abfolge von Unfällen, missglückten Fluchtversuchen und sich verdichtender Altersmorbidität lässt den Figuren keine Zeit für Trauerarbeit – und gerät für die Zuseher zusehends skurril.

Erzählvehikel Kernfamilie

Beim abendlichen Lagerfeuer ist die Figurenkonstellation wieder auf die Kernfamilie konzentriert. Guy und Prisca haben wider Willen ihr beschleunigtes Leben miteinander Verbracht und haben ihre Konflikte begraben. Dass die eine inzwischen taub und der andere fast blind ist, ist eine der vielen gelungenen Metaphern für die Vergänglichkeit in „Old“.

Prisca (Vicky Krieps), Maddox (Thomasin McKenzie), Guy (Gael García Bernal) und Trent (Luca Faustino Rodriguez) in Old
Universal Pictures 2021
Prisca (Vicky Krieps), Maddox (Alexa Thomasin McKenzie), Guy (Gael Garcia Bernal) und Trent (Alex Wolff) bilden als Kernfamilie mit Problem den Mittelpunkt der Erzählung

Das Erzählvehikel des Films sind die Familie und die Weitergabe von Generation zu Generation. Den Anbruch des folgenden Tages erleben Trent (erwachsen gespielt von Alex Wolff) und Maddox (erwachsen gespielt von Alexa Thomasin McKenzie), die ja tags davor noch Kinder waren, mit der weiterbestehenden ausweglosen Situation auf dem Traumstrand als Erbe. Es ist geradezu eine anthropologische Setzung Shyamalans, dass der Mensch nicht aufhört, nach Lösungen für das zu suchen, was er nicht verstehen kann. Und so müssen die beiden folgerichtig weiter versuchen, einen Ausweg zu finden.

Allerdings ist Shyamalan berühmt für Plot-Twists von ganz eigener Qualität. Auch in „Old“ gibt es schließlich eine Lösung, die noch einmal alles umwirft und für die Zuseher – will man den Film in seiner metaphorischen Dimension ernst nehmen – noch einmal die großen Erlösungsangebote der Gegenwart pointiert aufs Korn nimmt.