Person hält ein Smartphone mit einem Genesungszertifikat in der Hand
APA/Hans Klaus Techt; ORF.at (Montage)
Genesene

Das vernachlässigte „G“?

Kein Einlass in die Nachtgastronomie ohne Test, verkürzte Gleichstellung mit Geimpften bei Einreise aus einigen Ländern und Probleme beim „Grünen Pass“ mit nur einer Impfung: Von den drei „Gs“ werden Genesene am strengsten behandelt. Auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse wäre aber auch eine andere Sicht möglich, wie ORF.at-Nachfragen bei den Virologen Florian Krammer und Dorothee von Laer ergaben. Und sie erklären auch die unterschiedliche Immunantwort nach Impfung und Infektion.

Die Frage, wie gut und wie lange Genesene vor einer weiteren Infektion geschützt sind, ist keinesfalls ein Randthema: Millionen Menschen betrifft das weltweit, allein in Österreich sind es mindestens 650.000, die offiziell im Verlauf der vergangene Monate positiv auf das Coronavirus getestet worden sind.

Mikrobiologe und Impfexperte Krammer von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York verweist auf Studien, die belegen, dass eine durchgemachte Infektion zwischen 80 und 90 Prozent Schutz vor einer Reinfektion bietet. Es gebe viele Unterschiede zwischen Impfung und natürlicher Infektion, so Krammer.

„2 G“ – ohne Getestete?

Bisher ließe sich noch nicht belegen, dass die Schutzwirkung der einen oder anderen schlechter sei oder weniger lange anhalte. Was den Schutz betreffe, könne man seiner Meinung nach aus wissenschaftlicher Sicht eine genesene Person durchaus mit einer geimpften Person gleichstellen.

Krammer plädiert für eine „2-G-Regel“, für Genesene und Geimpfte. „Erstens kann ein Test falsch negativ sein bzw. die Infektion nach dem Test passieren“, vor allem dreht er aber den Spieß um: „Zweitens haben Getestete keinerlei Schutz. Wenn man mit 100 Leuten irgendwo ist, und der Großteil ist ungeimpft, und irgendwer ist infektiös, kann es zum Superspreaderevent kommen“, „weil der Test schützt nicht“. Dass es bei Genesenen und Geimpften zu sehr vielen Ansteckungen komme, sei „sehr unwahrscheinlich“.

Die Innsbrucker Virologin von Laer meint, es sei „absolut zu rechtfertigen, dass sie in den ersten sechs Monaten die gleichen Rechte haben wie Geimpfte und Getestete“. Sie gibt aber zu bedenken, dass in der Forschung noch kontrovers diskutiert werde, inwieweit bei asymptomatischen Reinfektionen auch das Virus weitergegeben werden könnte.

Ansteckungsgefahr durch wiederinfizierte Genesene?

Ähnlich argumentiert das Gesundheitsministerium. Generell seien zwar Reinfektionen selten, da eine Immunität für etwa sechs Monate bei genesenen Personen in Studien nachgewiesen werden konnte. Allerdings seien viele dieser Studien vor der Verbreitung etwa der Delta-Variante durchgeführt worden.

Zudem hatte das Ministerium die Regelung in der Nachtgastronomie auch damit begründet, dass „die unergiebige Studienlage über Genesene kaum eine Aussage über die Transmissionswahrscheinlichkeit“ erlaube. Die Impfung hingegen bewirke „nachweislich eine Verringerung der Transmissionsrate im Falle einer Infektion“.

Ob Geimpfte bzw. Genesene bei einer neuerlichen Infektion das Virus auch weitergeben, ist vor allem methodisch schwer festzustellen. In beiden Fällen ist eine Infektion selten, und dann ist auch noch schwer festzustellen, ob sie andere anstecken. In Schottland gab es eine Studie dazu, ob geimpfte Infizierte das Virus in ihrem Haushalt weitergeben, auch hier waren die Daten noch nicht allzu verlässlich.

Empfehlung für eine Dosis nach Infektion

Das Gesundheitsministerium führt auch an, dass bei „Genesenen die Immunantwort abhängig vom Zeitpunkt der Infektion, von der Krankheitsschwere und von der Virusvariante“ sei und „jedenfalls durch eine Impfung abgesichert“ werden sollte.

Das betonen auch Krammer und von Laer: Eine einmalige Impfung nach durchgemachter Infektion biete einen sehr guten Schutz. Krammer spricht sogar von einer „Superimmunität“. Und von Laer sieht in den Regelungen auch einen Anreiz für „junge Menschen, die in die Clubs gehen“.

Reinfektion selten

Zur Frage des Schutzes vor einer Reinfektion erschienen in den vergangenen Wochen und Monaten drei Studien, die jeweils auf Gesundheitsdaten sehr großer Samples basierten. Und dort wurden Reinfektionen sehr selten festgestellt – allerdings auch darauf verwiesen, dass diese auch nicht ganz einfach festzustellen seien. Definiert wurden Reinfektionen durch zwei positive PCR-Tests bei einer Person in einem Abstand von mindestens 90 Tagen.

Das setzt allerdings voraus, dass die Person tatsächlich zweimal korrekt positiv getestet wurde. Falsch positive Tests verzerren die Reinfektionswahrscheinlichkeit in die eine Richtung, in die andere wirkt die Dunkelziffer von nicht erkannten zweiten Infektionen, wenn sie asymptomatisch sind und daher auch nicht getestet und festgestellt werden.

Delta-Variante als Unbekannte

Eine britische Studie der Uni Oxford gemeinsam mit dem britischen Statistikamt zeigte eine Häufung von positiven Tests schon kurz nach 90 Tagen. Krammer verwies darauf, dass PCR-Tests hier auch manchmal auf „alte“ RNA der lange zurückliegenden Infektion anschlagen. Von Laer verweist auf die Ischgl-Studie, dort habe man herausgefunden, dass die „Antikörper in den ersten Monaten nach der Infektion noch nachreifen“.

Die britische Studie stellte jedenfalls fest, dass nur 0,4 Prozent der untersuchten Fälle, Reinfektionen waren. Mit der Delta-Variante könnte dieser Wert aber steigen: Public Health England berichtet zuletzt, dass man 1,2 Prozent Wiederansteckungen in aktuellen Daten verzeichne. Krammer wie von Laer meinen dazu, dass die Datenlage noch unklar sei, Krammer vermutet aber, dass es sich ähnlich wie bei den Impfungen verhalte, wo es bereits ein bisschen mehr Daten gibt. Und dort zeigt sich eine leicht verringerte Schutzwirkung gegen die Delta-Variante. „Grundsätzlich ist Delta ein größeres Problem als die alten Varianten, aber kein großes Problem, vor allem nicht für Geimpfte“, so Krammer.

Abschätzung der Schutzwirkung als Work-in-Progress

Vor allem stellt sich aber die Frage, wie lange die Schutzwirkung anhält – sowohl bei Impfung als auch nach einer Infektion. Und in beiden Fällen ist diese Frage durch Studien nicht restlos geklärt. Auch weil nicht ganz trivial ist, wie man die Schutzwirkung misst. Krammer meint, die derzeit von den meisten Ländern festgelegten sechs Monate seien jedenfalls ein Work-in-Progress: „Man braucht einfach längere Studien und mehr Zeit, um festzustellen, wie lange eine Schutzwirkung da ist.“

Auch von Laer sieht das ähnlich: „Möglicherweise hält der Schutz bei vielen noch deutlich länger, aber es ist ein Kompromiss, da doch ein Teil der Infizierten nur eine schwache Immunantwort aufbauen, insbesondere wenn sie nur eine sehr leichte Infektion durchgemacht haben.“

Zu unterscheiden ist auch der Grad der Schutzwirkung – bei durchgemachter Infektion wie bei Impfung. Letzterer wurde vor allem dafür entwickelt und getestet, schwere Erkrankungen zu verhindern. Es gibt aber auch – mit abnehmender Wahrscheinlichkeit, den Schutz vor dem Auftreten von Symptomen bei einer Ansteckung und schließlich auch den Schutz vor einer Infektion selbst. Public Health England weist in den wöchentlichen Reports zum Status der Impfung diese unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten auch aus.

Impfung und Infektion – unterschiedliche Immunantwort

Krammer verweist darauf, dass sich die Immunantwort bei Impfung und vorhergegangener Infektion deutlich unterscheidet. Nach der Impfung könne man einen sehr hohen Antikörper-Titer beobachten, also eine hohe Zahl an neutralisierenden Antikörpern: „Fast jeder, der ein gesundes Immunsystem hat, reagiert stark.“ Und ein kleiner Teil dieser IgG-Antikörper lande im Idealfall auch auf den mukosalen Oberflächen, also auf den Schleimhäuten, wo auch schon eine Infektion damit bekämpft wird. Zusätzlich bekomme man eine T-Zellen-Antwort, die sich speziell gegen das Spike-Protein des Virus richte.

Nach einer Infektion sei die Immunantwort heterogener und variabler – aber auch individuell unterschiedlicher. Manche hätten „eher eine niedrige Antwort, manche eine starke“. Das Immunsystem reagiere nicht nur auf das Spike-Protein, sondern auch auf andere. „Die Immunantwort ist nach einer Infektion breiter als nach einer Impfung“, so von Laer.

Zudem würde, so Krammer, aber eine andere Klasse von Antikörpern gebildet, IgA-Antikörper, die vor allem auf den mukosalen Oberflächen zu finden sind, also speziell den respiratorischen Raum schützen. Die wiederum gebe es bei der Impfung nicht.

Schwieriger Nachweis von Immunität

Auch noch nicht völlig klar ist, wie Immunität zu messen ist: Wie viele neutralisierende Antikörper man dafür nachweisen muss, ist noch nicht durch Studien belegt. „Im Gegensatz zu vielen anderen Viren, wissen wir nicht, wo beim SARS-CoV-2 der Schwellenwert für eine Immunität durch Antikörper liegt“, so von Laer. Und Krammer betont, dass diese Werte auch nicht absolut sind: Bei jungen Menschen mit gutem Immunsystem sei der Wert vermutlich ein anderer als bei Älteren oder Menschen mit Vorerkrankungen.

Zudem spielen Gedächtnis-B- und T-Zellen, das sind Lymphozyten, also weiße Blutkörperchen, eine Rolle. Diese nachzuweisen sei aber in der Routineanalytik sehr schwierig, so Krammer. Vor allem die B-Zellen gelten als „Gedächtnis“ des Immunsystems. Von anderen Infektionskrankheiten wie Hepatitis B wisse man, dass B-Memory-Cells (also Gedächtnis-B -Zellen) sich an eine Impfung erinnern können und eine große Rolle beim Schutz vor Erkrankungen spielen. Allerdings sei das alles bei SARS-CoV-2 noch nicht ganz klar, so Krammer. Und problematisch sei es vor allem dann, wenn es gar keine Immunantwort gibt.

Lange Unklarheit für Betroffene

Auch wenn vieles noch ungeklärt ist, gibt es in diesem Bereich schon gesicherte Erkenntnisse, bei denen weltweit Politik und Gesundheitsbehörden in ihren Entscheidungen aber nachhinken. In den USA würden Genesene noch immer doppelt geimpft, sagt Krammer – obwohl das aus medizinischer Sicht nicht nötig wäre. Auch in Österreich herrschte bei Betroffenen lange Ungewissheit. Geschildert werden sehr unterschiedliche Empfehlungen von Ärzten und Behörden, etwa bei der Frage, zu welchem Zeitpunkt nach einer Infektion die Impfung verabreicht werden soll. Das Nationale Impfgremium empfiehlt seit Kurzem Impfungen für Genesene schon rund vier Wochen nach der Infektion.

Problem beim „Grünen Pass“

Doch auch hier stellten sich in den vergangenen Wochen Probleme für Betroffene ein. Das Zertifikat für geimpfte Genesene für den „Grünen Pass“ lässt noch immer auf sich warten – laut Gesundheitsministerium war dafür zunächst eine Änderung des Epidemiegesetzes notwendig. Mittlerweile arbeite man an der technischen Umsetzung, die bis Mitte August dauern soll. Allerdings weist das Ministerium darauf hin, dass es nur eine EU-Ratsempfehlung gibt, geimpften Genesenen ein eigenes Zertifikat auszustellen. Manche Länder würden das nicht tun und weiterhin für eine Einreise zwei Impfungen verlangen – oder einen Test. Viele Genesene ließen sich in den vergangenen Wochen ein zweites Mal impfen, um der Bürokratie zu entfliehen.

Dass Genesene ein wenig das „Stiefkind“ in der Pandemiebekämpfung sind, ließ sich in den vergangenen Monaten aber auch an anderen Stellen bemerken. In vielen Ländern werden bei der Aufstellung, wie groß der Anteil der Immunisierten in der Bevölkerung ist, nur die Geimpften angeführt, die Genesenen lässt man unter den Tisch fallen. Und in Österreich gab es im Epidemiologischen Meldesystem (EMS) immer wieder grobe Ungenauigkeiten, weil die Länder bei der Genesenenmeldung von Infizierten säumig waren.